Rofo 2014; 186(1): 17-21
DOI: 10.1055/s-0033-1346876
Brennpunkt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Radiologie in der NS-Zeit – Teil 1 – Staat, Staatsbürger, Ausgrenzung

Further Information

Publication History

Publication Date:
20 December 2013 (online)

 

    Normalität im NS-Staat

    Die mit der Januarausgabe beginnende fünfteilige Reihe „Radiologie in der NS-Zeit“ bietet eine Zusammenfassung und eine Kontextualisierung der von Frau Dr. phil. Gabriele Moser (Heidelberg) erarbeiteten Forschungen zur Rolle der Radiologie und der Deutschen Röntgengesellschaft zwischen 1933 und 1945. Das Forschungsprojekt wurde 2010 von der Deutschen Röntgengesellschaft initiiert und wird seit 2012 auch von der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie getragen. Auf den Jahrestagungen der beiden Fachgesellschaften, dem 95. Deutschen Röntgenkongress (28.–31.5.2014) und der 20. Jahrestagung der DEGRO (3.-6.07.2014) werden die Arbeiten von Frau Moser als Ausstellung präsentiert werden.

    Zoom Image
    (Quelle: bpk, Abraham Pisarek)

    Dass der „Umbruch der Zeit“, wie das Vorwort der 1. nationalsozialistischen Ausgabe des Reichsmedizinalkalenders für Deutschland im Mai 1935 notierte, „in der Deutschen Ärzteschaft tiefgreifende Wandlungen geschaffen“ hatte, war unübersehbar. Nicht nur musste die Einrichtung neuer Institutionen wie die Kassenärztliche Vereinigung und die Arztregister bekannt gegeben werden, auch die gesamte, der Erbgesundheitspflege und „Rassenhygiene“ dienende Verwaltungsinfrastruktur wie Gesundheitsämter, Erbgesundheitsgerichte und die entsprechenden NSDAP-Parteidienststellen waren in dem Verzeichnis aufzulisten. Wichtiger noch für ein „Adressbuch“ dieser Art war jedoch, dass die Arbeit „vielfach in andere Hände gelegt“ worden war, wie der Vorgang der Diskriminierung, Entlassung und Verfolgung von aus politischen oder „rassischen“ Gründen nicht erwünschten Menschen euphemistisch umschrieben wurde. Man erfährt weiter, dass sich bei „schätzungsweise 10 000 der übrigen Ärzte“ die Anschriften „grundlegend“ verändert und „die Mehrzahl der leitenden Dienststellen ihre Inhaber gewechselt“ habe. Lapidar wird auch vermerkt: „Über 3000 Ärzte sind durch Tod und Auswanderung ausgeschieden“ ([Abb. 1]).[1]

    Zoom Image
    Abb. 1 Berlin 1939: Jüdische Familien aus dem Berliner Westen emigrieren in die USA [Scherl] (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-E03468, o.A., 1939).

    Unter den „durch Tod und Auswanderung ausgeschiedenen“ 3000 Ärzten befinden sich mit dem Geheimen Medizinalrat Prof. Dr. med. Paul Krause ([Abb. 2]) aus Münster und Prof. Dr. med. Richard Werner ([Abb. 3]) aus Heidelberg 2 prominente Strahlentherapeuten und –forscher, beide ehemals Präsidenten der „Deutschen Röntgen-Gesellschaft“. Während Paul Krause nach monatelangen Drangsalierungen durch nationalsozialistische Studenten am 7. Mai 1934 62-jährig den Freitod wählte, emigrierte der Heidelberger Krebstherapeut Richard Werner nach Brünn, wo er einen Teil seiner medizinischen Ausbildung absolviert hatte. Er übernahm dort die Leitung der neu eingerichteten Krebsklinik „Haus des Trostes“, die er bis zum Beginn der deutschen Okkupation im März 1939 innehatte. Werners Lebensweg endete rund 70-jährig am 8. Februar 1945, kurz bevor das Ghetto Theresienstadt befreit werden konnte.

    Zoom Image
    Abb. 2 Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. med. Paul Krause (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum). 30.09.1871 in Glogau/Schlesien Studium der Humanmedizin in München, Kiel, Bonn, Freiburg und Berlin. Bakteriologische Ausbildung in Kiel. Pathologisch-anatomische Ausbildung in Hamburg Bis 1907: Oberarzt an der Universitätsklinik in Breslau 1907-09: Leitung der Poliklinik in Jena 1909-24: Leitung der Poliklinik in Bonn 1924: Ordinarius an der Universität Münster 03. Mai 1934: Krause reicht nach einer monatelangen Hetzkampagne nationalsozialistischer Kollegen sein Emeritierungsgesuch ein 07. Mai 1934: Freitod im Wald von Frücht bei Bad Ems vor der Gruft des von ihm verehrten Freiherrn von Stein (1757-1831) 1909: Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft 1913: Vorsitzender des Allgemeinen Ärztlichen Vereins in Bonn 1927: Gründer der Rheinisch-Westfälischen Röntgengesellschaft, 1. Vorsitzender 1930/32: Initiative zur Gründung des Deutschen Röntgen-Museums in Lennep, dessen erste Abteilung im Juni 1932 eröffnet wird Quellen: Busch, Uwe: Paul Krause (1871-1934), in: Röntgenpraxis 47 (1994), S. 150-152. Ferdinand, Ursula: Die Medizinische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von der Gründung bis 1939, in: Thamer, Hans-Ulrich u.a. (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. Im Auftrag des Rektorats der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster herausgegeben, Münster 2012, S. 413-530
    Zoom Image
    Abb. 3 Prof. Dr.med. Richard Werner (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum). 22.07.1875 in Freiwaldau Gymnasium in Weidenau 1899: Doktor der gesamten Heilkunde in Wien. Assistent an den chirurgischen Kliniken in Heidelberg und Wien 1906: Habilitation als Dozent für Chirurgie in Heidelberg 1910: Oberarzt am Samariterhaus in Heidelberg. 1912: Universitätsprofessor für Chirurgie 1916: Direktor des Instituts für Krebsforschung / Samariterhaus in Heidelberg. 1934–1939: Leitender Primarius am „Haus des Trostes“ in Brünn 28.01.1942: Deportation nach Theresienstadt 8.02.1945: Tod in Theresienstadt 1927: Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft Gründungsvorsitzender süd- und westdeutscher Röntgenvereinigungen. Vorsitzender der Gesellschaft für Strahlenforschung. Publikationen (in Auswahl): -Experimentelle Untersuchungen über die biologische Wirkung der Radiumstrahlen (Habilitationsschrift 1906) -Über das Wesen der bösartigen Neubildungen. Tübingen 1906 -Über Entstehung und Behandlung des Krebses. Berlin 1916 Quellen: Feuss, Axel: Das Theresienstadt-Konvolut. Altonaer Museum in Hamburg. Norddeutsches Landesmuseum, Hamburg, München 2002. Neubert, Rahel: Das Institut für experimentelle Krebsforschung, in: Eckart, Wolfgang U. u.a. (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 959-974

    Für die berufliche Tätigkeit an Hochschulen, Kliniken und anderen öffentlichen Einrichtungen im Deutschland der NS-Zeit bedeutete „Normalität“, dass sämtliche aus politischen Gründen nicht erwünschte Mitarbeiter, besonders jedoch die als „Juden“ Stigmatisierten, Repressionen auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt waren: Durch die politisch aktiven Nationalsozialisten, durch indifferente oder anpassungsbereite Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen oder durch die Klinikverwaltungen. In dem Beitrag zur Erinnerung an den 75. Jahrestag der Aberkennung der Approbation der als „jüdisch“ stigmatisierten Ärzten[2] wurden die wesentlichen Stufen der sukzessive radikalisierten Entfernung jüdischer Menschen aus der ärztlichen Berufsgemeinschaft genannt, sie sollen hier etwas detaillierter vorgestellt werden.

    Beginnend mit der Entlassung aus dem öffentlichen Dienst aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurde durch das Verbot der Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit, das in der Zulassungsordnung vom 17. Mai 1934 festgelegt war, die Erwerbsmöglichkeit radikal eingeschränkt. Von der Zulassung ausgeschlossen waren:

    1. „zum Arztberuf persönlich ungeeignete Personen, z.B. aufgrund strafrechtlich geahndeter Vergehen“

    2. „Ärzte nicht arischer Abstammung und Ärzte, deren Ehegatten nicht arischer Abstammung sind. Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat. Als Abstammung gilt auch die außerehelich Abstammung (...)“,

    3. „Ärzte, die nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten“,

    4. „verheiratete weibliche Ärzte“, wenn die kassenärztlichen Einkünfte nicht zum Familienunterhalt benötigt wurden und

    5. bereits als Zahnarzt approbierte Mediziner“[3].

    Auf das Verbot der Tätigkeit als privat niedergelassener Röntgendiagnostiker oder Strahlentherapeut folgte mit der Entziehung der ärztlichen Approbation zum 30. September 1938 das endgültige Ende der Berufstätigkeit als Arzt im Deutschen Reich. Lediglich eine kleine Anzahl der ausgebildeten (Fach-) Ärzte erhielt, in jederzeit widerruflicher Weise, vom Reichsminister des Innern die Zulassung zur Tätigkeit als „Krankenbehandler“. Das niedrige Entgelt, das aus der Heiltätigkeit für die nur noch geringe Zahl zahlungsfähiger jüdischer Patientinnen und Patienten resultierte, konnte von der Reichsärztekammer durch einen Zuschuss zum Lebensunterhalt aufgestockt werden - auch dies muss eine demütigende Erfahrung gewesen sein, denn als Angehörige des Bildungsbürgertum waren Ärzte und Fachärzte meist einen höheren Lebensstandard gewohnt gewesen.

    Die fachöffentliche Kennzeichnung der im Sinne der Nürnberger Gesetze „jüdischen“ Ärzte erfolgte in der nächsten Ausgabe des Reichsmedizinalkalenders, die als 58. Band im Jahr 1937 erschien ([Abb. 4]). Es ist die 1. und einzige Ausgabe dieses Ärzteverzeichnisses, die diese Stigmatisierung in Fom des vor den Namen gesetzten Doppelpunkt (:) enthält. Während der 1. Nachtrag vom Februar 1938 noch geänderte Anschriften der Ärzte und Fachärzte mitteilt, soweit sie bekannt waren, meldet der im Oktober 1938 den Vollzug des Entzuges der staatlichen Zulassung zum Arztberuf: „Jüdische Ärzte. Aufgrund der Verordnung vom 25. Juli 1938 (RGBl. I Nr. 122) sind die Bestallungen (Approbationen) aller jüdischen Ärzte am 30. September 1938 erloschen. Dementsprechend enthält dieser Nachtrag keine Angaben mehr über jüdische Ärzte.“ [4]

    Zoom Image
    Abb. 4 Reichs-Medizinal-Kalender 58. Band, 1937. Es ist die 1. und einzige Ausgabe dieses Ärzteverzeichnisses, die diese Stigmatisierung in Fom des vor den Namen gesetzten Doppelpunkt (:) enthält (Quelle: Reichs-Medizinal-Kalender 58. Band, 1937, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1937).

    Als „Instrument amtlichen Charakters“ veröffentlichte der Reichsmedizinalkalender die Daten des Reichsarztregisters und der Reichsärzteverzeichnisse der Reichsärztekammer, das bedeutet, dass diese Angaben weitgehend verlässlich sein dürften. Um zum einen die Gesamtzahl der 1937 strahlendiagnostisch- und therapeutisch praktizierenden Fachärzte zu ermitteln, zum anderen den Anteil der jüdischen Ärzte herauszufinden, mussten mangels anderer Informationsquellen die rund 55 500 Namenseinträge durchgesehen werden.[5] Während die Zahlenangaben für die meisten Facharztgliederungen einzeln aufgelistet sind, waren die „Fachärzte für Röntgen-Diagnostik und –Therapie“ mit denjenigen für „Mund- und Kieferkrankheiten“ zu einer Sammelrubrik „Sonstige“ zusammengefasst. Anhand des zur Kennzeichnung der Röntgen-Fachsparte verwendeten Symbols, das in der schematischen Darstellung einer „Ionenröhre“ bestand, war eine erste Auszählung möglich. Sie ergab eine Gesamtzahl von nur 470 „Fachärzten für Röntgen-Diagnostik und –Therapie“, wie die offizielle Fachbezeichnung 1937 noch lautete. Unter diesen 470 Röntgenologen waren insgesamt 36 Ärzte, darunter 2 Frauen, als „jüdisch“ gekennzeichnet. Dies entspricht einem Anteil von rund 7,7% der im Reichsmedizinalkalender als Fachärzte für Röntgen-Diagostik und –Therapie erfassten Mediziner.[6]

    Sowohl die absolute Zahl von 470 strahlendiagnostisch oder-therapeutisch tätigen Fachärzten wie auch die geringe Zahl von 36 jüdisch stigmatisierten Röntgenologen / Radiologen scheint sehr niedrig und ist erklärungsbedürftig. Da im ebenfalls konsultierten „Gedenkbuch der Berliner jüdischen Kassenärzte“ – der Stadt mit der größten zahlenmäßigen Dichte an (Fach-) Ärzten im gesamten Deutschen Reich – allein für Berlin schon 76 Personen als „Röntgenärzte“ aufgeführt sind, muss sich in der höheren Zahl das Mitte der 1930er-Jahre noch in einer Übergangsregelung befindliche Problem der Facharzt-Doppelbezeichnungen niedergeschlagen haben. Im Berliner „Gedenkbuch“ sind die sogenannte „Auch“-Röntgenologen zusätzlich erfasst, während es sich bei den im Reichsmedizinalkalender erfassten Ärzten um die sog. „Nur“-Röntgenologen handelte. Von der Approbationsentziehung waren Fachärzte beider Gruppen betroffen, und unter den „Auch“-Röntgenologen befanden sich etwa 30 „Röntgen-Pioniere“, die ihre röntgenologische Ausbildung bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erworben hatten.

    Dass unter den im nationalsozialistischen Deutschland Ende 1938 lebenden Juden der Anteil an betagteren Menschen groß war, zeigen einige weniger bekannte Fotodokumente. In Folge der sog. „Reichsprogromnacht“ am 9. November 1938, in der an vielen Orten die Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte geplündert wurden, wurden als vermeintliche Anstifter dieser Ausschreitungen überall jüdische Männer verhaftet. Die Dokumente zeigen überwiegend ältere Herren, die verhaftet und unter Bewachung von lokalen Ordnungskräften in Konzentrationslager deportiert wurden ([Abb. 5]).[7] Unter ihnen befand sich auch der Tuberkulosefacharzt und Leiter der Tuberkuloseheilstätte Nordrach in Baden, Dr. Nehemias Wehl, der mit anderen Bürgern aus seiner Wohnumgebung eine Woche lang im Konzentrationslager Dachau inhaftiert und misshandelt worden war. Diese reichsweite Aktion stand im Zusammenhang mit der Radikalisierung der anti-jüdischen Politik, die bereits 2 Jahre später in die beginnenden Deportationen – zunächst in das Lager Gurs in Frankreich, dann „in den Osten“ – münden sollte. Das Klima der Angst unter der jüdischen Bevölkerung wurde stetig geschürt, nicht zuletzt auch durch eine weitere Stigmatisierung, denn in der seit 1939 obligatorischen Kennkarte war bei Juden ein „J“ eingestempelt oder aufgedruckt ([Abb. 6]). Ebenfalls ab 1939 wurden die Zwangsvornamen „Israel“ und „Sara“ zur noch schnelleren Identifizierung bei Ausweiskontrollen eingeführt, 1941 das Tragen des sog. „Judensterns“. Dr. Nehemias Wehl arbeitete nach seiner Rückkehr aus dem KZ Dachau wieder als Leiter der Rothschild’schen Lungenheilanstalt für weibliche jüdische Kranke, bis er Ende September 1942 mit seinen letzten noch verbliebenen Patientinnen in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurde. Das Anwesen wurde der SS-Stiftung „Lebensborn“ übergeben, die dort im November 1942 als „Heim Schwarzwald“ ihre Tätigkeit aufnahm.[8]

    Zoom Image
    Abb. 5 Deportation jüdischer Männer, 10. November 1938 (Bild: bpk, Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Heinrich Hoffmann).
    Zoom Image
    Abb. 6 Kennkarte von Dr. Nehemias Wehl mit eingedrucktem „J“ für „Jude“ (nach 1938), (Bild: Historischer Verein Nordrach).

    Während „Normalität“ für die im NS-Staat (über-) lebenden jüdischen Deutschen zunehmend lebensbedrohendere Formen annahm, existierte für eine Mehrheit von deutschen Bürgerinnen und Bürgern eine andere Normalität. Im Bereich der medizinwissenschaftlichen Forschung existierte noch bis in die Kriegsjahre hinein ein internationaler Austausch, der über große Konferenzen, aber auch z.B. durch ärztliche Studienreisen ermöglicht wurde. Als im September 1936 in der belgischen Hauptstadt Brüssel der Zweite Internationale Krebskongress der UICC stattfand, waren insgesamt 475 Teilnehmer und Teilnehmerinnen angereist. Die deutsche Delegation war mit 65 Forschern, darunter 5 Frauen, die zweitstärkste nach den gastgebenden Belgiern. Da Gegenstand des Kongresses das Thema „Krebs“ war und die Strahlentherapie sich gerade in Konkurrenz zur chirurgischen Therapie zu etablieren begann, waren Strahlendiagnostiker und –therapeuten zahlreich vertreten. Die Führung der deutschen „Abordnung“ übertrug das Reichswissenschaftsministerium den Herren Prof. Dr. H. Auler (Universität Berlin), Dr. Blome (Leiter des ärztlichen Fortbildungswesens, Hauptamt für Volksgesundheit [der NSDAP], Berlin), Prof. Dr. Frik (Leiter der Deutschen Röntgengesellschaft, Universität Berlin), Prof. Dr. von Haberer (Rektor der Universität Köln), Prof. Dr. Holthusen (Universität Hamburg), Staatsrat Prof. Dr. Sauerbruch (Universität Berlin) und Prof. Dr. Wintz (Universität Erlangen).[9]

    Der große internationale Krebskongress, dessen Tagungsbeiträge in 6 Sprachen publiziert wurden, bot jedoch auch eine Gelegenheit zu besonderen persönlichen Treffen. Da auch viele der vertriebenen oder emigrierten Wissenschaftler aus ihren neuen Aufenthaltsländern nach Brüssel gereist waren, traf dort z.B. der vertriebene ehemalige Berliner Lehrstuhlinhaber Ferdinand Blumenthal auf seinen kommissarischen Nachfolger Hans Auler. Boris Rajewsky, der wohl in gutem Einvernehmen und in Absprache mit Friedrich Dessauer dessen Kaiser-Wilhelm-Institut für Biophysik in Frankfurt/Main übernommen hatte, traf in Brüssel seinen im türkischen Exil lebenden ehemaligen Chef. Auch die fachlichen Kontakte der Röntgenologen und Radiologen in die Vereinigten Staaten waren, zumindest bis Anfang der 1940er Jahre, durchaus lebendig, wie eine im Frühjahr 1937 von der Hapag-Loyd-Union eingerichtete „Studienfahrt nach Amerika“ nahelegt, für deren Leitung die „Deutsche Röntgengesellschaft“ Prof. Holthusen ausgewählt hatte. Im Mai 1939 wurde Hermann Holthusen aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste zum korrespondierenden Mitglied der „New York Academy of Medicine“ ernannt und noch im November 1939 wählte ihn die „American Roentgen-Ray Society“ zum Ehrenmitglied.[10]

    Es scheint, dass es im Hinblick auf die internationale Vernetzung der Wissenschaft während der NS-Zeit, nicht nur auf dem Gebiet der medizinischen Strahlen, noch einiges an historischem Forschungsbedarf gibt.

    Dieser Beitrag wird in der Zeitschrift Strahlentherapie und Onkologie im März dieses Jahres in englischer Sprache veröffentlicht.

    Weiterführende Literatur

    1. Eckart, Wolfgang U.: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien u.a. 2012

    2. Jütte, Robert (Hg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1997

    3. Jütte, Robert u.a.: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011

    4. Pross, Christian/Rolf Winau (Hg.): ... nicht mißhandeln... Das Krankenhaus Moabit 1920-1933. Ein Zentrum jüdischer Ärzte in Berlin. 1933-1945 Verfolgung Widerstand Zerstörung (= Stätten der Geschichte Berlins, Bd. 5), Berlin 1984

    5. Schwoch, Rebecca (Hg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Berlin 2009

    Dr. Gabriele Moser
    Universität Heidelberg
    Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
    Im Neuenheimer Feld 327
    69120 Heidelberg
    E-Mail:
    gabriele.moser@umtal.de

    Dieser Beitrag wird in der Zeitschrift Strahlentherapie und Onkologie im März dieses Jahres in englischer Sprache veröffentlicht.


    #

    1 Hadrich, Julius/Hans Dornedden (Hg.): Reichs-Medizinal-Kalender für Deutschland. Teil II: Ärztliches Handbuch und Ärzteverzeichnis, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1935, S. V.


    2 Zum biologistischen, ‚blutmäßig’ definierten Rassebegriff der Nationalsozialisten vgl. die Ausführungen und Literaturhinweise in dem erwähnten Artikel.


    3 Zweite Verordnung zur Zulassungsordnung vom 17. Mai 1934, RGBl. I S. 1066.


    4 Lautsch, H./Hans Dornedden (Hg.): Verzeichnis der deutschen Ärzte und Heilanstalten. Reichs-Medizinal-Kalender für Deutschland, Teil II. Nachtrag 2 zum Ärzteverzeichnis 1937 (ausgegeben Oktober 1938), Leipzig 1938, S. I, Unterstr. im Orig.


    5 Für Unterstützung bei Datenerfassung und Nachrecherche danke ich Tobias Laible.


    6 Der Anteil von röntgendiagnostisch/-therapeutisch tätigen Fachärzten an der gesamten Ärzteschaft des Jahres 1937 betrug 0,85% (zum Vergleich: die größte Facharztgruppe stellte die Innere Medizin mit 5,85%), vgl. Reichs-Medizinal-Kalender 58 (1937), S. 82 ff. Auch wenn die Bezugsgrößen differieren, lassen sich große Unterschiede im Anteil jüdischer Ärzte zwischen einzelnen Facharztgruppen vermuten: nach Eduard Seidler lag der Anteil jüdischer Ärzte unter den Mitgliedern der „Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde“ bei rund 36%, Jens Martin Rohrbach errechnete für die Ophthalmologie einen Anteil jüdischer Ärzte von etwa 13%.


    7 Vgl. auch die Schilderung in dem gerade erschienenen, zeitgenössischen Bericht von Heiden, Konrad: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Hg. v. Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber, Göttingen 2013.


    8 Vgl. Schellinger, Uwe u.a.: Deportiert aus Nordrach. Das Schicksal der letzten jüdischen Patientinnen und Angestellten des Rothschildt-Sanatoriums (Hg.: Historischer Verein für Mittelbaden - Mitgliedergruppe Nordrach), Zell a. Harmersbach o.J. [2009]. Herrn Herbert Vollmer, Historischer Verein Nordrach, danke ich herzlich für die Überlassung der Kopie der Kennkarte von Dr. Nehemias Wehl.


    9 Unter den deutschen Teilnehmern und Teilnehmerinnen finden sich u.a. folgende strahlendiagnostisch/-therapeutisch tätige Personen: Prof. Dr. Chaoul, Prof. Dr. Cramer, Dr. Doz. Dyes, Prof. Dr. Holfelder, Doz. Dr. Pickhan, Prof. Dr. Rajewsky, und Dr. Erbsen (Staatsarchiv Hamburg. Hochschulwesen. Dozenten- u. Personalakten. IV 1307. Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dr. h.c. Hermann Holthusen, Bl. 32a).


    10 Staatsarchiv Hamburg. Hochschulwesen. Dozenten- u. Personalakten. IV 1307. Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dr. h.c. Hermann Holthusen, Bl. 57 u. Bl. 89.




    Zoom Image
    (Quelle: bpk, Abraham Pisarek)
    Zoom Image
    Abb. 1 Berlin 1939: Jüdische Familien aus dem Berliner Westen emigrieren in die USA [Scherl] (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-E03468, o.A., 1939).
    Zoom Image
    Abb. 2 Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. med. Paul Krause (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum). 30.09.1871 in Glogau/Schlesien Studium der Humanmedizin in München, Kiel, Bonn, Freiburg und Berlin. Bakteriologische Ausbildung in Kiel. Pathologisch-anatomische Ausbildung in Hamburg Bis 1907: Oberarzt an der Universitätsklinik in Breslau 1907-09: Leitung der Poliklinik in Jena 1909-24: Leitung der Poliklinik in Bonn 1924: Ordinarius an der Universität Münster 03. Mai 1934: Krause reicht nach einer monatelangen Hetzkampagne nationalsozialistischer Kollegen sein Emeritierungsgesuch ein 07. Mai 1934: Freitod im Wald von Frücht bei Bad Ems vor der Gruft des von ihm verehrten Freiherrn von Stein (1757-1831) 1909: Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft 1913: Vorsitzender des Allgemeinen Ärztlichen Vereins in Bonn 1927: Gründer der Rheinisch-Westfälischen Röntgengesellschaft, 1. Vorsitzender 1930/32: Initiative zur Gründung des Deutschen Röntgen-Museums in Lennep, dessen erste Abteilung im Juni 1932 eröffnet wird Quellen: Busch, Uwe: Paul Krause (1871-1934), in: Röntgenpraxis 47 (1994), S. 150-152. Ferdinand, Ursula: Die Medizinische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von der Gründung bis 1939, in: Thamer, Hans-Ulrich u.a. (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. Im Auftrag des Rektorats der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster herausgegeben, Münster 2012, S. 413-530
    Zoom Image
    Abb. 3 Prof. Dr.med. Richard Werner (Quelle: Deutsches Röntgenmuseum). 22.07.1875 in Freiwaldau Gymnasium in Weidenau 1899: Doktor der gesamten Heilkunde in Wien. Assistent an den chirurgischen Kliniken in Heidelberg und Wien 1906: Habilitation als Dozent für Chirurgie in Heidelberg 1910: Oberarzt am Samariterhaus in Heidelberg. 1912: Universitätsprofessor für Chirurgie 1916: Direktor des Instituts für Krebsforschung / Samariterhaus in Heidelberg. 1934–1939: Leitender Primarius am „Haus des Trostes“ in Brünn 28.01.1942: Deportation nach Theresienstadt 8.02.1945: Tod in Theresienstadt 1927: Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft Gründungsvorsitzender süd- und westdeutscher Röntgenvereinigungen. Vorsitzender der Gesellschaft für Strahlenforschung. Publikationen (in Auswahl): -Experimentelle Untersuchungen über die biologische Wirkung der Radiumstrahlen (Habilitationsschrift 1906) -Über das Wesen der bösartigen Neubildungen. Tübingen 1906 -Über Entstehung und Behandlung des Krebses. Berlin 1916 Quellen: Feuss, Axel: Das Theresienstadt-Konvolut. Altonaer Museum in Hamburg. Norddeutsches Landesmuseum, Hamburg, München 2002. Neubert, Rahel: Das Institut für experimentelle Krebsforschung, in: Eckart, Wolfgang U. u.a. (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 959-974
    Zoom Image
    Abb. 4 Reichs-Medizinal-Kalender 58. Band, 1937. Es ist die 1. und einzige Ausgabe dieses Ärzteverzeichnisses, die diese Stigmatisierung in Fom des vor den Namen gesetzten Doppelpunkt (:) enthält (Quelle: Reichs-Medizinal-Kalender 58. Band, 1937, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1937).
    Zoom Image
    Abb. 5 Deportation jüdischer Männer, 10. November 1938 (Bild: bpk, Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Heinrich Hoffmann).
    Zoom Image
    Abb. 6 Kennkarte von Dr. Nehemias Wehl mit eingedrucktem „J“ für „Jude“ (nach 1938), (Bild: Historischer Verein Nordrach).