Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Der „Nerv der Dinge“ – was das sein mag? Die Antwort auf diese Frage lautet von alters
her eintönig gleich: das Geld. Der Aphorismus wird Bion von Borysthenes (335–225 v.
Chr.) zugeschrieben, welcher zur altgriechischen Philosophenschule der Zyniker gehörte.
Gemeint ist in dieser aus der Antike überkommenen Redewendung in einem modernen anatomischen
Verständnis mit „Nerv“ allerdings mehr die Sehne als das Neuron: Also das, was der
Sache Schwung gibt. Noch ein weiterer Aphorismus ist von ihm erhalten, diesmal über
die Auswirkungen des Geldes auf einen Mann: „Er hat kein Vermögen an sich gebracht,
das Vermögen hat ihn zu sich genommen!“ In unseren modernen Zeiten singt Liza Minelli
in dem Film „Cabaret“ im gleichen Sinn: Money makes the world go round – Geld bewegt die Welt.
Da das Gesundheitswesen durchaus Teil dieser Welt ist, könnte man die Frage stellen,
was denn eigentlich diesem Zauberstoff „Geld“ diese besonderen Kräfte verleiht. Etymologisch
mit dem indogermanischen Gold verwandt, bedeutete Geld im Althochdeutschen zunächst
so viel wie Vergeltung oder Vergütung und meinte in einem kultischen Gebrauch das,
womit Buße und Opfer entrichtet werden konnte. Hier kann ein Bogen geschlagen werden
zu den heute üblichen „Geldbußen“ bei Ordnungswidrigkeiten. Seine allgemeine Funktion
im Wirtschaftsleben ist inzwischen sehr viel pragmatischer: Es ist hauptsächlich ein
Zwischentauschmittel, hat also die Rolle, in einem Tauschgeschäft als Wert erhaltendes
Zahlungsmittel mit weit verbreiteter Akzeptanz zu fungieren. Es ist seinen Vorläufern
wie Getreide, Muscheln oder Kauri-Schnecken vor allem durch seinen relativ geringen
Platzbedarf und seine doch recht große Haltbarkeit, zumindest in Form von Gold- oder
Silbermünzen, überlegen.
A propos Kauri-Schnecken: Einige Arten dieser Meeresschnecke, wie die Cypraea moneta, galten lange Zeit in Afrika, Ost- und Südasien sowie der Südsee als allgemein anerkanntes
Zahlungsmittel. Der Weltumsegler Bobby Schenk erzählt in einem seiner Bücher die Geschichte
eines Bündels dieser wertvollen Meeresmuscheln, welche als Zahlungsmittel im Warenaustausch
zwischen Südsee-Stämmen verwendet wurden [1]. Nachdem der eine Stamm die begehrten Waren geliefert hatte, wurden die wertvollen
Muscheln in einer feierlichen Prozession durch einen Bach getragen – und gingen dort
prompt verloren. Was tun? Die ortsansässigen Ökonomen hatten offenbar rasch ein Lösungskonzept
zur Hand: Das verloren gegangene Zahlungsmittel wurde fortan als „verlorene Muscheln“
im allgemeinen Gedächtnis erhalten und auch als solche im Warenverkehr weiter benutzt.
Findige Burschen, diese Ökonomen. Unverzichtbare Voraussetzung ist allerdings ein
hohes Maß an gesellschaftlicher Stabilität und gegenseitigem Vertrauen („Kredit“).
Findet sich hier nicht eine bedenkenswerte Analogie zur heutigen Finanzwirtschaft?
Ist es nicht vor allem das Vertrauen, was dem Zwischentauschmittel Geld seinen Wert
gibt? Und damit den wirtschaftlichen Austausch, gerade auch im Gesundheitswesen mit
seinen vielfältigen, komplizierten Dienstleistungen und Investitionsgütern, so reibungslos
und elegant verlaufen lässt? Letztlich „arbeitet“ Geld in seinen modernen Formen eben
nicht bzw. nur bedingt. Es liegt entweder als farbig bedrucktes Papier in unseren
Geldbörsen oder Bankschließfächern oder beult als Kuper- oder sonstige Metalllegierung
die Hosentaschen und Handtaschen mehr oder weniger stark aus. Mit Ausnahme von Gold-
und Silbermünzen ist ihr potentieller Gebrauchswert eher gering. Einen Kranken pflegen
kann weder ein Einhundert- noch ein Eintausend-Euro-Schein, auch ein fälschungssicherer
5-Euro-Schein vermag nicht eine Masernimpfung zu ersetzen und letztlich lässt sich
der Anspruch auf Gegenleistungen in dem Zwischentauschmittel Geld nur solange speichern,
wie andere Menschen sich darauf einlassen. Geld ist immer Kredit, also Vertrauen darauf,
dass man etwas dafür bekommt.
Dieser zuletzt dargelegte Zusammenhang hat durchaus Relevanz für Überlegungen zur
nachhaltigen Sicherung unserer Gesundheits- und Sozialsysteme. Kranken- und Rentenversicherungen
sind in Versicherungssystemen wie dem deutschen Bismarck-System überwiegend als Umlage-Systeme
konstruiert: Hier funktioniert das Geld vor allem als Verteilungsinstrument der verfügbaren
Arbeitskraft und Produktivmittel im Gesundheitswesen an die bedürftigen Mitglieder
einer versicherten Gemeinschaft. Das System funktioniert also eben nicht wie ein Sparkonto
im herkömmlichen Sinne, auf welches im Lauf des Lebens eingezahlt wird und aus welchem
aufgrund des so angesparten Kapitalstockes dann im weiteren Lebensverlauf Auszahlungen
vorgenommen werden können. Die Altersrückstellungen in der PKV und die kapitalgedeckten
Altersvorsorgemodelle sind eher Ausnahmen als die Regel. Versuche in diese Richtung
sind in anderen Ländern durchaus im größeren Stil gemacht worden, z. B. mit dem 1984
im Gesundheitswesen von Singapur verpflichtend eingeführten Health Savings Account
(„Medisave“). Beachtlich ist die Auswirkung dieses Systems, bei welchem die Teilnehmer
steuerfreie Einzahlungen auf ein persönliches Konto zur Begleichung von Gesundheitsausgaben
leisten können, auf die aktuellen Gesamtausgaben für medizinische Leistungen [2]. Diese liegen als Anteil des Bruttosozialprodukts deutlich niedriger als bei anderen
ökonomisch entwickelten Gesellschaften. Allerdings ist die Bevölkerung in Singapur
demografisch jung.
In einer alternden Gesellschaft hat der Gedanke eines Kapitalstockes, also eines Zwischenspeichers,
als vordergründig greifbare Sicherheit für Leistungen im späteren Lebensalter genauso
Anfälligkeiten wie ein Umlagesystem. Wenn nur noch vergleichsweise wenig Leistungserbringer
bereit sind, Dienstleistungen wie die Altenpflege zu übernehmen, wird auch viel Geld
nicht ohne weiteres zusätzliche Hände schaffen können oder eben nur um einen hohen
Preis. Solche bei einem ungünstigen Verhältnis von Leistungserbringern und bedürftigen
Mitgliedern einer Gemeinschaft im zeitlichen Verlauf erhöhten Preise bringen den eigentlichen
Vorsorgegedanken dann genauso in Schwierigkeiten wie ein Umlageverfahren. Schon 1952
formulierte der Sozialwissenschaftler Gerhard Mackenroth diesen Zusammenhang als
These – dass nämlich die Sozialausgaben einer Volkswirtschaft aus dem Volkseinkommen
der laufenden Periode zu erbringen sind [3].
Doch gehen wir einen Schritt zurück und betrachten Geld in seiner hauptsächlichen
Funktion als Zwischentauschmittel oder Zwischenspeicher für eine ökonomische Leistungsbereitschaft
bzw. -fähigkeit weiter. Diese kann entweder in Form von vorhandenem Vermögen (assets)
vorliegen oder aber in Form von derzeitiger und zukünftiger Produktivität und Wertschöpfung.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen solchen ökonomischen Größen und Gesundheit?
Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation ist diesem Zusammenhang nachgegangen [4]. Darin wurde der Einfluss der Gesundheit auf die ökonomische Entwicklung untersucht
– wohl gemerkt in dieser Richtung – und es wurden Auswirkungen in 3 Zusammenhängen
gesehen. Zum ersten erhöht die Reduktion von vermeidbaren Erkrankungen die gesunde
Lebenserwartung, was erhebliche Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wohlfahrt hat.
Die Produktivität der berufstätigen Bevölkerungsanteile bleibt so erhalten bzw. wird
gesteigert und gerade bei ausbildungsintensiven Berufen ist der „return on investment“,
also die Lebensarbeitszeit im Anschluss an die Ausbildung, länger gegeben. Gleichzeitig
ist die Belastung durch wirtschaftlich unproduktive Arbeitsausfälle, Krankheitslasten
und Todesfälle reduziert. Ökonomische Wachstumsschübe waren daher in einer historischen
Betrachtung häufig mit positiven Entwicklungen im Bereich der Versorgung mit Nahrungsmitteln,
der öffentlichen Gesundheit und der Bekämpfung von Krankheiten verknüpft. Darüber
hinaus kann der persönliche Nutzwert eines gesunden Lebens bei den Menschen, die davon profitieren, den reinen Geldwert einer ökonomischen Betrachtung noch einmal um ein Vielfaches übersteigen.
Ein zweiter Vermittlungspfad ist der Einfluss von Gesundheit auf das elterliche Erziehungsverhalten:
Bei niedriger Kindersterblichkeit werden in der Regel weniger Kinder geboren, in welche
dann gleichzeitig auch in höherem Maße investiert wird, z. B. in Form von Bildungschancen.
Eine niedrige Abhängigkeitsquote Minderjähriger stimuliert gleichzeitig den Verbrauch
einer Gesellschaft in vielen anderen Bereichen, was zu einem im Allgemeinen erwünschten
Wirtschaftswachstum beiträgt. Zum Dritten trägt ein guter Gesundheitszustand zu einer
größeren wirtschaftlichen Attraktivität einer Gemeinschaften bzw. einer Region bei,
was wiederum die wirtschaftliche Prosperität fördert. „Wer hat, dem wird gegeben“,
lautet ja das Matthäus-Prinzip.
Die korrespondierende Frage, nämlich welchen Einfluss wirtschaftlicher Reichtum auf
die Gesundheit hat, ist ebenfalls differenziert zu betrachten. Zweifelsohne stellen
materielle und personelle Gesundheitsressourcen, wie die Verfügbarkeit und der Zugang
zu Krankenhäusern, spezialisierten Behandlungs- und Diagnosezentren, Rehabilitationsmaßnahmen
und auch der ambulanten ärztlichen und auch pflegerischen Versorgung eine wichtige
gesundheitliche Ressource dar. Gleichzeitig zeigt sich auch, dass ein „Reichtum“ an
Wissen und Bildung größere gesundheitliche Effekte hat als der rein materielle Reichtum.
Aus internationalen Studien sind Beispiele bekannt, bei denen Länder bzw. regionale
Gemeinschaften, welche über relativ geringe materielle Ressourcen, jedoch über hervorragende
Bildungssysteme verfügten, einen unerwarteten guten gesundheitlichen Gesamtzustand
ihrer Bevölkerungen ausweisen: Costa Rica in Mittelamerika, Kerala in Indien und andere
mehr.
Und auch noch ein Drittes kommt hinzu: Nicht nur der absolute Wohlstand einer Gesellschaft
oder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit entscheiden über den Gesundheitszustand,
ebenso wenig wie allein das für personenzentrierte Gesundheitsdienstleistungen ausgegebene
bzw. investierte Geld. In hohem Maß scheint auch die relative Einkommens- und Vermögensverteilung Bedeutung zu haben. Die englischen Sozialforscher
Richard Wilkinson und Kate Pickett legen diese Beobachtung eindrücklich in einem ihrer
Bücher dar [5]. Länder mit einer geringeren Einkommensungleichheit wie Japan oder Norwegen weisen
vergleichsweise geringe Gesundheits- und Sozialprobleme auf, Länder mit hoher Einkommensungleichheit
wie die USA ungleich größere Probleme in diesen Bereichen.
Wie diese Effekte vermittelt werden, ist in weiten Bereichen noch offen und ist Gegenstand
vielfältiger Forschungen, wie sie auch in dieser Ausgabe von „Das Gesundheitswesen“
wieder berichtet werden: Zur Kostenanalyse telemedizinsicher Maßnahmen, zu den Krankheitskosten
bei Asthma und COPD, zur Fallzahlentwicklung der Brustkrebszentren in Nordrhein-Westfahlen,
zur Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen, zu subjektiver Gesundheit und sozialem
Status, zum Wunsch- und Wahlrecht nach §9 SGB IX, zum Informationsbedarf niedergelassener
Ärzte bei Ein- und Überweisungen und zur stationären Behandlung von Jugendlichen mit
Alkoholintoxikation.
Zum Schluss sei noch die Frage gestellt, welche Alternativen als vielleicht wahrhaftigerer
„Nerv der Dinge“ in Frage kommen. Hier kann nur eine unverbindliche Vorschlagsliste
zur weiteren Prüfung durch die Leser vorgelegt werden. Vielleicht Ideen, die groß
und schön genug sind, um das Innenleben zu prägen? Welches sich dann möglicherweise
wieder nach außen wendet: in Form von Musik und anderen darstellenden oder bildenden
Künsten? Lebenszeit in Gesundheit, die uns geschenkt wird, eine positive und hoffnungsvolle
Sicht auf die Zukunft? Und vielleicht genau das Vertrauen zwischen Menschen und Gesellschaften,
welches das Zwischentauschmittel Geld erst möglich gemacht hat und darüber hinaus
auch selbst Grundlage ist für vieles von dem, für welches dieses Zwischentauschmittel
sinnvoll eingesetzt werden kann – einschließlich der Gesundheit von Individuen und
Bevölkerungen.