Psychiatr Prax 2013; 40(07): 369-370
DOI: 10.1055/s-0033-1349538
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schwerpunkt Gerontopsychiatrie im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie – Pro

Geriatric Psychiatry as a Subspecialty in the Field of Psychiatry and Psychotherapy – Pro
Hans Gutzmann
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Krankenhaus Hedwigshöhe
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Prof. Dr. Hans Gutzmann
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Krankenhaus Hedwigshöhe
Höhensteig 1
12526 Berlin

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Publication Date:
07 October 2013 (online)

 

Pro

Basale Kompetenzen in der Gerontopsychiatrie gehören unstrittig zum Kernbereich des Mutterfachs Psychiatrie. In ihrer differenzierenden Auffächerung auf der Basis des international gewachsenen wissenschaftlichen und versorgungspraktischen Gewichts verlangt die Gerontopsychiatrie allerdings nach einem eigenen Schwerpunkt [1]. Der Anschaulichkeit halber seien einige gerontopsychiatrische Kernkompetenzen genannt, die die Komplexität der Aufgabenstellungen beleuchten mögen:


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  • Konsequenzen der Physiologie des Alterns für Pharmakokinetik und -dynamik psychotroper Medikamente

  • Kompetenz und Erfahrung im Umgang mit gerontopsychotherapeutischen Verfahren

  • stets aktualisierte Kenntnis chronischer und akuter Krankheiten des alten Menschen und deren Einflussnahme auf Kognition und Verhalten

  • Vertrautheit mit der Medikation chronischer Erkrankungen, um deren unmittelbare Effekte auf Kognition und Verhalten und um potenziell problematische Interaktionen mit Psychopharmaka besser einschätzen zu können

  • Expertise bei der Erfassung und der ätiologischen Zuordnung kognitiver Einbußen

  • Kompetenz bei der systemischen Bewertung familiärer Interaktionen und Erfahrung mit der gezielten Einflussnahme auf der Basis der Kenntnis komplementärer Netzwerke

  • erfahrungsbasierte Expertise hinsichtlich evidenzbasierter therapeutischer pharmakologischer und nichtpharmakologischer Interventionen einschließlich ihrer UAW-Risiken

  • Kenntnis der Altenhilfe und sonstiger ambulanter und komplementärer Netzwerke für alte Menschen und der Zugangswege zu diesen Hilfesystemen.

  • Expertise bei der Bewertung der vielfältigen rechtlichen Fragestellungen alter Patienten

  • biografische Besonderheiten und Kohorteneffekte lassen gute Kenntnisse der deutschen Geschichte, mindestens der letzten 80 – 100 Jahre, unverzichtbar erscheinen

Viele dieser Kompetenzen sind nicht exklusiv bei der Gerontopsychiatrie zu finden, in ihrer Summe stellen sie allerdings ein Alleinstellungsmerkmal dar. Dies besonders angesichts des Umstands, dass der „gerontopsychiatrische Regelfall“ oft alle diese Fähigkeiten in ihrer Summe erfordert.

Der Schwerpunkt, der im Rahmen der Überarbeitung der MWBO anzustreben ist, sollte in seiner Bezeichnung „Gerontopsychiatrie“ die Beziehung zum Mutterfach Psychiatrie deutlich werden lassen. Hinsichtlich der Begrifflichkeit ist anzumerken, dass „Old Age Psychiatry“, „Psychogeriatrics“ und „Geriatric Psychiatry“ international synonym gebraucht werden [2]. Wenn über einen Schwerpunkt „Geriatrie“ im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie nachgedacht wird, wäre eine solche Bezeichnung irreführend. Die Geriatrie könnte sich darin bestärkt fühlen, zunehmend weitere psychiatrische Aufgabenfelder für sich zu reklamieren wie die Behandlung von Demenzerkrankungen, depressiven Syndromen und Angststörungen, jeweils bezogen auf weniger ausgeprägte Schweregrade und ohne gravierende Verhaltensstörungen. Auch in manchen Positionierungen der Neurologie scheint sich abzuzeichnen, dass besser therapierbare Erkrankungen dem Fach Neurologie, die weniger gut therapeutisch beeinflussbaren und verhaltensmäßig problematischeren Erkrankungen dagegen eher der Psychiatrie zugeordnet werden. Wir sollten den beobachtbaren Tendenzen der Erosion von Kernkompetenzen unseres Fachs vonseiten der Nachbardisziplinen schon allein deshalb einen Schwerpunkt Gerontopsychiatrie entgegensetzen.

Auch der Bericht der AG Psychiatrie der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden für die Gesundheitsministerkonferenz 2012 [3] unterstreicht die Rolle der Gerontopsychiatrie. Dort wird ihre Geschichte in Deutschland nachgezeichnet und deutlich gemacht, dass sie als Teil der Psychiatrie wichtig ist und in Zukunft angesichts des demografischen Wandels noch wichtiger werden wird. Geriatrie und Gerontologie werden in diesem Zusammenhang als Quellen genannt, aus denen gerontopsychiatrische Kompetenz gezielt schöpfen kann, wobei die Kernkompetenzen des Fachs Psychiatrie mit seinem Wissens- und Skill-Fundus unbestritten die Basis der Gerontopsychiatrie darstellen – national wie international. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf das „Technical Consensus Statement on Psychiatry of the Elderly“ der WHO aus dem Jahr 1998 [4].

Um der Sorge entgegenzutreten, dass ein Schwerpunkt Gerontopsychiatrie eine Zersplitterung des Mutterfachs Psychiatrie bedeuten würde, sei auf Kanada verwiesen, wo im Vorfeld der Einrichtung der Subspezialität im Jahre 2009 diese Sorge intensiv diskutiert worden ist. Sie hat sich schließlich als unbegründet erwiesen [5]. Eine Publikation der National Academy of Sciences der USA [6] beschreibt detailliert die aktuelle Situation der Gerontopsychiatrie, berührt dabei auch die Entwicklung der Schwerpunktbildung seit 1989 und formuliert nicht die Sorge einer Zersplitterung der Psychiatrie. Sie schildert allerdings die Abhängigkeit des Interesses der Ärzte an Subspezialitäten von säkularen Trends, wobei ältere eher als frisch approbierte eine Zertifizierung anstreben. Auch das doppelte Stigma „Psychiatrie + Alter“ wird angesprochen. Es muss auch im Zusammenhang unserer Diskussion erwähnt werden, dass ein dauerhaftes Verstecken der Gerontopsychiatrie in der Allgemeinpsychiatrie geeignet sein kann, der durchaus auch in professionellen Kreisen immer noch zu beobachtenden Bereitschaft einer Stigmatisierung alter Patienten [7] Vorschub zu leisten.

Nach der WHO [8] ist eine kompetente Gerontopsychiatrie und -psychotherapie unverzichtbar und nicht durch andere Fachgebiete, etwa die Geriatrie oder die allgemeinpsychiatrische Kompetenz zu ersetzen. Für eine angemessene Versorgung einer Region ist es nicht akzeptabel, nur einen altersübergreifenden allgemeinpsychiatrischen Dienst anzubieten, wie es an vielen Stellen in unserem Land weiterhin Standard ist, vielmehr muss mit dem Royal College of Psychiatrists ein solches Vorgehen ohne Einschränkung als Altersdiskriminierung bezeichnet werden [9]. Die Etablierung eines Schwerpunkts Gerontopsychiatrie im Fachgebiet der Psychiatrie und die Etablierung von Lehrstühlen für Gerontopsychiatrie an den Universitäten erscheinen dringend erforderlich, um die adäquate und kompetente Versorgung psychisch kranker älterer Menschen zu sichern und um auch in Zukunft mit den internationalen Entwicklungen des Fachgebiets in Forschung, Lehre und Versorgung Schritt halten zu können [10].


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