Psychiatr Prax 2013; 40(08): 411-412
DOI: 10.1055/s-0033-1349591
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sozialpsychiatrie kann als eigenständiges Gebiet abgeschafft werden – Pro

Social Psychiatry can be Disestablished as a Separate Field – Pro
Manfred Bauer
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
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Prof. Dr. med. Manfred Bauer
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Kaiserstraße 67
63065 Offenbach

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Publication Date:
05 November 2013 (online)

 

Pro

Die Zukunft der Sozialpsychiatrie wird wieder einmal auf den Prüfstand gestellt. Gleich 2 renommierte Zeitschriften haben sich des Themas Ende 2012 angenommen. In der „Nervenheilkunde“ [1] stellt Martin Bürgy fest, dass die „Entwicklung der Sozialpsychiatrie mit der Enthospitalisierung von chronisch Kranken, der Schließung der Langzeitbereiche und dem Ausbau der gemeindepsychiatrischen Versorgung einen vorläufigen Endpunkt erreicht“ hat.


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Im Kontrastprogramm rufen A. Finzen, H. Elgeti und Y. Bieger in den „Sozialpsychiatrischen Informationen“ [2] zu einer „Debatte über die Perspektiven der Sozialpsychiatrie in einer sich wandelnden Gesellschaft“ auf. Die „Psychiatrische Praxis“ hängt das Thema deutlich niedriger. In dieser Rubrik „Pro und Kontra“ geht es lediglich um die Frage, ob Sozialpsychiatrie zukünftig wie ein eigenständiges und gleichrangiges Spezialgebiet neben der Psychiatrie behandelt werden soll oder nicht.

„Die Sozialpsychiatrie ist tot“ wird nicht nur von denen verkündet, die sich mit deren Existenz ohnehin schwer taten. So steht es im Vorwort der „Psychiatrie in Hannover“ [3], jenem Hannover, das in den 70er-Jahren eine Zeit lang als „Mekka der Sozialpsychiatrie“ apostrophiert wurde. Die von der Gesellschaft selbst angestoßene Auf- und Umbruchsphase hatte in den späten 60er-Jahren auch die Psychiatrie erreicht. Ausdruck und Ergebnis dafür war letztlich die Psychiatrieenquete mit ihren wegweisenden Reformvorschlägen, die vielfach heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Nicht nur die Atmosphäre der sog. Loccumer Tagung vom Oktober 1970, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten hatten die jeweiligen Teilnehmer gespürt, dass hier „etwas geht“, auch wenn sich in den langen und vielfach zermürbenden Diskussionen die Grenzen zwischen „Klinischer Psychiatrie“, „Sozialpsychiatrie“, „kritischer Sozialpsychiatrie“ und „Anti-Psychiatrie“ immer wieder verwischten.

Die Diskussion über den Stellenwert der Sozialpsychiatrie ist keineswegs eine deutsche Angewohnheit. In ihrem Editorial „The future of academic psychiatry may be social“ [4] vertreten die Autoren Priebe, Burns und Craig, allesamt renommierte Professoren für Social and Community Psychiatry, die Auffassung, dass in den letzten 30 Jahren keine wesentlichen Fortschritte hinsichtlich der Behandlung psychisch Kranker erkennbar geworden seien. Dies gelte sowohl für die pharmakologischen Therapien als auch für gesprächstherapeutische Interventionen. Leider habe die bisherige neurobiologische Grundlagenforschung auch nicht dazu geführt, dass daraus bessere Behandlungsmöglichkeiten erwachsen seien. Solange sich deren Befunde nicht mit den realen Lebensumständen der Betreffenden verknüpfen lassen, seien diese letztlich bedeutungslos.

Als Lösung des Problems bieten die Autoren eine gezielte und verstärkte Forschung im sozialen Raum an, wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist, wenn sie kompetent und methodensicher durchgeführt wird. Dafür aber braucht man kreatives Personal mit guten Ideen, viel Geld und einen langen Atem.

In den letzten 30, 40 Jahren hat sich das Arbeitsfeld der Psychiatrie zwar nicht grundlegend, aber doch deutlich verändert. Es ist an dieser Stelle müßig, all die „Errungenschaften“ aufzulisten, die durch die Psychiatrieenquete angestoßen und zum Teil auch weiterentwickelt wurden. Nicht nur mit den Händen, sondern auch in den Köpfen. Kein ernst zu nehmender „biologischer“ Psychiater würde heutzutage behaupten, dass „biologisch-organische Faktoren“ allein zur Erklärung psychischer Störungen ausreichten. Umgekehrt wird kein noch so hart gesottener Anhänger psycho- und soziodynamischer Provenienz leugnen wollen, dass der Mensch neben der Seele auch noch einen Körper mit sich herumträgt.

Gelegentlich ist zu hören, die neueren Entwicklungen der biologisch-biochemischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie die bildgebenden Verfahren führten letztlich dazu, dass am Ende des Tages der Kaiser ohne Kleider dastehe, die „Seelenheilkunde also ohne Seele“ [5]. Ich glaube dies nicht. Vielmehr hätte ich die Sorge, wenn überhaupt von „Sorgen“ in diesem Kontext die Rede sein kann, dass die allgemeine, regional- und patientenbezogene Psychiatrie dem Fach aus der Hand gleitet und sich in soziale, psychodynamische und biologische Teilaspekte aufsplittert, die sich ihrerseits bei Gelegenheit verselbstständigen. Gerade dies aber gilt es zu vermeiden. Angesagt ist Integration und nicht Segregation, auch wenn die „Sozialpsychiatrie“ dabei Federn lassen müsste.

In der psychiatrischen Regelversorgung, sei es in psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern oder in Fachkrankenhäusern, hat „Sozialpsychiatrie“ in Reinkultur nie Fuß fassen können. Dort macht man seine Arbeit so gut es geht und fragt nicht danach, ob man sich gerade „sozialpsychiatrisch“ oder nur „psychiatrisch“ verhalten hat. Sozialpsychiatrie ist learning by doing, und zwar an vorderster Front.

Doch zurück zu Eingangsfrage: Kann oder soll Sozialpsychiatrie als separates Fachgebiet abgeschafft werden? Ich denke ja, aber mit Auflagen: Es muss gewährleistet sein, dass Inhalte der Sozialpsychiatrie fester Bestandteil des hausinternen und regionalen Weiterbildungscurriculums zum Facharzt sind und bleiben. Es kann nicht sein, dass ein Kandidat bei der zuständigen Landesärztekammer nachfragt, wo er am besten Sozialpsychiatrie lernen könne und die Antwort bekommt, bei der DGPPN Jahrestagung in Berlin!

Die Klinische Psychiatrie und die Sozialpsychiatrie haben sich in ihrem Denken und Alltagshandeln soweit angenähert, dass ein je separates Fachgebiet nicht mehr begründet werden kann.

Last but not least fehlen für eventuelle sozialpsychiatrische Lehrstühle an deutschen Universitäten die dazu gehörenden Interessenten. Der Markt ist leergefegt und Nachwuchs nicht in Sicht. Die Medizinische Hochschule Hannover hat dem Rechnung getragen. Sie hat nach der Emeritierung des letzten sozialpsychiatrischen Lehrstuhlinhabers dessen Stelle – mangels Masse und Interesse (?) – nicht wieder besetzen können. Stattdessen hat sich die Psychiatrische Klinik umbenannt in „Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie“. Merke: Es geht auch anders, aber so geht es auch.


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Manfred Bauer

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  • Literatur

  • 1 Bürgy M. Zukunft der Sozialpsychiatrie. Nervenheilkunde 2012; 31: 549-551
  • 2 Finzen A et al. Aufruf zur Debatte über die Perspektiven der Sozialpsychiatrie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Sozialpsychiatrische Informationen 42 Jahrgang 4/ 2012;
  • 3 Haselbeck H et al. Psychiatrie in Hannover – Strukturwandel und therapeutische Praxis. Stuttgart: Enke Verlag; 1987
  • 4 Priebe S, Burns T, Craig T. The future of academics psychiatry may be social. The British Journal of Psychiatry 2013; 319-320
  • 5 Ciompi L, Heimann H Hrsg. Psychiatrie am Scheideweg. Was bleibt? Was kommt?. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag; 1991

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Prof. Dr. med. Manfred Bauer
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Kaiserstraße 67
63065 Offenbach

  • Literatur

  • 1 Bürgy M. Zukunft der Sozialpsychiatrie. Nervenheilkunde 2012; 31: 549-551
  • 2 Finzen A et al. Aufruf zur Debatte über die Perspektiven der Sozialpsychiatrie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Sozialpsychiatrische Informationen 42 Jahrgang 4/ 2012;
  • 3 Haselbeck H et al. Psychiatrie in Hannover – Strukturwandel und therapeutische Praxis. Stuttgart: Enke Verlag; 1987
  • 4 Priebe S, Burns T, Craig T. The future of academics psychiatry may be social. The British Journal of Psychiatry 2013; 319-320
  • 5 Ciompi L, Heimann H Hrsg. Psychiatrie am Scheideweg. Was bleibt? Was kommt?. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag; 1991

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