OP-Journal 2013; 29(2): 107-108
DOI: 10.1055/s-0033-1351063
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

Michael J. Raschke
,
Carl-Peter Cornelius
,
Florian Gebhard
,
Ulrich Stöckle
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 January 2014 (online)

 

    Auf allen Gebieten der Medizin sind in den letzten Jahren geradezu explosionsartig Ideen und Innovationen in Prävention, Diagnostik und Behandlungskonzepten umgesetzt worden. Nur einige Stichworte in einer rasanten Entwicklung sind: Augmented virtual Reality, CAS/computerassistierte Chirurgie, 3D Printing, Nanotechnologie, Tumor-targeted Therapy, Next Generation Sequencing und zuletzt Big Data Mining, mithilfe dessen Google in Aussicht stellt, die menschliche Lebenszeitspanne drastisch zu verlängern.

    Die beängstigenden Szenarien aus „Brave New World“ und „1984“ wurden längst von den sozialen, sozioökonomischen und politischen Realitäten überholt, und wenn man alles ganz nüchtern und „wertfrei“ betrachtet, haben die genannten Techniken großes Potenzial und bieten endlose Perspektiven. Rasche Veränderung und immer kürzere Zeittakte sind dabei die neue Konstante.

    Auch in einem vergleichsweise topografisch eng umschriebenen medizinischen Fachgebiet wie der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie gibt es keinerlei Stillstand, stattdessen viele kleine und bedeutsamere Fortschritte von Piezotomen, Endoskopie, intraoperativer Navigation und Bildgebung über patientenspezifische Osteosynthese-Materialien und Perforator Flaps bis hin zur revolutionären allogenen Transplantation immer ausgedehnterer Einheiten menschlicher Gesichtsweichgewebe in Verbindung mit dem Gesichtskelett.

    Seit der letzten Ausgabe des OP-Journals mit Schwerpunkt Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie vor 20 Jahren (September 1993) ist ein kontinuierlicher Faden in der Berichterstattung bedauerlicherweise immer wieder abgerissen.

    Leitthema waren damals Gesichtsschädelfrakturen. Das Titelbild zeigte eine Zeichnung der unteren und mittleren Gesichtshälfte mit Einblendung einer unilokulären „simplen“ Unterkieferfraktur im Korpusbereich, die damals mit einer massiven Titanrekonstruktionsplatte fixiert wurde. Neben der Versorgung von Unterkiefer- und Mittelgesichtsfrakturen standen aber Behandlungskonzepte bei frontobasalen, frontoorbitalen und nasoethmoidalen Frakturmustern im inhaltlichen Fokus des Heftes.

    Die Beschäftigung mit der Orbita als der Transitionszone zur Schädelbasis und zum Kranium (z. B. in Traumatologie und bei Kraniosynostosen oder Schädeldeformitäten) war einer der Anlässe, im internationalen/angloamerikanischen Sprachgebrauch OMF (Oral and Maxillofacial) zu CMF (Craniomaxillofacial) Surgery mutieren zu lassen.

    Aus dem weiten CMF-Spektrum sollen mit dem vorliegenden Heft nur einige Akzente gesetzt werden. Der Anfangsbeitrag stellt die offizielle neue AO-CMF-Trauma-Klassifikation für Erwachsene vor und knüpft direkt an das frühere MKG-Themenheft an. Zur exakten anatomiegerechten Dokumentation von Gesichtsschädelfrakturen nach Lokalisation und Morphologie der Fragmente bedarf es verbindlicher Konventionen. AOCOIAC (AO Comprehensive Injury Automatic Classifier) ist das zugehörige Software-Programm.

    Entscheidendes Fundament und Eckpfeiler nicht nur für Klassifikationen in der Traumatologie, sondern auch bei Tumoren und der Behandlung von Deformitäten sind bildgebende Verfahren. Der Beitrag liefert eine wegweisende Übersicht über physikalische Grundlagen, Technik und Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Verfahren.

    Die Notwendigkeit und die Behandlungsoptionen bei Frakturen der internen Orbita und der Orbitaränder gehören zu den am meisten diskutierten CMF-Themen der letzen beiden Dekaden. Grundlegende Arbeiten dazu stammen aus Basel von Beat Hammer und seinem Umfeld. Drei seiner langjährigen Mitarbeiter und ein ehemaliger Fellow stellen hier ihr derzeitiges Konzept und ihre Erfahrungen in der Orbitatraumatologie dar.

    Ein Fixateur externe im Gesicht klingt nach unbelehrbarem Anachronismus. Tatsächlich bieten sich mit der Renaissance des „External Mandible Fixators“ einige zwar seltene, aber wertvolle Anwendungen bei ausgedehnten Tumoren und Tumorrezidiven im Alveolarfortsatz und Mundbodenbereich, pathologischen Unterkieferfrakturen (z. B. Osteoradio- oder Chemonekrosen) und zur Immediatstabilisierung von Schussverletzungen.

    Die Behandlung von Kiefergelenkfortsatzfrakturen (Basis und Hals) im Kindes- und Jugendalter ist nach wie vor die Domäne einer sog. geschlossenen Therapievariante. Nach schweren Dislokationen und Luxationen sind mit dem Sistieren des appositionellen Wachstums der Gelenkfortsätze und eingeschränktem Remodeling-Potenzial spätestens ab dem frühen Teenageralter bleibende Funktionsstörungen zu erwarten. Mit der endoskopisch assistierten transoralen Reposition und Fixation lässt sich die knöcherne Anatomie als wesentliche Voraussetzung für eine funktionelle Rehabilitation weitgehend risikolos wiederherstellen.

    Mit dem demografischen Wandel und einer alternden Gesellschaft ist möglicherweise mit einer steigenden Zahl von Gesichtsschädelfrakturen bei Zahnlosigkeit zu rechnen. Es scheint an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie viel und wie stark dimensioniertes Osteosynthesematerial in Abhängigkeit vom Atrophiegrad zu einer adäquaten Versorgung von Frakturen im zahnlosen Unterkiefer notwendig ist.

    Das sog. mikrochirurgisch revaskularisierte Beckenkammtransplantat (Deep Circumflex Iliac Artery – DCIA Flap) zur Rekonstruktion von Unter- oder Oberkiefer ist wegen angeblich hoher Morbidität in der Entnahmeregion aus dem Standardportfolio vieler Kliniken verschwunden. Da DCIA Flaps einige Vorteile (Vertikaldimension, Formgebung) aufweisen, erscheint es lohnend, sich mit Techniken vertraut zu machen, die zur Minderung der „Donor Site Morbidity“ beitragen.

    Der alloplastische Kiefergelenkersatz mit Custom-made-Endoprothesen beginnt, sich mit Indikationen im Endstadium degenerativ/entzündlicher Erkrankungen, nach Tumorresektionen und Traumen sowie bei Deformitäten immer mehr durchzusetzen. Diese Endoprothesen können extendiert werden, um damit zugleich Anteile des Unterkiefers und/oder des Jochbein-/Jochbogenensembles aufzubauen.

    Die Regenerative Medizin besitzt eine ernorme Entwicklungsdynamik. Die unterschiedlichen Strategien des Tissue-Engineerings versprechen eine Alternative zu konventionellen Ersatzplastiken bei ausgedehnten knöchernen Defektsituationen im kraniofazialen Bereich.

    In der CMF-Region treffen sich verschiedene Fachgebiete. Ohne enge Kooperation sind die komplexen Aufgaben dieser Region nicht zu lösen. CMF muss deshalb für multidisziplinäre Zusammenarbeit stehen.

    Es ist daher beabsichtigt, Sie in einer losen Folge von OP-Journal-Beiträgen auch in Zukunft über CMF-Aktualitäten aus den Blickwinkeln von Neurochirurgie, Augenheilkunde, Plastische Chirurgie, HNO und nicht zuletzt „MKG“-Chirurgie auf dem Laufenden zu halten.

    „Infotainment“ und eine interessante Lektüre wünschen schon jetzt

    Ihre
    Michael J. Raschke, Münster
    Carl-Peter Cornelius, München
    Florian Gebhard, Ulm
    Ulrich Stöckle, Tübingen


    #