PiD - Psychotherapie im Dialog 2013; 14(03): 34-38
DOI: 10.1055/s-0033-1353815
Aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schulenübergreifende Psychotherapie der chronischen Depression

Das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy
Eva-Lotta Brakemeier
,
Stephan Köhler
,
Philipp Sterzer
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. rer.nat. Eva-Lotta Brakemeier, Dipl.-Psych.
Psychologische Hochschule Berlin
Am Köllnischen Park 2
10179 Berlin

Publication History

Publication Date:
01 October 2013 (online)

 

Bei chronischen Depressionen handelt es sich um schwer beeinträchtigende Störungen, die meist schon während der Kindheit beginnen. Das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) ist bis dato die einzige Psychotherapie, die speziell für diese Patientengruppe entwickelt wurde. CBASP kombiniert behaviorale, kognitive, interpersonelle und analytische Strategien. Erste Studien belegen die Effektivität des Verfahrens in der Behandlung der chronischen Depression.


#

Was kennzeichnet die chronische Depression?

Merkmale

Die chronische Depression zeichnet sich durch eine depressive Symptomatik über mindestens 2 Jahre hinweg aus. Die meisten chronisch depressiven Patienten berichten jedoch, dass sie sich schon seit vielen Jahren bzw. seit der Kindheit depressiv fühlen (Brakemeier et al. 2012). In Deutschland leben derzeit etwa 1,2 Mio. chronisch depressive Menschen. Insgesamt können 25–30% aller unipolaren Depressionen als chronisch eingestuft werden (Hautzinger 2010, Arnow & Constantino 2003).


#

Beispiel

Zur Illustration der besonderen Psychopathologie der chronischen Depression soll folgendes Zitat eines Patienten aus einem Erstgespräch dienen.

Dieses Zitat stammt von einem 31-jährigen chronisch depressiven, ledigen Klavierlehrer, der zusätzlich auch die Kriterien einer sozialen Phobie und der selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung erfüllt. Die hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ist charakteristisch für dieses Störungsbild (vgl. Brakemeier et al. 2012).

Patient Herr S.: „Glücklich sein? Was ist das? Ich glaube, ich war noch nie wirklich glücklich. Ich kenne nur diese traurige Stimmung, die sich oft zur Verzweiflung steigert. Dann will ich nur noch schlafen und nie mehr aufwachen. Ich hab doch schon alles ausprobiert, nichts hat bisher geholfen, und mir wird auch nichts helfen. Niemand kann mir helfen, also lassen Sie mich am besten jetzt wieder gehen – Sie alle verschwenden nur Ihre Zeit mit mir…“


#

Besonderheiten

Die wenigen Sätze dieses Patienten unterstreichen, dass chronisch depressive Personen häufig bestimmte psychologische Charakteristika aufweisen, welche die Behandlung erschweren. McCullough (2000) hat sich Jahrzehnte lang mit dieser Patientengruppe beschäftigt und folgende Besonderheiten herausgestellt:

  • ein wiederholter Ausdruck von Hilflosigkeit und Elend,

  • ein submissives und überfordertes Verhalten,

  • ein auffälliges Misstrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen,

  • eine nahezu unverrückbare Überzeugung, dass nichts getan werden kann, um die Depression unter Kontrolle zu bringen,

  • rigide und verfestigte Verhaltensmuster, die weder durch positive noch durch negative Ereignisse beeinflussbar zu sein scheinen.

Die chronische Depression ist eine häufige Verlaufsform depressiver Erkrankungen mit meist frühzeitigem Beginn, traumatisierenden Beziehungserfahrungen in der Kindheit, hohen Raten an komorbiden psychischen Störungen und meist multiplen, aber erfolglosen Behandlungsversuchen in der Vorgeschichte.


#
#

Was ist CBASP?

Entwicklung

CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy) wurde als störungsspezifische Behandlungsform für chronisch depressive Patienten durch McCullough (2000; deutsch: Schramm et al. 2006, Brakemeier & Normann 2012) in den USA ursprünglich für die ambulante Behandlung entwickelt. Da schwer chronisch depressive Patienten in Deutschland häufig auch stationär über mehrere Wochen behandelt werden, wurde CBASP als multidisziplinäres stationäres Konzept modifiziert und inzwischen in vielen Kliniken implementiert (Brakemeier & Normann 2012).

CBASP basiert auf 2 Grundannahmen:

  1. Chronisch depressive Patienten haben aufgrund der sehr häufig erlebten frühen traumatisierenden Beziehungserfahrungen (z. B. Angst et al. 2009, Riso et al. 2002, Klein & Santiago 2003) eine Art interpersonelle Mauer zwischen sich und der Umwelt errichtet, welche auch den therapeutischen Beziehungsaufbau erschwert.

  2. Chronisch depressive erwachsene Pa­tienten sind bzgl. der emotional-kognitiven Entwicklung vergleichbar mit 3- bis 7-jährigen Kindern, die sich laut Piaget (1995) im sog. präoperatorischen Stadium befinden: Auch diese Patienten reden häufig in Monologen, denken prälogisch, befinden sich in ihrer egozentrischen Welt, sind mit Mitmenschen wenig empathisch, durch Rückmeldung anderer in ihren Meinungen kaum beeinflussbar und verlieren in Stresssituationen häufig die Kontrolle über ihre Emotionen (vgl. McCullough 2000, Brakemeier & Normann 2012).


#
#

CBASP-Behandlungsstrategien

Schulenübergreifend

Um an den kognitiv-emotionalen Defiziten, die durch frühe traumatisierende Beziehungserfahrungen entstanden sind, und ihren Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten chronisch Depressiver anzusetzen, werden bei der Behandlung durch CBASP schulenübergreifend spezifische Strategien und Techniken aus der behavioralen, kognitiven, interpersonellen und psychoanalytischen Therapie kombiniert.

CBASP ist eine störungsspezifische Psychotherapie für die Behandlung chronisch depressiver Patienten, die schulenübergreifende Techniken sowie eine besondere Form der Therapiebeziehungsgestaltung verwendet und dabei einen Schwerpunkt auf die interpersonellen Probleme der Patienten legt.


#

Behandlungsziele

Mithilfe dieser Behandlungsstrategien sollen die folgenden 4 Ziele erreicht werden, die auch direkt aus den Annahmen über den kognitiv-emotionalen Zustand chronisch Depressiver abgeleitet werden können (vgl. Brakemeier & Normann 2012):

  1. Die Patienten sollen entgegen ihren Erwartungen erkennen, dass ihr heutiges Verhalten Konsequenzen hat, um aus der erlernten Hilflosigkeit herauszukommen.

  2. Sie sollen wieder soziale Empathie mit Mitmenschen erlernen.

  3. Soziale Problemlöse-Fertigkeiten und Bewältigungsstrategien sollen erlernt und im Alltag angewendet werden.

  4. Frühe traumatisierende Beziehungserfahrungen sollen durch neue korrigierende Beziehungserfahrungen geheilt werden.

CBASP zeigt durch Erlernen sozialer Empathie, Problemlöse-Fertigkeiten sowie korrigierenden Beziehungserfahrungen einen Weg aus der erlernten Hilflosigkeit auf.


#
#

Wie wird CBASP durchgeführt?

Prägende Bezugspersonen

CBASP wird durch analytische und interpersonelle Strategien eröffnet. Der Patient wird zunächst motiviert, bis zu 6 prägende Bezugspersonen zu benennen. Anschließend hilft ihm der Therapeut durch eine gezielte Exploration, für jede Person „kausal-theoretische Schlussfolgerungen“ abzuleiten, die vereinfacht auch als „Prägungen“ oder „Stempel“ bezeichnet werden können.


#

Übertragungshypothese

Schließlich leitet der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten auf Basis dieser Prägungen Übertragungshypothesen ab. Sie geben die Beziehungserwartungen wider, die der Patient aufgrund seiner Prägungen (bewusst oder unbewusst) auch an den Therapeuten hat. Im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse wird die Übertragungshypothese also früh in der Therapie proaktiv eingeführt („Was könnte auch zwischen uns passieren? Was sind Ihre Beziehungserwartungen an mich?“) und transparent formuliert. Diese Schritte werden anhand des Patientenbeispiels von Herrn S. in [Tab. 1] zusammenfassend dargestellt.

Tab. 1 Liste prägender Bezugspersonen und Übertragungshypothesen von Herrn S.

prägende Bezugsperson

Zusammenfassung der Besprechung

Prägung

Mutter

Die hat immer nur gearbeitet – für ihre Karriere. Sie hat uns Kinder nur in die Welt gesetzt, weil sich das eben so gehört, 2 Kinder zu haben als Professorin. Wenn ich was von ihr wollte, hat sie mich weggeschickt, weil gerade Anderes wichtiger war.

Ich werde nicht gehört, ich und meine Probleme oder Bedürfnisse sind nicht wichtig.

Vater

Mein Vater war immer angespannt. Meine Schwester war sein Liebling. Ich war ihm zu langsam und zu verträumt. Eigentlich hat er mich immer nur angeschrien, wenn ich meinen Mund aufgemacht habe. Manchmal hat er mich auch geschlagen.

Wenn ich etwas sage, werde ich bestraft.

Schwester

Sie war die erfolgreiche große Schwester, die immer alles besser konnte als ich. Über mich hat sie sich nur lustig gemacht.

Frauen machen sich über mich nur lustig.

Heike

In sie war ich 3 Jahre lang verliebt. Als ich ihr dies endlich beim Abiball gestanden habe, hat sie mich eiskalt abserviert.

Ich muss mich von Frauen fernhalten, denn die werden mich abservieren.

Übertragungshypothesen (proaktiv und transparent)

1. Wenn ich in der Therapie Bedürfnisse/Probleme habe, wird meine Therapeutin die nicht für wichtig erachten oder sich gar darüber lustig machen.

2. Wenn Nähe in der Therapie entsteht, wird meine Therapeutin mich abweisen.

Die prägenden Bezugspersonen und deren „Stempel“ auf das Leben des Patienten ­(= Prägung) werden erarbeitet und sog. Übertragungshypothesen formuliert, die Beziehungserwartungen des Patienten gegenüber dem Therapeuten widerspiegeln.


#

Diszipliniert-persönliches Einlassen

Durch die Beziehungsgestaltung sollen die negativen, oft traumatisierenden Erfahrungen des Patienten aus seiner Vergangenheit bearbeitet und die Übertragungshypothesen entkräftet werden. Daher soll sich der CBASP-Therapeut möglichst oft bewusst persönlich einbringen (diszipliniert-persönliches Einlassen, „disciplined personal involvement“: DPI; Brakemeier & Normann 2012, McCullough 2006). Das bedeutet, dass er seine eigenen positiven und negativen Gefühle und Reaktionen als Konsequenz für das Verhalten des Patienten deutlich macht. Durch dieses authentische, persönliche Einbringen des Therapeuten wird kontinuierlich dysfunktionales Verhalten modifiziert, das für den Patienten im Alltag destruktive Konsequenzen hat.


#
#

Fallbeispiel

Diszipliniert-persönliches Einlassen: Herr S. kommt in die Sitzung, sieht sehr schlecht aus, begrüßt Therapeutin nicht, setzt sich, verschränkt Arme und Beine, schaut die Therapeutin nicht an und sagt nichts. Nachdem die Therapeutin immer wieder einige unbeantwortete Fragen gestellt hat, schweigt sie eine Zeit lang mit. Nach 20 Minuten nutzt sie das DPI wie folgt:

TH: „Herr S., können Sie sich vorstellen, wie es mir gerade geht?“

Herr S. schüttelt nur einmal fast unmerklich den Kopf.

TH: „Schauen Sie mich doch mal an, was sehen Sie denn?“

Herr S. schaut weiter auf den Boden.

TH duckt sich auf den Boden, genau an die Stelle, an die er schaut und blickt ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck an.

TH: „Was sehen Sie denn?“ (sie schaut besorgt)

Herr S. muss ganz kurz schmunzeln, TH reagiert darauf auch mit Schmunzeln, dann schaut sie aber wieder besorgt.

Herr S.: „Ach, Sie nerven.“

TH: „Ich nerve? Mmh – ich glaube, ich will Sie gerade auch nerven. Ich habe den Impuls, Sie zu schütteln, damit Sie mir sagen, was los ist.“

Herr S.: „Sie wollen mich schütteln?“

TH: „Ja, ich verspüre den Impuls, Sie wachzurütteln, damit Sie wieder mit mir sprechen. Ich mache mir nämlich wirklich Sorgen um Sie, weil Sie so schlecht aussehen und nicht mehr mit mir sprechen. Und dabei fühle ich jetzt auch etwas Ungeduld und fast schon Ärger, dass Sie mich so abblitzen lassen. Können Sie meine Gefühle aus meiner Sicht nachvollziehen?“

Herr S.: „Ach, kümmern Sie sich doch einfach nicht um mich.“

TH: „Genau das möchte ich aber. Ich möchte Ihnen helfen, weil ich Sie mag und Sie mir wichtig sind. Daher möchte ich Sie fragen: Wollen Sie, dass ich mir Sorgen mache, ungeduldig und fast schon ärgerlich werde, Sie schütteln möchte?“

Herr S.: „Ach nein, das will ich nicht.“

TH: „Aber warum machen Sie das? Warum sagen Sie mir nicht, was los ist, was Sie belastet?“

Herr S.: „Ach, Sie werden das nicht verstehen.“

TH: „Kann es sein, dass Ihre Prägungen Sie daran hindern, mir zu sagen, was los ist?“

Herr S.: „Naja, vielleicht schon. Das ist wohl die Prägung meiner Mutter: Meine Probleme sind nicht wichtig.“

TH: „Ja, genau. Aber ich nehme Ihre Probleme ernst und ich wünsche mir jetzt sehr, dass Sie mir eine Chance geben und mir Ihr Problem anvertrauen.“

Herr S.: „Okay, ich probiere es.“

Herr S. vertraut anschließend seiner Therapeutin ein großes Problem an.

Interpersonelle Diskrimination

Im Anschluss an ein DPI, wie es im Fallbeispiel dargestellt ist, sollte möglichst immer eine interpersonelle Diskriminationsübung (IDÜ) durchgeführt werden. Anders als in der Psychoanalyse wird mit den Übertragungen proaktiv umgegangen.


#
#

Fallbeispiel

Interpersonelle Diskriminationsübung:

TH: „Können Sie sich an eine ähnliche Situation wie heute erinnern, aber mit Ihrer Mutter – also eine Situation, in der Sie geschwiegen haben, da Sie ein großes Problem beschäftigt hat.“

Herr S.: „Ach, die hätte ja gar nicht mitbekommen, dass ich ein Problem habe. Mein Schweigen war ihr ja sogar angenehm, da konnte sie weiter arbeiten und musste sich nicht mit mir beschäftigen.“

TH: „Mm, und Ihr Vater?“

Herr S.: „Der hätte mich vielleicht blöd angemacht, so etwa wie: Na, welche Laus ist dir denn heute schon wieder über die Leber gelaufen? Jetzt sag gefälligst sofort was los ist oder geh auf dein Zimmer. Ich kann dieses Schweigen nicht mehr ertragen.“

TH: „Und wie hat Ihre Schwester reagiert?“

Herr S.: „Ach, wenn die das mitbekommen hat, dann hat sie sich darüber lustig gemacht. Sie hat immer gelästert, dass nichts sagen ja besser bei mir sei als zu stottern.“

TH: „Und wie habe ich heute reagiert?“

Herr S.: „Naja, Sie wollten mich am liebsten schütteln.“

TH: „Genau, weil ich doch so gerne wissen ­wollte, was Sie beschäftigt, um Ihnen dann auch helfen zu können. Welche Unterschiede sehen Sie denn zwischen meinem heutigen Verhalten und dem Verhalten Ihrer Familie früher?“

Herr S.: „Pff, Riesenunterschiede. Sie scheinen sich ja echt für meine Probleme zu interessieren, wollen mir helfen, schreien mich nicht an und machen sich nicht über mich lustig.“

TH: „Und können Sie schon sagen, was es für Sie bedeutet, wenn ich so anders reagiere?“

Herr S.: „Mm, das fühlt sich seltsam an, so komisch. Vielleicht interessiert sich heute ja doch jemand für mich und meine

Probleme…“.

Im Verlauf der Therapie wird die IDÜ immer wieder durchgeführt, sodass der Patient in vielen Situationen erkennen kann, dass der Therapeut nicht entsprechend seiner negativen Erwartungen resultierend aus den negativen Prägungen reagiert: Er erlebt heilsame Beziehungserfahrungen.

Das diszipliniert-persönliche Einlassen und die interpersonelle Diskriminationsübung sind spezifische Strategien, die durch authentisches, diszipliniertes Einbringen der Gefühle des Therapeuten gegenüber dem Patienten und der Diskrimination mit negativen früheren Erfahrungen des Patienten zu einer heilsamen Beziehungserfahrung führen.

Kiesler Kreis

Kiesler (1983) entwickelte dieses interpersonelle Kreismodell ([Abb. 1]) zur Einschätzung des sog. Stimuluscharakters eines Menschen bzw. der Stimuluscharaktere von 2 Partnern. Damit ist die verdeckte emotionale, kognitive oder verhaltensbezogene Reaktion gemeint, die eine Person bei anderen Menschen „hervorruft“.

Zoom Image
Abb. 1Der Kiesler Kreis.

#

Einschätzung der Patienten

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Patienten den Kreis besser annehmen und damit arbeiten können, wenn die Begriffe „Nähe vs. Distanz“ (zusätzlich zu „freundlich vs. feindselig“) und „Offenheit vs. Verschlossenheit“ (zusätzlich zu „dominant vs. unterwürfig“) verwendet werden. V. a. der Begriff „feindselig“ wird von Patienten schwer angenommen. Auch der Begriff „dominant“, der als neutral bewertet werden sollte, hat im deutschsprachigen Raum eine eher negative Konnotation. Zudem werden Patient darauf aufmerksam gemacht, dass die Pfeile im Kreis einen Hinweis darauf geben, wie andere Menschen typischerweise auf einen bestimmten Stimuluscharakter reagieren.

Die meisten chronisch depressiven Patienten ordnen sich als „distanziert-verschlossen“ ein, also bei „feindselig-unterwürfig“, was häufig auch durch die Fremdeinschätzung im Impact Message Inventory (Caspar 2002, Constantino et al. 2008) bestätigt wird. Im Verlauf der CBASP-Therapie soll der Patient lernen, alle Stimuluscharaktere je nach Zielverhalten anwenden zu können, wobei v. a. freundliches und freundlich-dominantes Verhalten geübt wird.

Mithilfe des Kiesler Kreises werden Wechselwirkungen in zwischenmenschlichen Beziehungen reflektiert. Chronisch depressive Patienten haben häufig zu Beginn einer Therapie einen distanziert-verschlossenen Stimuluscharakter und sollen durch CBASP lernen, v. a. offener, dominanter und freundlicher auf Menschen zugehen zu können.


#

Situationsanalyse

Die Situationsanalyse (SA, Brakemeier et al. 2012, McCullough 2000, Brakemeier & Normann 2012) ist eine strukturierte, mehrstufige, soziale Problemlösungsaufgabe.

  • Durch die Situationsanalyse wird die Aufmerksamkeit des Patienten auf den Umgang mit einer konkreten Situa­tion gelenkt. Hierdurch soll das globale, transsituationale, präoperatorische Denken allmählich aufgelöst werden.

  • Der Patient soll zudem erkennen, dass sein Verhalten Konsequenzen hat, wodurch er mithilfe einer zunehmend geschulten Wahrnehmung mit der Umwelt in Verbindung treten kann („wahrgenommene Funktionalität“, „perceived functionality“).

Die SA kombiniert direkt behaviorale und kognitive Techniken. Bei der Durchführung wird die Erhöhung des Leidensdrucks durch Verschärfung der Problematik in der Sitzung bewusst eingesetzt, um dann im Laufe der SA eine spürbare Abnahme des Leidensdrucks durch angemessenes Problemlösen zu erzeugen (negative Verstärkung).


#
#

Fallbeispiel

Eine Situationsanalyse:

1. Explorationsphase

a) Situationsbeschreibung: Was ist passiert? (reine Beschreibung einer kurz umrissenen Situation)

Meine Schwester ruft an. Sie sagt, dass sie heiraten werde und dass ich sowohl im Gottesdienst als auch auf der Feier abends Klavier spielen solle. Sie fragt: „Das ist ja wohl okay für Dich?“ Ich sage nichts. Sie fragt noch mal sehr dominant nach. Ich sage: „Okay.“

b) Interpretationen: Wie haben Sie die Situation interpretiert? (Festhalten der 3 wichtigsten Gedanken)

  • Oh nein, ich will da nicht Klavier spielen.

  • Sie wird kein Nein dulden.

  • Ich muss da wohl durch.

c) Situatives Verhalten: Wie genau haben Sie sich verhalten? (genaue Beschreibung des Ver­haltens mit Einordnung im Kiesler Kreis)

Ich sage zuerst nichts, schlucke, beginne zu zittern, dann sage ich ganz leise mit erstickter Stimme: Okay. (Kiesler Kreis: submissiv-feindselig)

d) Tatsächliches Ergebnis: Wie ging die Situation aus? (Formulierung in Verhaltensbegriffen)

Ich sage: „Okay.“

e) Erwünschtes Ergebnis (EE): Wie hätten Sie sich den Ausgang der Situation gewünscht? (Formulierung von einem Ziel in Verhaltensbegriffen, welches realistisch durchführbar und in dem Patienten verankert sein muss)

Ich sage: „Nein, das möchte ich nicht.“

f) Haben Sie Ihr erwünschtes Ergebnis erreicht?

Nein.

Warum nicht?

Weil ich mich nicht getraut habe, Nein zu sagen.

2. Lösungsphase

b) Revision der Interpretationen: Sind diese in der Situation verankert und sind sie für das Erreichen des neuen EE hilfreich?

  • Oh nein, ich will da nicht Klavier spielen.

    • – verankert und hilfreich

  • Sie wird kein Nein erdulden.

    • – nicht verankert und nicht hilfreich

Neue Interpretation: Ich muss jetzt auf mich achten und Nein sagen, egal wie sie reagieren wird.

  • Ich muss da wohl durch.

    • – nicht verankert und nicht hilfreich

Neue Interpretation: Heute kann ich was ändern. Ich muss endlich meine Bedürfnisse und Probleme ernst und wichtig nehmen.

Verhaltensinterpretationen: Sag Nein! Nimm dich wichtig! Grenz dich ab!

c) Revision des Verhaltens: Klar und deutlich und mit lauter Stimme Nein sagen. Kiesler Kreis: v. a. dominant

Durchführung von vielen Rollenspielen mit Shaping

d) Take Home Message: Was haben Sie heute gelernt?

Ich muss den Menschen sagen, was mit mir los ist. Ich kann und darf um Hilfe bitten.

e) Generalisierung: Kennen Sie diese Problematik auch von anderen Situationen?

Oh ja, ich sage so oft Ja, wenn ich eigentlich Nein denke.

Durch die Situationsanalyse werden häufig Verhaltensdefizite aufgedeckt, die dann im Rahmen der Lösungsphase durch viele Rollenspiele mit Shaping verbessert werden. Die Situationsanalyse beinhaltet ein strukturiertes Vorgehen zum Bearbeiten interpersoneller Situationen mithilfe behavioraler und kognitiver Techniken, wie die Erarbeitung alternativer Lösungsmöglichkeiten und deren Anwendung im Rahmen von Rollenspielen.


#

Wie wirksam ist CBASP?

Als Kombinationsbehandlung

Bisher wurden wenige Studien zur Erfassung der Wirksamkeit von CBASP publiziert. In der ersten publizierten randomisiert-kontrollierten Studie mit über 600 ambulanten chronisch depressiven Patienten (Keller et al. 2000) erwies sich CBASP als 12-wöchige Therapie in Kombination mit einem Antidepressivum als wirksam: 85% sprachen auf diese Kombinationsbehandlung an, was eine sehr hohe Responserate für diese Pa­tientengruppe ist. Eine Reanalyse dieser Daten (Nemeroff et al. 2003) gibt den Hinweis, dass speziell Patienten mit frühen traumatisierenden Beziehungserfahrungen profitieren.


#

Als Augmentation

In der beschriebenen Keller Studie zeigte sich auch, dass CBASP nach Nichtansprechen auf ein Antidepressivum effektiv sein kann (Schatzberg et al. 2005). ­Kocsis und Koautoren (2009) zeigten hingegen, dass CBASP als Augmentation zu einer medikamentösen Therapie zu keiner zusätzlichen Verbesserung der depressiven Symptomatik führte. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Anzahl der CBASP-Einzelgespräche mit 12 Sitzungen relativ gering ausfiel. Entsprechend des aktuellen Forschungsstands ist bei chronisch depressiven Patienten eine höhere Anzahl von Einzelsitzungen – mindestens 18 Sitzungen (Cuijpers et al. 2010) – nötig, um optimale Effekte einer psychotherapeutischen Behandlung zu erzielen.


#

Im Vergleich mit einer anderen Psychotherapie

In einer weiteren ambulanten Pilotstudie (Schramm et al. 2011) erwies sich CBASP im Vergleich zur interpersonellen Psychotherapie (IPT) als effektiver, was für einen Vorteil dieser störungsspezifischen Therapie speziell bei chronisch erkrankten Patienten spricht.


#

Stationär

Schließlich zeigen die ersten Ergebnisse einer Pilotstudie zum multidisziplinären stationären Konzept (Brakemeier et al. 2011), dass dieses gut durchführbar ist und mit 82% Response- und 44% Remis­sionsraten auch vielversprechende Outcome-Daten aufweist. Auch die Rückfallraten (ca. 33% nach 6 Monaten) sind als relativ niedrig einzustufen, zumal die meisten Rückfälle durch kurze Wiederaufnahmen ins stationäre Konzept aufgefangen werden konnten. CBASP-Selbsthilfegruppen scheinen für ehemals stationäre Patienten besonders hilfreich zur Rückfallprophylaxe zu sein (vgl. Brakemeier & Normann 2012).


#
#
Fazit

CBASP stößt als schulenübergreifendes, störungsspezifisches Verfahren bei Psychotherapeuten aller Schulen in Deutschland auf großes Interesse. So werden seit Jahren zahlreiche Aus- und Weiterbildungsangebote durchgeführt. Insbesondere die Verknüpfung der Strategien aus beiden traditionellen Psychotherapieschulen sowie die innovative Art der Beziehungsgestaltung durch das umsichtige Selbstöffnen spricht Therapeuten und Patienten sehr an. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen und der vorliegenden empirischen Belege empfiehlt sich CBASP insbesondere bei chronisch depressiven Patienten mit einem frühen Krankheitsbeginn und frühen traumatisierenden Lebenserfahrungen. Dabei sollte die Psychotherapie bei mittelgradiger bis schwerer Ausprägung der Depressionen mit einer medikamentösen Behandlung kombiniert werden. Zudem können schwer chronisch erkrankte Patienten von dem stationären CBASP-Konzept gut profitieren, wobei eine ambulante Nachbetreuung wünschenswert ist. Die Dauer der Therapie ist auf den individuellen Patienten anzupassen, doch ist eine Langzeittherapie bei dieser Patientengruppe eher indiziert.


#
Zoom Image

Prof. Dr. rer.nat. Eva-Lotta Brakemeier, Dipl.-Psych.


Psychologische Hochschule Berlin
Am Köllnischen Park 2
10179 Berlin
e-l.brakemeier@psychologische-hochschule.de


Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt KVT, zertifizierte Therapeutin, Trainerin und Supervisorin in CBASP und interpersoneller Psychotherapie, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin, zuvor Entwicklung, Implementierung und Evaluierung des stationären CBASP-Konzepts an der Universitäts­klinik Freiburg, wissenschaftlicher Schwerpunkt: Evaluation von CBASP, frühen Traumatisierungen und Nebenwirkungen von Psychotherapien.

Zoom Image

Dr. med. Stephan Köhler


Assistenzarzt auf der Schwerpunktstation für affektive Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Campus Mitte in Berlin, aktueller Forschungsschwerpunkt: fMRT-Studien sowie klinischen Untersuchungen im Bereich affektiver Erkrankungen.

Zoom Image

Prof. Dr. med. Philipp Sterzer


Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Neurologie, Oberarzt der Schwerpunktstation für affektive Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Campus Mitte in Berlin, wissenschaftlicher Schwerpunkt: Veränderungen der Wahrnehmung im Rahmen psychischer Erkrankungen.

Interessenkonflikt:

Die korrespondierende Autorin gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Ergänzendes Material


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. rer.nat. Eva-Lotta Brakemeier, Dipl.-Psych.
Psychologische Hochschule Berlin
Am Köllnischen Park 2
10179 Berlin


Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1Der Kiesler Kreis.