Das neonatale Drogenentzugssyndrom ist definiert als eine Kombination von physiologischen
Zeichen sowie Verhaltensauffälligkeiten des Neugeborenen, die Konsequenzen einer Drogenexposition
im Mutterleib sind [5]. Die zitierte Arbeit wurde international als Grundlage zur Beurteilung der Therapienotwendigkeit
des neonatalen Drogenentzugssyndroms herangezogen und ging als „Finnegan-Score“ in
die Literatur ein. Die seinerzeit empfohlenen Therapiegrundlagen wurden in den Folgejahrzehnten
immer weiter adaptiert und mündeten in Empfehlungen, die aus der primär stationären
Therapie auch eine Öffnung in ambulante Therapieoptionen einschlossen [1]
[8].
Aus den USA wurde unter dem Aspekt der medikoökonomischen Konsequenzen eine aktuelle
Analyse publiziert, die einen signifikanten Anstieg der Rate von behandlungsbedürftigen
Neugeborenen mit neonatalem Entzugs-Syndrom von 1,2/1 000 in 2000 auf 3,4/1 000 in
2009 nachwies, der steigende Trend war statistisch signifikant. Die Autoren berichten
weiter, dass Neugeborene mit Drogenentzugssymptomatik ein erhöhtes Risiko eines gestörten
intrauterinen Wachstums und einer beeinträchtigten postnatalen respiratorischen Adaptation
zeigen. Entsprechend der Zunahme der Häufigkeit Neugeborener mit neonatalem Drogenentzugssyndrom
mit komplexeren klinischen Zeichen wurden die Kosten in dem Beobachtungszeitraum mit
einer Steigerung von rund 40 000 $ pro Fall im Jahr 2000 auf rund 53 000 $ pro Fall
im Jahr 2009 kalkuliert, wobei im Wesentlichen die Abrechnung über Medicaid – in 2009
zu rund 78% – erfolgte [15].
Neben der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung des Problems unter medikoökonomischen
Aspekten ist naturgemäß die Frage nach der optimalen Therapie für betroffene Neugeborene
ein Schwerpunkt der Forschung. Hierbei ist neben den Behandlungsdaten während der
Neonatalperiode naturgemäß die Langzeitprognose in Abhängigkeit von mütterlicher und
neonataler Therapie der Schwerpunkt von Forschungsprogrammen zum neonatalen Drogenentzugssyndrom
[3]
[11]
[12]
[17].
Sorgfältig durchgeführte Metaanalysen belegen, dass zum einen die intrauterine Wachstumsstörung
während der ersten 3 Lebensjahre aufgeholt wird, zum anderen zeigt sich bei Entwicklungstests
im Alter von 18 Monaten bis 3 Jahren durchgängig eine Einschränkung der kognitiven
Entwicklung sowie verschiedener sozialer Maturationsmarker [11]. Ein Vergleich von Literaturdaten von Neugeborenen nach prä- und postnataler Opioidexposition
mit Entzugssymptomatik im Vergleich zu pränataler Exposition gegenüber Kokain und
Crack-Substanzen zeigt nach neueren Analysen eine geringere Beeinträchtigung nach
Exposition gegenüber den letztgenannten Substanzen, was im Widerspruch zur bis dahin
geltenden wissenschaftlichen Meinung zu sehen ist [3]. Zur endgültigen Wertung sind hier zusätzliche vergleichende klinische Studien unabdingbar.
Weitere Forschungen gingen dahin, bei pränataler Exposition gegenüber Methadon im
Vergleich zu Buprenorphin Unterschiede in der neonatalen Prognose zu erarbeiten. Es
konnte übereinstimmend belegt werden, dass der Einsatz von Buprenorphin im Vergleich
zu Methadon zu geringeren postnatalen Raten und Schweregraden der neonatalen Entzugssymptomatik
führt [6].
Andere Untersuchungen adressierten die Frage, inwieweit eine offene stationäre Behandlung,
d. h. ein früher Übergang in eine ambulante Therapie betroffener Neugeborener, sowie
die Möglichkeit einer Muttermilchernährung unter neonatalem Drogenentzug und bestehender
Abhängigkeit der Mütter möglich ist.
Hierzu werden 2 aktuelle Studien in der gegenwärtigen Ausgabe der Klinischen Pädiatrie
vorgelegt, die unter anderem diese Fragen adressieren [10]
[16].
In der Kölner Studie konnte belegt werden, dass Neugeborene im sog. Rooming-in-Verfahren
im Rahmen einer Therapie der neonatalen Drogenentzugssymptomatik mit Tinctura opii
behandelt werden können und dass dies mit kürzeren Verweildauern in der Klinik einhergeht
[10]. Weiter konnte gezeigt werden, dass die kumulativen Dosen von Morphin bei Komedikation,
unter anderem mit Barbituraten und Chloralhydrat, geringer gehalten werden können
[16]. Auf Besonderheiten in der pflegerischen Versorgung unter Einschluss von NIDCAP-Elementen
[4] in der letztgenannten Arbeit ist zu achten [16].
Beide Untersuchungen führen hin zur Frage, inwieweit weitere Modifikationen unserer
Therapien in der Lage sind, die Gesamtprognose Neugeborener mit neonataler Drogenentzugssymptomatik
zu verbessern. Hier fehlt es an systematischen, klinisch-kontrollierten Studien mit
langfristiger Beobachtung der Probanden bis hin in das Schulkindesalter, um neben
der Gesamtentwicklung auch die später auftauchenden Teilleistungsschwächen und Verhaltensbesonderheiten
miterfassen zu können. Dies gilt für in der Literatur auftauchende Empfehlungen wie
Stillen beim gleichzeitigen Drogenentzug von Müttern unter Methadon oder Buprenorphin
[14] und für die Einführung neuerer Substanzen in der medikamentösen Therapie des Drogenentzugs,
wie z. B. Clonidin. Weitere Forschungsschwerpunkte sollten hierbei auf der Basis
unter anderem von familienzentrierten Programmen, ggf. ergänzt durch eine häuslich
aufsuchende Nachsorge, liegen [9].
Ähnliche Programme wurden für Kinder mit fetalem Alkoholsyndrom [2] oder in Nachsorgeuntersuchungen bei sehr kleinen Frühgeborenen etabliert [13].
Somit stellt die Problematik des neonatalen Drogenentzugssyndroms eine unverändert
dringende medizinische sowie gesellschaftliche Aufgabe dar, bei der es notwendig ist,
prospektive Untersuchungen in der perinatalen Periode mit einer langfristigen Analyse
der Entwicklung betroffener Kinder zu kombinieren, um einerseits bessere Konzepte
für die Akuttherapie zu entwickeln, andererseits deren Wirksamkeit im Rahmen einer
langfristigen Nachbeobachtung zu belegen [7].