Vom Umgang mit medizinischen Wachsmoulagen
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt die medizinische Wachsmoulage als das
ideale dreidimensionale Lehrmittel in der Dermatologie. In den letzten Jahren ist
der historische Wert dieser außergewöhnlichen Objekte erkannt worden, und zunehmend
wird auch wieder ein Einsatz von gut erhaltenen Moulagen in der Lehre angestrebt.
Das steigende Interesse widerspiegelt sich auch in der Gründung eines deutschsprachigen
Arbeitskreises Moulagen im März 2013 in Berlin mit Teilnehmern aus Bern, Bonn, Erlangen,
Freiburg i. Br., Göttingen, Hamburg, Ingolstadt und Zürich [1 ].
Bereits seit 20 Jahren werden im Zürcher Museum Moulagen mit besonderer historischer
Bedeutung gezeigt und thematisch aufgearbeitete Sonderausstellungen präsentiert. Ein
großer Teil der Dauerausstellung ist aber der modernen Dermatologie gewidmet und nach
dem Lernzielkatalog für das Medizinstudium aufgebaut. Er dient den Studierenden als
Dermatologische Lehrsammlung und Repetitorium und ermöglicht auch einem fachfremden
Museumspublikum einen direkten Blick auf Hautprobleme, die aus den Medien bekannt
sind oder aus persönlicher Betroffenheit interessieren. Die Einführungsvorlesung Dermatologie
im Medizinstudium findet im Museum statt und verankert die Moulagen als Lehrmittel
im universitären Curriculum [2 ].
Mit dieser langen Erfahrung als Museum und Lehrsammlung hat das Zürcher Moulagenmuseum
unterdessen eine Vorreiterrolle und Beratungsfunktion für andere Sammlungen übernommen.
Moulagen sind über einen Gipsabdruck hergestellte, bis ins kleinste Detail realistische
Nachbildungen ausgewählter Areale erkrankter Körperoberfläche. Sie bestehen aus einem
Gemisch von Wachs, Kalziumkarbonat und manchmal auch Harzen. In Zürich wurde und wird
immer noch für die Herstellung gebleichtes Bienenwachs und nur selten Dammarharz verwendet.
Die Wachsobjekte sind einmalige medizinhistorische Quellen: Auf keine andere Art sind
uns Abbildungen von historischen Patienten so lebensecht erhalten geblieben. Doch
wie alle historischen Gegenstände haben die Objekte selbst auch eine Geschichte, die
im schlechtesten Fall zur Zerstörung, selten zur unveränderten Konservierung oder,
am häufigsten, zum Erhalt mit wiederum historisch interessanten Gebrauchtspuren geführt
hat. Äußere physikalische Einflüsse wie Licht, Wärme, Feuchtigkeit und Erschütterung
führen im Laufe der Zeit zu Beschädigungen der Moulage. Eine professionelle Konservierung
und bei Bedarf auch Restaurierung basiert seit der Charta von Venedig von 1964 auf
einer möglichst lückenlosen Dokumentation und wird nach dem Grundsatz durchgeführt,
dass alle Eingriffe erkennbar und reversibel sein müssen [3 ]. Unprofessionell durchgeführte Veränderungen, wie z. B. eine Auffrischung der Farben
nach der gerade geltenden Vorstellungen einer „gut“ aussehenden Moulage, Austauschen
der vergilbten Stoffumrandung oder des Unterlagsbrettes, Anpassung der Beschriftungen
an die zeitgenössische Lehre und Terminologie oder andere Restaurierungsversuche,
die häufig ohne genaue Dokumentation durchgeführt werden, verändern die Wachsmodelle
irreversibel und können ihr ursprüngliches Aussehen sowie wertvolle Spuren der Objektgeschichte
für immer verwischen.
Mit der Verwendung und Wertschätzung der Wachsmoulagen im Laufe der Zeit ist auch
ein entsprechender Umgang mit den Objekten verbunden. Je nach Hintergrund ihrer Herstellung
wurden die Objekte knapp dokumentiert und minimal mit einer Diagnose versehen, oder
zum Teil – wenn Moulagen zur Dokumentation von Forschungsergebnissen hergestellt wurden
– als Abbildungen mit teils detaillierten Fallgeschichten publiziert.
Auf den Unterlagsbrettern der in der Dermatologischen Klinik des Kantonsspitals Zürich
hergestellten Moulagen wurden kleine Plaketten aufgenagelt mit einer Identifikationsnummer,
dem Namen der Moulagenbildnerin und einer Diagnose. Vermutlich wurden die Beschriftungen
in den 1950er-Jahren erneuert. Im Archiv befinden sich Bücher, in denen zu jeder Moulagennummer
der Namen des abgebildeten Patienten, die Diagnose und das Herstellungsjahr der Moulage
aufgelistet sind. In Zürich sind die Krankenakten der in den Moulagen abgebildeten
Patienten leider unterdessen vernichtet worden.
Wie an den meisten Orten, so sind auch die ersten Jahrzehnte der Moulagenherstellung
in Zürich sehr schlecht dokumentiert. So konnte z. B. erst vor zehn Jahren durch aufwendige
Recherchen gezeigt werden, dass sowohl die über 500 chirurgischen als auch mindestens
300 der 1200 dermatologischen Wachsmoulagen der Zürcher Sammlung nicht für die Lehre,
sondern im Rahmen der klinischen Forschung hergestellt wurden [4 ]. In vielen Fällen waren es kleine Details an den Objekten, die zusammen mit zeitgenössischen,
in Fachzeitschriften und Kongressberichten publizierten Kasuistiken die Zuordnung
ermöglichte. Wie wichtig solche minimalen Hinweise sind, die sehr rasch verloren gehen
können, illustriert das Beispiel der Moulage Nr. 189 mit ihrer für eine lange Zeit
verborgen gebliebenen Geschichte.
Die Moulage Nr. 189 und die Geschichte der Martha H.
Unter den Moulagen, die als Lehrbeispiele für Pilzerkrankungen der Haut im Zürcher
Moulagenmuseum ausgestellt wurden, befand sich auch die Moulage Nr. 189. Sie zeigt
drei Wachsmodelle von Zehen mit interdigitaler Schuppung, Rötung und angedeuteten
Bläschen, das klinische Bild einer Interdigitalmykose ([Abb. 1 ]). Ein häufiges Krankheitsbild, das den Studierenden der Medizin selbstverständlich
gut bekannt sein sollte. Allerdings macht die Beschriftung stutzig, die zwar erneuert,
bei der aber offensichtlich die ursprüngliche Diagnose übernommen wurde. Auf einer
mit Nägeln am Brett angemachten Plakette steht: „Experimentelle Fussmykose (Epidermophytie,
1. Infektion)“. Dass ein heute so häufiges Krankheitsbild experimentell provoziert
und dann als Moulage dokumentiert wurde, regt zu weiteren Nachforschungen an.
Abb. 1 Wachsmoulage Nr. 189, hergestellt 1929 von Lotte Volger in der Dermatologischen Klinik
des Kantonsspitals Zürich; Moulagenmuseum Zürich.
Bei der Recherche wird rasch klar, dass die Interdigitalmykose zum Zeitpunkt der Moulagenherstellung
noch keineswegs ein so häufiges und allgemein bekanntes Phänomen war, wie wir es heute
gewohnt sind. Zudem wurde in dieser Zeit in Zürich unter der Leitung von Bruno Bloch
intensiv an immunologischen Phänomenen bei Pilzinfektionen der Haut geforscht [5 ]. Aus den Listen der Bücher im Archiv des Moulagenmuseums lässt sich herauslesen,
dass mit dieser Moulage im Jahr 1929 die Zehen der Patientin Marta H. abgebildet wurden.
Von der gleichen Patientin wurden noch drei weitere Moulagen (Nr. 190, 191 und 192)
hergestellt, welche ekzematöse Veränderungen an den Fingern und Zehen zeigen. Die
ursprünglichen Krankenakten sind auch in diesem Fall nicht mehr erhalten.
Da es sich aber offenbar um ein medizinisches Experiment gehandelt hatte, wurden alle
Publikationen aus der Dermatologischen Klinik nach einer passenden Fallgeschichte
durchsucht. Tatsächlich konnten zwei Artikel von Werner Jadassohn und Samuel M. Peck
aus dem Jahr 1929 und 1930 gefunden werden, in welchen die Experimente mit Marta H.
beschrieben und mit einer Schwarzweiß-Fotografie illustriert sind ([Abb. 2 ]) [6 ]
[7 ].
Abb. 2 Fotografie der Fußmykose von Martha H. aus der Publikation von S. M. Peck [7 ].
Mit ihrem Einverständnis wurde der 17-jährigen Patientin Pilzmaterial, das von einem
anderen Patienten gewonnen worden war, zwischen den Zehen über drei Tage unter einem
Verband inokuliert. Mit diesem und weiteren für die Patientin beschwerlichen Experimenten
und Testungen über den Zeitraum von zwei Monaten gelang es den Autoren schließlich
nachzuweisen, dass Marta H. nach einer Sensibilisierungsphase und bei Wiederansteckung
mit Handekzemen auf die Fußmykose reagierte. Marta H. war zu diesem Zeitpunkt wegen
einer Gonorrhöe über mehrere Wochen in der Dermatologischen Klinik hospitalisiert,
und es ist anzunehmen, dass sie als „gefallenes Mädchen“ vielleicht sogar gegen ihren
Willen an einem Fürsorgeprogramm teilnehmen musste. Für solche langfristigen Experimente
war sie natürlich eine geeignete Probandin.
Historisches Dokument oder Lehrmittel?
Nur Dank der übernommenen ursprünglichen Beschriftung konnte die als Lehrmoulage eingeordnete
Moulage Nr. 189 in Zusammenhang mit dem eindrücklichen Schicksal der jungen geschlechtskranken
Patientin Marta H. aus dem Jahr 1929 gebracht werden. Wäre das für die Lehre unnötige
oder sogar störende Schildchen mit der ursprünglichen Diagnose „experimentelle Fussmykose“
im Laufe der Zeit entfernt worden, ist davon auszugehen, dass die Hintergründe für
die Entstehung dieser Moulage für immer verborgen geblieben wären. Bei zahlreichen
anderen Moulagen aus der Zürcher Sammlung konnten in ähnlicher Weise die verborgenen
Patientengeschichten wieder hervorgeholt werden [4 ].
Das Beispiel macht deutlich, wie wichtig es ist, die medizin- und kulturhistorisch
wertvollen Objekte professionell und mit größter Vorsicht zu konservieren. Noch vorhandene
Dokumente und Archivalien sollten bewahrt und Gebrauchtspuren dokumentiert werden.
Restaurierungen werden idealerweise nur in dringenden Fällen und unter Einbezug von
Fachpersonen aus den Bereichen der Wachskonservierung, Medizingeschichte und Dermatologie
so zurückhaltend wie möglich gemacht.
Es ist für die Wertschätzung der historischen Wachsmoulagen sicher ein Vorteil, wenn
sie heute nicht nur als historische Quellen wahrgenommen, sondern auch gleichzeitig
immer häufiger wieder in der Lehre eingesetzt werden. Es besteht aber ein konservatorisches
Spannungsfeld zwischen der Funktion als historischem Dokument und dem erneuten Gebrauch
als Lehrmoulage, in welchem für die optimale Konservierung und bei der Frage nach
Restaurierung Kompromisse erarbeitet werden müssen. Vor allem bei leicht beschädigten
Moulagen oder bei Beschriftungen, die aus heutiger Sicht nicht mehr sinnvoll scheinen,
stellt sich die Frage, ob Restaurierung und Anpassung sinnvoll sind. Muss bei eingeschränkter
Lesbarkeit auf den Einsatz in der Lehre verzichtet werden oder ist auf Kosten der
Objektgeschichte eine sanfte professionelle Restaurierung erlaubt? Auch um Lösungshilfen
für solche Fragen auszuarbeiten, die betroffenen Institutionen und Personen besser
zu vernetzen und mit kompetenten Fachpersonen zusammenzubringen wurde dieses Jahr
der erwähnte Arbeitskreis Moulagen gegründet, dem alle Interessierten beitreten können.
In Dresden und Zürich wurden in interdisziplinären Projekten erste Leitlinien und
Hilfsmittel für die Konservierung und Restaurierung von Wachsmoulagen erarbeitet und
stehen auf Anfrage oder teilweise auch schon direkt online zur Verfügung [8 ].