„…Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ Rudolf Virchow (1848)
Im Rahmen der weltweiten Finanzkrise (in den Jahren 2008 ff.) wurden harte ökonomische
Entscheidungen gegenüber Ländern bzw. den dort Lebenden getroffen, die oft nicht dem
medizinischen Grundsatz „primum non nocere“ (zuerst einmal nicht schaden) folgten.
In einer systematischen Übersichtsarbeit beschreiben Suhrcke et. al. die Folgen von
ökonomischen Krisen für die Verbreitung übertragbarer Krankheiten [1]. Sie zeigen, dass den meisten Studien zufolge (30 von 37) die Zahl der Infektionskrankheiten
im Rahmen der Krise angestiegen sind. Als Erklärung legten sie das SIR-Model (susceptible,
infectious, recovered) zugrunde. Dem zufolge sind die Menschen auf Grund von eingeschränkter
Nahrung, einem angegriffenem Immunsystem und schlechter Immunisierung im Zeitraum
der Krise empfänglicher für Infektionskrankheiten. Die Infektionsrate steigt direkt
z. B. in Folge überfüllter Gefängnisse, der Zunahme von Hochrisikopopulationen wie
z. B. Obdachlosen oder schlechterer Wohnbedingungen, aber auch indirekt in Folge des
Zusammenbruchs der Infrastruktur (z. B. Kurzschlüsse zwischen Abwasser und Wasserversorgung)
oder des Anstiegs von Vektoren. Gleichzeitig ist während der Krise die Therapie eingeschränkt,
da die Anzahl der Ärzte sinkt und Medikamente nicht mehr erschwinglich sind.
Hinweise auf Zusammenhänge zwischen der krisenhaften Entwicklung und der Zunahme von
Infektionskrankheiten lassen sich auch am Beispiel von Griechenland beobachten [2]. Griechenland hatte in der Pandemie A (H1N1) 2009/10 eine der höchsten Mortalitätsraten
in Europa. In den Jahren 2010 und 2011 gab es erstmals einen West Nile-Virus-Ausbruch
in Griechenland mit zahlreichen Todesfällen. Auch kam es von 2009 bis 2011 zu einem
Malaria-Plasmodium-vivax-Ausbruch. Ursache für diese Ausbrüche war offenbar das Zurückfahren
der Public Health Maßnahmen im Bereich der Mückenbekämpfung. Zusätzlich kam es im
Jahr 2011 zu einem 15-fachen Anstieg von neu diagnostizierten HIV Fällen unter i. v.-Drogenabhängigen.
Zum Weg der Austeritätspolitik wie in Griechenland existieren Alternativen. So haben
Studien gezeigt, dass gerade auch im Bereich Gesundheit Investitionen während der
Krise sich mittel- und langfristig positiv auswirken können [3]
[4]
[5]. Island hat sich nicht die Strukturpolitik aufzwingen lassen und steht jetzt gesundheitspolitisch
besser da als Griechenland, dem harte Maßnahmen aufoktroyiert wurden und das diese
auch umgesetzt hat.
Aber auch in der Abwesenheit von ökonomischen Krisen sind sozial benachteiligte Gruppen
vermehrt von Infektionskrankheiten betroffen. In einem Review von Semenza et al. konnte
dies für alle EU Mitgliedstaaten gezeigt werden [6]. So ist z. B. die Wahrscheinlichkeit in Berlin bei Kindern an Rotaviren zu erkranken,
in einer Umgebung mit einer höheren Anzahl an Arbeitslosen, größer als mit weniger
Arbeitslosen [7]. Allerdings ist es oft schwierig, patientenbezogene Daten zum sozialen Status zu
erheben und daher werden meist nur ökologische Studien durchgeführt, so dass ein direkter
Rückschluss vom Sozialstatus auf Infektionskrankheit offen bleibt.
Zum Zusammenhang von Sozialstatus und nosokomialen Infektionen existieren nur sehr
wenige Studien. In einer ökologischen Studie zu postoperativen Wundinfektionen mit
MRSA konnte gezeigt werden, dass Patienten aus den am stärksten sozial benachteiligten
Regionen des Vereinigten Königreichs eine siebenfach höhere Infektionsrate haben als
Patienten aus den am wenigsten benachteiligten Regionen [8]. In Deutschland existieren dem gegenüber noch keine Studien zum Zusammenhang zwischen
Sozialstatus und nosokomialen Infektionen.
Im Oktober fand an der europäischen Seuchenbekämpfungsbehörde – European Centre for
Disease Prevention and Control (ECDC) – ein Workshop zum Thema „Health inequalities,
financial crisis, and infectious disease control in the EU“ (Gesundheitliche Ungleichheit,
Finanzkrise und Prävention von Infektionskrankheiten) statt. In den Diskussionen wurden
die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit wie auch von ökonomischen Krisen auf Infektionskrankheiten
thematisiert. Folgende Vorschläge für die Mitgliedsländer wurden in den Raum gestellt:
-
In jedem Studiendesign soll die Frage nach sozialen Unterschieden genauso adressiert
werden, wie dies jetzt für Geschlechterunterschiede der Fall ist.
-
Jede Public Health Maßnahme, die neu eingeführt wird, muss daraufhin untersucht werden,
ob sie alle sozialen Milieus bzw. Schichten erreicht – oder ob sie zur Vergrößerung
der Gesundheitsunterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen mit einem hohem und einem
niedrigem sozialen Status führt, da v. a. die Mittel- und Oberschicht von der Maßnahme
profitiert.
-
Es gilt, alle Infektionskrankheiten, insbesondere auch die von Flüchtlingen, zu behandeln.
Die Schlussfolgerung erscheint eindeutig, Fragen sozialer Ungleichheit dürfen von
einer aktuellen Public Health Politik nicht mehr vernachlässigt werden. Ein Umdenken
ist vonnöten.