Aktuelle Urol 2013; 44(06): 430-431
DOI: 10.1055/s-0033-1363050
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kontinente Harnableitung – Ureterosigmoidostomie: 50 Jahre Follow-up

Contributor(s):
Anna Winters

Urology 2013;
189: 1870-1875
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Publication History

Publication Date:
26 November 2013 (online)

 
 

Die Ureterosigmoidostomie (USS) im Kindesalter wird aufgrund ihrer hohen Komplikationsrate sowie des hohen Risikos der malignen Entartung nur noch selten durchgeführt. Eine schwedische Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass im Laufe von 50 Jahren postoperativ 7 von 25 Patienten ein invasives kolorektales Adenokarzinom entwickelt haben.
Urology 2013; 189: 1870–1875

mit Kommentar

Die Autoren evaluierten die Krankenakten von 25 Patienten, die zwischen 1944 und 1961 im Alter von durchschnittlich 3 Jahren eine USS erhalten hatten. Der häufigste Grund für den Eingriff war ein Blasenekstrophie- Epispadie-Komplex. Ergänzend zur Krankenakte führten die Autoren persönliche Telefoninterviews und bewerteten die Histologie des Kolorektaltrakts.

Eine Patientin, die kurz nach der Operation verstarb, wurde von der Studie ausgeschlossen. Von den 24 verbliebenen Patienten lebten zum Untersuchungsbeginn im Jahr 2010 noch 17 im Alter von 48–67 Jahren. Nur 2 Patienten hatten somit weiterhin die USS (55 und 56 Jahre postoperativ), waren zum Zeitpunkt des Interviews zufrieden und lehnten eine erneute Operation ab. Einer der beiden Patienten litt unter Pyelonephritis-Episoden.

Die restlichen 15 Patienten waren zwischenzeitlich einer Konversionsoperation unterzogen worden. Etwa die Hälfte (n = 9) gab an, dass die Ableitung vor Konversion gut oder mäßig gut funktioniert hatte, die verbliebenen beklagten den losen Stuhlgang und Pyelonephritiden.

Revision nach 30 Jahren

Die Mehrheit der Patienten (n = 20) unterzog sich durchschnittlich 30 Jahre nach der USS einer Konversionsoperation. Die Gründe waren Karzinome oder die Sorge eines zu entwickeln (n = 9) sowie die Verschlechterung des oberen Harntrakts (n = 6). Bei 3 Patienten wurde im Rahmen der Konversion eine unilaterale Nephrektomie durchgeführt, bei 4 Patienten bestand zum Zeitpunkt des Follow-up eine Niereninsuffizienz, und 2 Patienten waren dialysepflichtig.


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Hohes Karzinomrisiko

Invasive kolorektale Adenokarzinome (CRAC) entwickelten sich bei 7 Patienten durchschnittlich 38 Jahre nach Primäroperation und waren mehrheitlich wenig differenziert (n = 6). Von diesen 7 Patienten verstarben 5 an der Tumorerkrankung. Zum Zeitpunkt der Diagnose des invasiven CRAC waren die Patienten 23–55 Jahre alt. Bei 3 dieser Patienten war zuvor eine Konversionsoperation durchgeführt worden, im Rahmen derer die ureterokolische Anastomose jedoch nicht reseziert worden war. Bei einem Patienten konnte im Alter von 22 Jahren ein Carcinoma in situ mittels Polypektomie entfernt werden.

Fazit

Von 25 Kindern, die seit 1944 eine USS erhalten hatten, lebten 50 Jahre später noch 17. In fast allen Fällen war im Laufe des Lebens eine Konversionsoperation erfolgt, wobei die ureterokolische Anastomose nicht immer entfernt wurde, was die wahrscheinliche Ursache der späteren Entartung sein kann. Das Risiko, ein kolorektales Adenokarzinom zu entwickeln, war im Vergleich zur restlichen schwedischen Bevölkerung 42-fach erhöht. Dabei sei die Rate an wenig differenzierten Tumoren extrem hoch, so die Autoren.


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Kommentar

Karzinomrisiko nach 20 Jahren zu hoch

Seit den 60er- und 70er-Jahren ist die Entstehung von Adenokarzinomen an der ureterointestinalen Anastomose eine anerkannte Komplikation nach Ureterosigmoidostomie. Nach der Häufung von Kasuistiken über Tumoren auch in anderen Formen der Harnableitung unter Verwendung von Darm in den 90er-Jahren stellte sich die Frage, ob zumindest alle kontinenten Formen der Harnableitung ein ähnliches Karzinomrisiko haben [ 1 ]. In der 2011 publizierten Multicenterstudie konnte diese Frage zumindest weitgehend beantwortet werden [ 2 ]. Von 620 Patienten mit Ureterosigmoidostomie entwickelten 16 ein Adenokarzinom an der Ureterimplantationsstelle nach median 26 (4–38) Jahren, was einer Häufigkeit von 2,58 % entspricht und signifikant höher ist als z. B. 2 Tumoren bei 4190 Patienten mit Ileum-Neoblasen (0,05 % Tumorhäufigkeit).

In der vorliegenden Arbeit nun wird die höchste Tumorprävalenz nach Ureterosigmoidostomie beschrieben, die jemals publiziert wurde, d. h. 8 von 24 Patienten entwickelten ein Adenokarzinom, einer ein Karzinoid nach einer mittleren Latenzzeit von 38 (23–55) Jahren nach Ureterosigmoidostomie. Der Grund dürfte in der einmalig langen Beobachtungszeit von 49–66 Jahren der mit einem Durchschnittsalter von 3 Jahren wegen Blasenextrophie oder Spina bifida operierten Patienten liegen. Bestätigt wird durch die vorliegende Arbeit die bekannte Tatsache, dass mit einer Adenokarzinomentstehung nach Ureterosigmoidostomie selten (aber nicht nie!) vor dem 20. postoperativen Jahr gerechnet werden muss. Wenngleich der Vergleich des Tumorrisikos nach Ureterosigmoidostomie mit Kolonkarzinomstatistiken der Normalpopulation immer schwierig ist – in fast allen Arbeiten [ 3 ], [ 4 ] und auch in der vorliegenden wird die Tumorprävalenz mit der Tumorinzidenz verwechselt und dann fälschlicherweise die Tumorhäufigkeit nach Ureterosigmoidostomie mit der Tumorinzidenz in Krebstatistiken der Allgemeinpopulation verglichen - so ist die Hochrechnung in der vorliegenden Arbeit eindrucksvoll. Unter Berücksichtigung der langen Beobachtungszeit ermitteln die Autoren ein 50 %iges Risiko eines kolorektalen Karzinoms innerhalb von 75 Jahren nach Ureterosigmoidostomie gegenüber einem nur 2 %igen Risiko vor dem 75. Lebensjahr in der schwedischen Allgemeinbevölkerung.

Bei 3 der Patienten in dem vorliegenden Kollektiv entstanden die Adenokarzinome 1, 21 und 25 Jahre nach Umwandlung einer Ureterosigmoidostomie unter Belassung der Ureterostien, was die Beobachtung in früheren Studien [ 5 ] unterstreicht. Unbedingt sind insofern bei Umwandlung von Ureterosigmoideostomien in andere Formen der Harnableitung die Ureterostien mit zu entfernen.

Der dritte wichtige Punkt der vorliegenden Arbeit ist, dass mehr als die Hälfte der Patienten mit Ureterosigmoidostomie primär zufrieden waren, dass jedoch nach der langen Beobachtungszeit nur 2 Patienten mit intakter Ureterosigmoidostomie leben und 20 zwischenzeitlich eine Undiversion bekommen haben – 9 wegen Tumoren und 6 wegen Verschlechterung der Nierenfunktion, 3 hatten bereits vorher eine unilaterale Nephrektomie hinter sich.

Die Schlussfolgerung der Autoren ist, dass die Ureterosigmoidostomie als temporäre Lösung bei Kindern mit der Notwendigkeit einer Harnableitung betrachtet und nach 15 bis spätestens 20 Jahren umgewandelt werden muss. Diese Tatsache sowie die doch nicht unerhebliche Komplikationsrate unterstreichen die mittlerweile international üblicheren Konzepte des primären Blasenverschlusses bei Blasenekstrophie. Diese Schlussfolgerung muss meines Erachtens dahingehend erweitert werden, dass auch bei Blasenkarzinompatienten die Indikation zur Ureterosigmoidostomie bzw. Mainz-Pouch II nicht nur vor dem Hintergrund des Karzinomrisikos, sondern auch vor dem Hintergrund der funktionellen Probleme kritisch gestellt werden muss, wenngleich die funktionellen Ergebnisse nach Mainz-Pouch II mit submuköser Ureterimplantation mit den vorliegenden Techniken nach Coffey bzw. Nesbit nicht zu vergleichen sind. Das Karzinomrisiko auf alle Fälle scheint nach Ureterosigmoidostomie mit zunehmender Verlaufsbeobachtungszeit in einem Maße zuzunehmen, dass auf die Ureterosigmoidostomie als Form der Harnableitung bei Vorliegen von Alternativen verzichtet werden sollte, sofern mit einer mehr als 15-jährigen Lebenserwartung gerechnet werden kann.

Prof. Tilman Kälble, Fulda


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Prof. Tilman Kälble


ist Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie des Klinikums Fulda

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