Einführung
Wenn es um die Vergütung in der vertragsärztlichen Versorgung geht, dann stoßen 2
Interessenlagen aufeinander, die nicht mehr zu vereinbaren sind. Während der niedergelassene,
vertragsärztlich tätige Radiologe hohe Investitionen für seine Praxis zu tätigen hat
und ein berechtigtes Interesse an einer sicheren Prognose der zukünftigen Einnahme
wünscht und aus Sicht einer finanzierenden Bank benötigt, verändern der Gesetzgeber,
der Bewertungsausschuss und die Kassenärztlichen Vereinigungen in immer kürzen Abständen
die Honorarverteilung bis hin zur Honorarsystematik, um die Vergütungsvorgaben im
Gesundheitswesen nicht besser, sondern allenfalls restriktiver zu gestalten. Dies
hat zur Folge, dass in bestimmten Bereichen die wirtschaftliche Planbarkeit für radiologische
Praxen, insbesondere für den wirtschaftlichen Einsatz von Großgeräten nicht mehr gegeben
ist. In seiner Entscheidung vom 17.07.2013 hat das Bundessozialgericht (Az.: B 6 KA
44/12 R) über mehrere Rechtsfragen entschieden, die die Wirtschaftlichkeit einer radiologischen,
vertragsärztlichen Praxis mehr als infrage stellen. Ein Fortbestand der honorarverteilungsrechtlichen
Regelungen und dieser Rechtsprechung gefährdet die Sicherstellung der vertragsärztlichen
Versorgung durch Radiologen.
Sachverhalt
Die Klägerin in dem Rechtsstreit, der dem BSG zur Entscheidung vorlag, war eine Berufsausübungsgemeinschaft
(BAG) aus Fachärzten für Radiologie. Die Praxis war mit einem Computertomografen (CT)
und einem Magnetresonanztomografen (MRT) ausgestattet. Die BAG war seit 2004 vertragsärztlich
tätig und bestand aus 2 Radiologen. Anfang 2008 trat eine weitere Radiologin als Partnerin
in die BAG ein. Sie war bereits seit dem Jahre 2005 zur vertragsärztlichen Versorgung
zugelassen und zuvor in einer Einzelpraxis tätig gewesen.
Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung wies der BAG für das Quartal III/2009 ein
Regelleistungsvolumen (RLV) von 3700,09 € zu. Dem lag die Multiplikation der RLV-relevanten
Fallzahl aus dem Quartal III/2008–90 Behandlungsfälle – mit dem arztgruppenspezifischen
Fallwert zugrunde, zuzüglich eines 10%igen BAG-Aufschlags. Später korrigierte die
Kassenärztliche Vereinigung die Zuweisung auf ein RLV in Höhe von 5860,69 €. Das ausgezahlte
Honorar für das Quartal III/2009 belief sich auf 9244,12 €; der Berechnung lag die
vorjährige Zahl von 90 Fällen zugrunde; die tatsächliche Fallzahl der BAG im Quartal
III/2009 belief sich auf 371 Behandlungsfälle. Die BAG war mit dieser Vergütung unzufrieden
und klagte bis zum BSG. Nach einem zunächst teilweisen Erfolg der Klage vor dem Hessischen
Landessozialgericht blieb die Klage am Ende vor dem BSG erfolglos.
Regelungen zur Honorarverteilung nach § 87b SGB V
Regelungen zur Honorarverteilung nach § 87b SGB V
Nach Auffassung des BSG hatte der Bewertungsausschuss nach § 87b Abs. 4 Sätze 1 und
2 SGB V das Verfahren zur Berechnung und zur Anpassung der RLV zu bestimmen. Nach
dem Scheitern einer Einigung im Bewertungsausschuss schuf der erweiterte Bewertungsausschuss
(§ 87 Abs. 4 SGB V) durch Beschluss vom 27./28.08.2008 im Teil F Nr 3.2.1, 3.4 und
3.5 sog. Basisregelungen: Diese sahen vor, dass für die Bemessung des RLV die Fallzahl
im Vorjahresquartal maßgebend war (Nr. 3.2.1 Satz 2) und dass Ausnahmen hiervon bei
Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geregelt werden können (Nr 3.4). Ferner war geregelt,
dass die Kassenärztlichen Vereinigungen zusammen mit den Krankenkassen im Gesamtvertrag
ergänzende Regelungen für Neuzulassungen und Kooperationsumwandlungen „zur Sicherung
einer angemessenen Vergütung“ vertraglich beschließen können. Die Partner der Gesamtverträge
im Bezirk der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung Hessen konzentrierten sich bei
der Ausformung des Honorarverteilungsvertrages darauf, die hier relevanten zwingenden
bundesgesetzlichen Regelungen zu wiederholen. Sie trafen nur wenige ergänzende Regelungen,
die speziell auf Aufbau- und / oder sonstige unterdurchschnittlich abrechnende Praxen
ausgerichtet waren.
Wachstumsmöglichkeiten unterdurchschnittlich abrechnender Praxen
Wachstumsmöglichkeiten unterdurchschnittlich abrechnender Praxen
In seinem Urteil musste sich das BSG erneut mit den Wachstumsmöglichkeiten einer unterdurchschnittlich
abrechnenden Praxis auseinandersetzen. Dabei führt das BSG in ständiger Rechtsprechung
aus, dass umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben
müssen, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen (stRspr,
zusammenfassend BSG SozR 4–2500 § 85 Nr 45 RdNr. 23–33 und Nr. 50 RdNr. 14–16, jeweils
mwN; BSG vom 05.06.2013, Az.: B 6 KA 32/12 R). Dem Vertragsarzt müsse – wegen seines
Rechts auf berufliche Entfaltung unter Berücksichtigung der sog Honorarverteilungsgerechtigkeit
– die Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch
durch eine bessere Organisation seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen
und so legitimerweise seine Position im Wettbewerb mit den Berufskollegen zu verbessern.
Daher sei allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen die Möglichkeit einzuräumen,
durch Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe aufzuschließen
und damit ihre Praxis zu einer mit typischen Umsätzen auszubauen (stRspr, z. B. BSG
SozR 4–2500 § 85 Nr. 50 Rd-Nr. 14; BSG vom 05.06.2013, Az. B 6 KA 32/12 R).
In zeitlicher Hinsicht hat das BSG diese Vorgabe dahingehend konkretisiert, dass Praxen
in der Aufbauphase – die nach der Rechtsprechung von den Kassenärztlichen Vereinigungen
auf einen Zeitraum von 3, 4 oder 5 Jahren bemessen werden kann – die Steigerung ihres
Honorars auf den Durchschnittsumsatz sofort möglich sein muss, während dies anderen,
noch nach der Aufbauphase unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen jedenfalls innerhalb
von 5 Jahren ermöglicht werden muss (BSG SozR 4–2500 § 85 Nr 50 RdNr 15 mwN). Die
Bemessung des Zeitraums der Aufbauphase erfolgt im Honorarverteilungsvertrag durch
dessen Vertragspartner bzw. in der Satzung über die Honorarverteilung (heute: Honorarverteilungsmaßstab)
durch die Kassenärztliche Vereinigung.
Die dargestellten Grundsätze hatten auch im Zeitraum 2009–2011, in dem die Honorarverteilung
durch die Regelungen des § 87b SGB V iVm den Vorgaben des Bewertungsausschusses geprägt
war, Geltung. Dies folge, so das BSG, insbesondere daraus, dass sich der sog. Wachstumsanspruch
für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen – vor allem – auf den Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit
und damit auf Artikel 3 Abs. 1 (Grundrecht auf allgemeine Gleichbehandlung) und 12
Abs. 1 GG (Grundrecht auf Schutz der Berufsausübungsfreiheit) stütze. Dadurch komme
ihm sowohl gegenüber Landes- als auch gegenüber Bundesrecht Geltungskraft zu, sodass
er auch gegenüber der Rechtssetzung des Bewertungsausschusses Wirkung entfalte und
bei der Auslegung der von diesem geschaffenen Rechtsnormen zu beachten sei. Dieses
Ergebnis stimme auch mit der Aussage im Urteil des BSG vom 03.02.2010 (SozR 4–2500
§ 85 Nr 50) überein, dass Beschlüsse des Bewertungsausschusses für sich genommen keine
Benachteiligung von unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen bzw. von Aufbaupraxen
rechtfertigen könnten.
Voraussetzungen einer „Aufbaupraxis“
Voraussetzungen einer „Aufbaupraxis“
In dem Ausgangsfall stand die Frage zur Entscheidung an, ob durch die Aufnahme der
Partnerin in die BAG eine Aufbaupraxis entstanden war oder nicht. Im Ergebnis lehnt
das BSG dies zulasten der klagenden BAG ab.
Die genaue Bestimmung des Zeitraums des Aufbaus einer Praxis, bei der es sich um eine
Erstzulassung – sog. Anfängerpraxis – oder um eine Neuzulassung nach vorheriger vertragsärztlicher
Tätigkeit in einem anderen Planungsbereich handeln könne, sei der Regelung im Honorarverteilungsmaßstab
der Kassenärztlichen Vereinigung vorbehalten. Es könne festgelegt werden, ob der Anspruch
auf sofortige Honorarsteigerung bis zum Durchschnittsumsatz der Arztgruppe für einen
Zeitraum von 3, 4 oder 5 Jahren bestehen solle.
Der Eintritt eines weiteren Arztes in eine BAG stellt nach Ansicht des BSG keine Neuaufnahme
vertragsärztlicher Tätigkeit dar. Bei der Neuformierung einer BAG durch Austritt oder
Neueintritt eines Partners geht das BSG, im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
davon aus, dass die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die Partnerschaftsgesellschaft
und gleichermaßen auch die BAG unverändert fortbestehen (BSG SozR 4–1500 § 141 Nr.
1 RdNr. 17; Urteile vom 17.10.2012, Az.: B 6 KA 39/11 R, B 6 KA 41/11 R, B 6 KA 42/11
R und B 6 KA 44/11 R; entsprechend BGH, Beschluss vom 02.12.2010, Az.: V ZB 84/10).
Dies gelte beim Eintritt eines neuen Partners unabhängig davon, wie lange dieser schon
praktiziert habe. Eine BAG könne sich nicht durch Aufnahme eines jungen Partners „verjüngen“
und so die Eigenschaft als Aufbaupraxis länger als 5 Jahre – oder gar durch regelmäßige
Neueintritte junger Partner fortwährend – behalten. Vielmehr müssten sich auf der
Grundlage der Rechtsprechung des BSG die BAG und der Neueintretende darüber im Klaren
sein, dass dieser sich durch den Eintritt in die BAG in diese einbindet. Damit könne
der Verlust von bestimmten Vorteilen verbunden sein, wie etwa der bisherigen Position
seiner Einzelpraxis als Aufbaupraxis, wenn nämlich die BAG, in die er eintrete, keine
Aufbaupraxis mehr sei.
Das BSG hat erkannt, dass infolge der vorstehenden Ausführungen ein Verstoß gegen
die grundrechtlich geschützte allgemeine Gleichbehandlung vorliegen kann und warf
die Frage auf, ob bzw. in welcher Weise bei Eintritt eines Arztes in eine BAG die
ihr zuzurechnende, für das RLV maßgebliche Fallzahl zu berechnen sei.
Das BSG stellte dann allerdings fest, dass diese Frage keiner Erörterung bedürfe.
Die Kassenärztliche Vereinigung dürfe im 1. Jahr nach dem Eintritt eines Arztes in
eine BAG das RLV für die BAG nicht allein nach deren Fallzahl im jeweiligen Vorjahresquartal
berechnen, sondern müsse eine zusätzliche Fallzahl für das neu eintretende Mitglied
berücksichtigen – was z. B. entweder durch eine Erhöhung der Fallzahl der BAG entsprechend
dem Personenzuwachs in der BAG oder durch Hinzurechnung der vom Eintretenden zuvor
erbrachten Fallzahlen erfolgen könne und was eventuell normativ-schematisch durch
die Kassenärztliche Vereinigung vorgegeben oder an der Gestaltung des konkreten Falles
ausgerichtet werden könne. Eine Festlegung vermied das BSG jedoch und überlässt es
der Kassenärztlichen Vereinigung, eine grundgesetzkonforme Regelung in den Honorarverteilungsmaßstab
aufzunehmen.
Sog. „Einjähriges Moratorium“
Sog. „Einjähriges Moratorium“
Die klagende BAG hatte daneben gerügt, dass die Honorarsystematik verlange, dass die
Ärzte 1 Jahr arbeiten müssten, für die Leistungen indes keine Vergütung erhalten würden.
Das BSG folge dieser Auffassung nicht, sondern verwies darauf, dass das sog. 1-jährige
Moratorium seine Grundlage in der Sonderregelung des § 87b Abs. 4 Satz 1 iVm Abs.
2 Satz 2 SGB V finde, wonach der Bewertungsausschuss zu Vorgaben für den Inhalt der
RLV und zur Bestimmung des Verfahrens für deren Berechnung ermächtigt sei. Der Bewertungsausschuss
habe dabei ein gewisses Maß an Gestaltungsfreiheit, wie das BSG mehrfach im Zusammenhang
mit anderen, dem Bewertungsausschuss eingeräumten, Rechtssetzungsbefugnissen festgestellt
hat (stRspr, vgl zB BSGE 105, 236 = SozR 4–2500 § 85 Nr.. 53, RdNr. 21 ff, 26, 29;
BSGE 106, 56 = SozR 4–2500 § 85 Nr. 54, RdNr. 20 f; vgl auch BSG vom 9.5.2012, Az.:
B 6 KA 30/11 R; vgl ferner Urteil vom 06.02.2013, Az.: B 6 KA 13/12 R). Insoweit sei
der Bewertungsausschuss frei, bei der Ausgestaltung der Regelungen für die RLV auch
andere legitime Ziele zu verfolgen, wie z. B. Anreize für Fallzahlvermehrungen zur
Honorarsteigerung zu mindern und dadurch die Gesamthonorarsituation zu stabilisieren
sowie die Kalkulierbarkeit der Einnahmen aus vertragsärztlicher Tätigkeit zu verbessern.
Das BSG hat dazu ausgeführt, dass es für diesen Wachstumsanspruch nicht ausreiche,
den Fachgruppendurchschnitt irgendwie und irgendwann erreichen zu können, sondern
dass es dem Vertragsarzt vielmehr möglich sein muss, die Steigerung bis zum Durchschnitt
„in effektiver Weise“ und in „realistischer Weise“ zu erreichen (BSG SozR 4–2500 §
85 Nr 45). Dies erfordere allerdings nicht die Möglichkeit einer kontinuierlicher
Steigerung, sondern es komme lediglich auf das Ergebnis – die Möglichkeit, den Durchschnittsumsatz
zu erreichen – an (BSG SozR 4–2500 § 85 Nr 45; SozR 4–2500 § 85 Nr 50). Praxen mit
unterdurchschnittlichem Umsatz müssten nicht von jeder Begrenzung des Honorarwachstums
verschont werden (BSGE 92, 10 = SozR 4–2500 § 85 Nr 5). Ein Anspruch darauf, dass
die Gesamtzahl der in einem Quartal behandelten Fälle jeweils sogleich dem RLV für
dieses Quartal zugrunde gelegt würde, bestehe nicht.
Verfassungsrechtlich hätte das BSG der Frage nachgehen können und müssen, ob vor dem
Hintergrund der grundrechtlich geschützten Berufsausübung nicht die Kassenärztliche
Vereinigung die Begrenzung des Wachstums rechtfertigen können muss. Der Anspruch des
Vertragsarztes auf eine gleiche Vergütung besteht bereits aufgrund des Grundrechts
auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG. Immer wieder geht es in diesem Kontext
um die Frage, ob der Radiologe einen Anspruch auf eine bestimmte Genehmigung haben
muss oder ob nicht vielmehr die Kassenärztliche Vereinigung oder in anderen Zusammenhängen
der Zulassungsausschuss einer Rechtsgrundlage bedürfen, die Rechte des Radiologen
einzuschränken.
Im Weiteren führte das BSG aus, dass Bestimmungen nicht ausgeschlossen sind, die ein
Honorarwachstum innerhalb eines gewissen Zeitraums unterbinden, (BSG SozR 4–2500 §
85 Nr 45), sofern die Praxen in der nach Ablauf des Moratoriums verbleibenden Zeit
noch die „effektive, dh realistische, Möglichkeit“ haben, den Durchschnittsumsatz
zu erreichen.
Das BSG geht in seiner Entscheidung nicht auf die Frage ein, ob nicht bereits aufgrund
des Überweisungserfordernisses nach § 13 Abs. 4 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä)
zumindest eine erste Beschränkung des – ungehemmten – Praxiswachstums vorliegt und
in der Folge eine übermäßige Tätigkeitsausweitung unmöglich ist, sodass der Sinn eines
Moratoriums jedenfalls nicht mehr in der übermäßigen Tätigkeitsausweitung liegen könnte.
Das LSG Berlin-Brandenburg hat diese Auffassung erst jüngst in einem Urteil vom 20.02.2013
(Az.: L 7 KA 60/11) bestätigt und folgendes festgestellt:
„Demgegenüber unterliegen Arztgruppen der sog. Methodenfächer, wie z. B. Laborärzte,
Nuklearmediziner, Pathologen und Radiologen, dem Überweisungsvorbehalt (§ 13 IV Bundesmantelvertrag-Ärzte
(BMV-Ä) bzw. § 7 IV Arzt-Ersatzkassenvertrag (EKV)) und den Beschränkungen des Zielauftrags
(§ 24 VII 2 Nr. 2 BMV-Ä und § 27 VII 1 Nr. 2 EKV). Beides verhindert weitgehend, dass
Mitglieder dieser Arztgruppen allein durch eigenes Zutun ihre Leistungsmenge ausweiten
können (s. a. Wigge NZS 05, 176).“
Davon ausgehend, dass eine Praxis grundsätzlich eine Zeit lang an ihrem Praxis- und
Honorierungsumfang festgehalten werden dürfe, so das BSG, sei das Moratorium von 1
Jahr, soweit es nach Abschluss der Aufbauphase greife, nicht zu beanstanden. Durchgreifende
Bedenken ergäben sich auch nicht bei Berücksichtigung des Wachstumsanspruchs unterdurchschnittlich
abrechnender Praxen. Dem Arzt bliebe es unbenommen, mit seiner Praxis durch eine Fallzahlsteigerung
ein höheres RLV für das Folgejahr zu erzielen und so – wie es den unterdurchschnittlich
abrechnenden Praxen möglich sein muss – im Gesamtzeitraum von 5 Jahren den Durchschnittsumsatz
der Fachgruppe zu erreichen. Das BSG widersprach sodann dem Hessischen Landessozialgericht,
dass die Regelungen als unvertretbar und unverhältnismäßig beurteilt hatte und verwies
darauf, dass Honorarsonderregelungen wie Härteklauseln zu berücksichtigen seien.
Härtefallregelung
Zunächst ist nach Auffassung des BSG zu beachten, dass im Allgemeinen auch bei Honorarregelungen
Regelungen für den Umgang mit Härtefällen bestehen und dass bei Fehlen einer ausdrücklichen
Härteklausel diese in die Honorarbestimmungen hineinzuinterpretieren sei (BSG SozR
4–2500 § 85 Nr 66 RdNr 28–30; BSG MedR 2012, 413). Bei Mitberücksichtigung der Härteklausel
könne die Bestimmung, die einen Mehrverdienst durch Fallzahlerhöhungen für ein ganzes
Jahr weitgehend ausschlösse, zumal deshalb nicht als „unvertretbar und unverhältnismäßig“
bewertet werden, weil die Härteklausel gerade die Funktion habe, unverhältnismäßigen
Nachteilen vorzubeugen, was insbesondere für atypische Konstellationen von Bedeutung
sei.
Nach dem bisherigen Verlauf der Entscheidung überrascht es nicht weiter, dass das
BSG zwar die Härteklausel anführt, diese auf den zu entscheidenden Fall letztlich
jedoch nicht anwendet.
Ein von der BAG nicht zu vertretender, als Härte in Betracht kommender Umstand ergebe
sich, so das BSG, nicht bei Einbeziehung des Umstandes, dass die spätere geringe Honorierung
im Quartal III/2009 ihren Ursprung schon vorher, nämlich in der geringen Fallzahl
im Quartal III/2008 – verbunden mit dem 1-jährigen Moratorium für die Bewirkung einer
Erhöhung des RLV durch Fallzahlerhöhungen –, hatte. Zwar habe die BAG während ihrer
vertragsärztlichen Tätigkeit im Quartal III/2008 noch nicht wissen können, dass sich
die dabei erzielte Fallzahl begrenzend auf ihr Honorar für das Quartal III/2009 auswirken
würde (der Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28.8.2008 wurde
erst gegen Ende des Quartals bekannt gemacht). Dieses Nichtwissen sei aber nicht schutzwürdig.
Vielmehr sei es dem unternehmerischen Risiko des Vertragsarztes zuzurechnen, wie er
seine Praxistätigkeit gestalte, insbesondere auch, in welchem Umfang er vertragsärztlich
tätig werden wolle. Wenn die BAG nur in geringem Umfang vertragsärztlich tätig geworden
sei – aus welchen Gründen auch immer: sei es, dass ihnen der Patientenzulauf fehlte,
dass ihnen die Zuweisungen von Patienten durch andere Ärzte fehlten, dass sie sich
auf Privatpatienten konzentrierten, dass sie insgesamt nur geringfügig ärztlich tätig
werden wollten oder dass sie ihren Schwerpunkt in Tätigkeiten für Krankenhäuser sahen
–, so sei dies, so das BSG, ihrem Verantwortungs- und Risikobereich zuzuordnen. Ihrem
Risikobereich sei es auch zuzurechnen, wenn sich daraus aufgrund zwischenzeitlicher
Neugestaltung der Honorierungssystematik honorarbegrenzende Auswirkungen für das Folgejahr
ergäben. Worin allerdings ein Unterschied zu einem neuzugelassenen Arzt bestehen solle,
stellte das BSG nicht fest. Denn auch dieser trifft mit dem Antrag auf Zulassung eine
seiner Risikosphäre zuzurechnende Entscheidung.
Diese Sichtweise des BSG greift indes zu kurz. Zwar ist dem BSG darin zuzustimmen,
dass die wirtschaftliche Ausrichtung einer radiologischen Gemeinschaftspraxis den
Gesellschaftern zugerechnet werden kann. Die Änderung der Honorarsystematik liegt
indes außerhalb des Verantwortungsbereiches der Radiologen. Ein Verschulden, welches
eine Vorwerfbarkeit voraussetzt, kann nur vorliegen, wenn die Konsequenz, die das
Verhalten nach sich ziehen würde, erkennbar gewesen war oder hätte erkannt werden
müssen. Anhaltspunkte dafür finden sich keine, zumal sich in der Vergangenheit mehrfach
zeigte, dass gesetzgeberische Änderungen des SGB V noch kurzfristig vor ihrer Verabschiedung
durch den Gesetzgeber erfolgt sind.
Die Anerkennung eines Härtefalls setzt nach Ansicht des BSG neben der Existenzgefährdung
der Praxis und einem bestehenden Sicherstellungsbedarf voraus, dass die maßgeblichen
Umstände nicht von der Praxis zu vertreten sind. Das BSG verlangt daher einseitig
die Solidarität der Praxis, wenn es auf den Sicherstellungsbedarf abstellt, verweigert
der Praxis aber sogleich die Solidarität, wenn es zur Aufrechterhaltung der Sicherstellung
auf diese Praxis nicht ankommt.
Fazit
Die Entscheidung des BSG zeigt in einer bedauerlichen Offenheit, dass von dem niedergelassenen,
vertragsärztlich tätigen Radiologen im Sinne seiner sozialen Verantwortung für das
System der GKV verlangt werden kann, dass dieser Leistungen, die im Laufe eines Jahres
erbracht werden, nicht vergütet erhält. Wenn der Vertragsarzt systemrelevant, also
für die Sicherstellung von Bedeutung ist, kann ein Härtefall vorliegen und der Vertragsarzt
erfährt seinerseits die Solidarität der GKV. Nun weigern sich die meisten Kassenärztlichen
Vereinigungen vehement, die Bedeutung eines radiologischen Vertragsarztes für eine
Region anzuerkennen. Kann dem Patienten doch zugemutet werden, dass er zu einem weiter
entfernt ansässigen Radiologen anreist. Welche Folge dies z. B. auf die Wartezeiten
der Patienten hat, wird in der aktuell aufgekommenen Überlegung, die Wartezeiten verbindlich
und sanktionsbewährt zu regeln, nicht beachtet. An dieser Stelle befindet sich zugleich
die unmittelbare Verbindung zwischen Honorierung und Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen
Vereinigungen. Diese Verbindung wird gelegentlich nicht von den Kassenärztlichen Vereinigungen
gesehen und die Übermittlung statistischer Unterlagen zur Prüfung der Bedeutung einer
Praxis für die Sicherstellung verweigert. Dabei zeigt die vorstehende Entscheidung
des BSG, dass die vertragsärztliche Versorgung ein einheitliches System ist und die
Honorarsystematik einerseits und die Sicherstellungssystematik nicht losgelöst voneinander
zu betrachten sind. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind für beides verantwortlich
und haben beide Aspekte zu berücksichtigen.
Nicht zu überzeugen vermag das BSG auch mit seiner Auffassung, dass es dem unternehmerischen
Risiko des Vertragsarztes zuzurechnen sei, wie er seine Praxistätigkeit gestalte,
insbesondere auch, in welchem Umfang er vertragsärztlich tätig werden wolle. Die Realität
sieht anders aus, wie jeder niedergelassene, vertragsärztlich tätige Radiologe weiß.
Die bestehende Honorarsystematik und die gelebte Praxis in den Kassenärztlichen Vereinigungen
lassen ein Wachstum einer Praxis kaum zu und wer einmal ein Budget abgebaut hat, erlebt
das Moratorium wieder und wieder. Die steten Änderungen der Honorarsystematik lassen
daneben die Planungssicherheit für den vertragsärztlich tätigen Radiologen schwinden,
obwohl er diese für die Investitionen in neue Großgeräte dringend benötigt. Dies alleine
mit dem unternehmerischen Risiko des Radiologen zu begründen, ist nicht nur ein unnötiger
Affront, es gefährdet die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung im Bereich
der Radiologie. Eine Vielzahl von Aspekten wurde in der Entscheidung des BSG nicht
erwähnt, so zum Beispiel worin die Begründung der Honorarzuwachsregelung aufgrund
des Moratoriums bei einer überweisungsgebundenen medizinischen Fachdisziplin liegen
soll. Den Radiologen auf fehlende Zuweisungen zu verweisen und ihm ein Verschulden
für eine solche Situation anzulasten, müsste im Gegenzug heißen, dass das Einwirken
auf mehr Zuweisungen durch andere Ärzte legitim sein müsste – was es aber regelmäßig
nicht ist, zumindest wenn diese Einwirkung aus einem Entgelt besteht.
Das BSG wird sich auch zukünftig mit den Fragen der Honorierung auseinandersetzen
müssen. Die vorliegende Begründung setzt sich nur mit einem kleinen, wenn auch relevanten
Teil von Rechtsfragen auseinander. Der Gesetzgeber hat daneben die Regelungen zur
Honorierung im SGB V verändert, sodass das BSG genau genommen über eine überholte
Rechtslage urteilen musste. Zukünftige Entscheidungen können daher abweichen. In der
Entscheidung des BSG werden die relevanten grundrechtlichen Regelungen des Gleichbehandlungsgebotes
aus Art. 3 Abs. 1 GG und der Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 zwar erwähnt,
jedoch hinsichtlich des Eingriffs und der zulässigen Schranken nur unzureichend gewürdigt.
Über kurz oder lang, wird daher ein niedergelassener Radiologe den Gang zum Bundesverfassungsgericht
nach Karlsruhe suchen und finden, um diese Fragen intensiv klären zu lassen.
René T. Steinhäuser
Rechtsanwalt
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