Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Die Reflexionen Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, zu den drei schweren
Kränkungen der „Eigenliebe der Menschheit“, sind durchaus eingängig [1]. Welche diese sind? Die erste, als kosmologisch bezeichnete Kränkung betrifft den Ersatz des geozentrischen Weltbilds durch ein heliozentrisches
Weltbild (Nikolaus Kopernikus). Nicht mehr unsere Erde ist der Mittelpunkt des Kosmos,
um den sich alle Sterne drehen. Im Mittelpunkt unseres „Sonnen“systems steht vielmehr
eben die Sonne, an welche auch die Erde durch die Gravitation gebunden ist. In kosmischen
Zusammenhängen mit Abertausenden von Sonnen und Galaxien verstärkt sich diese Relativierung
noch einmal.
Die zweite, biologische Kränkung des menschlichen Narzissmus bezieht sich auf den Ursprung der Menschen.
Lange Zeit war in den Hochkulturen, anders als in primitiven, naturnäheren Kulturen,
der Gedanke vorherrschend, dass der Mensch sich vom Tier wie auch von der Pflanzenwelt
grundsätzlich unterscheidet: z. B. in dem er aufgrund eines eigenständigen Schöpfungsaktes
ins Leben gerufen wurde oder in dem Tieren jegliche Vernunft aberkannt wurde – oder
auch durch die Einordnung der Tiere als Sache in der Rechtssystematik. Diese Ansicht
ist in aufgeklärten Gesellschaften seit Charles Darwin nicht mehr haltbar. Die Einsicht,
dass sich das menschliche Leben wie auch das tierische Leben aus gemeinsamen Vorfahren
entwickelt hat, ist inzwischen naturwissenschaftlich gefestigt. Dass darüber hinaus
alles Leben in einem Netzwerk miteinander verknüpft ist, ist eine Einsicht der ökologischen
Wissenschaften. Dies schließt qualitative Sprünge in der Gen-Kultur-Koevolution nicht
aus: Konrad Lorenz beurteilt den Unterschied zwischen dem Menschen und seinen nächsten
Verwandten in der Tierwelt als mindestens so groß wie den Unterschied zwischen der
Tierwelt und der Pflanzenwelt – er bezeichnet diesen Sprung als Fulguration [2].
Die dritte und Freuds Ansicht nach empfindlichste Kränkung ist „psychologisch“. Damit ist die Erkenntnis bezeichnet, dass das wahrgenommene Ich des Menschen „nicht Herr im eigenen Haus ist“. Gemeint ist, dass das Unterbewusste in seiner Vielschichtigkeit oft die eigentlich
steuernde und treibende Kraft unseres Handelns und Denkens ist. Das von uns wahrgenommene
bewusste Denken ist dem gegenüber eine relativ späte biologische Funktion. Sie stellt
nur die Spitze des Eisberges innerpsychischer Vorgänge dar.
Gelegentlich sind in diesem Sinne noch weitere Kränkungen ergänzt worden. Für die
Medizin könnte eine weitere schwere Kränkung epidemiologischer Natur sein. Bei allen Erfolgen der Linderung von Krankheit und allem hilfreichen
Handeln in der Patientenbehandlung ist doch der Beitrag der Individualmedizin zur
Gesundheit einer Bevölkerung zu relativieren. Schätzungen gehen davon aus, dass in
den letzten 150 Jahren der Beitrag der Medizin zur Gesunderhaltung und damit der Lebensverlängerung
deutlich unterhälftig ist gegenüber den Einflüssen anderer Handlungsfelder. Gemeint
sind sauberes Trinkwasser, Kanalisationssysteme zur Abwasserentsorgung, wirksame Infektionsschutzmaßnahmen
der Bevölkerungsmedizin, ausreichende Versorgung mit sicheren Lebensmitteln, Verbesserungen
bei Kleidung, Wohnung sowie Bildung im Allgemeinen. Ein Trost für die so gekränkte
Medizin ist, dass die öffentliche Gesundheit in großen Teilen auch ärztliches Aufgabengebiet
ist. Ein weiterer Trost ist auch die Einsicht, dass die Linderung von Leid ohne Einfluss
auf die Lebenserwartung einhergehen kann und trotzdem einen hohen Wert hat – nicht
zuletzt in der Palliativmedizin. Schließlich könnte ein letzter Trost in der Entlastung
der ärztlichen Profession vor überhöhten Erwartungen durch das Zurücktreten in eine
Reihe neben anderen innerhalb des großen Netzwerks des Lebens liegen.
Dieser Gedanke eines Netzwerks des Lebens ist auch im christlichen Kontext, insbesondere
in der franziskanischen Spiritualität zu finden. Franziskus singt von Bruder Sonne
und den Schwestern Mond und Sterne, die Erzählungen berichten von der Rettung von
Lämmern, Tauben, Fischen, Bienen und Würmern als Ausdruck seines franziskanischen
Mitgefühls. Dabei ist ein solches Mitgefühl vor allem auch ein Kennzeichen der Weltsicht
des Buddhismus und findet sich in den alten Schriften schon aus der Zeit des 5. Jahrhunderts
vor christlicher Zeitrechnung. So ist ein Kerninhalt buddhistischer Weisheit (Sanskrit:
Prajna) die Einsicht, dass alle Wesen verwandt und in dieser Einheit auf einander
angewiesen sind. Damit ist ein Schaden, der einem einzelnen Lebewesen zugefügt wird,
zugleich auch ein Schaden für das Leben insgesamt, uns selbst inbegriffen. Deshalb
erwächst aus dieser Weisheit tätiges Mitgefühl (Sanskrit: Karuna) und das Prinzip
der Gewaltlosigkeit (Sanskrit: Ahimsa).
Es steht außer Frage, dass das Zusammentreffen des Christentums mit dem Hellenismus
und seiner Philosophie das westliche Denken entscheidend geprägt hat. Damit wurde
auch eine notwendige Grundlage für unser modernes wissenschaftliches Denken gelegt.
Doch ist das kognitive Nachsinnen alleine der einzige Weg zu Erkenntnis? Schon der
frühe franziskanische Philosoph Bonaventura unterschied verschiedene Erkenntniswege und mühte sich um eine Einheit philosophischen
und theologischen Erkennens durch ein mehr intuitives Angerührt-Werden im Inneren.
Ähnlich wie in der sonstigen christlichen Mystik lassen sich hier Parallelen zu östlichen
Erkenntnislehren finden.
Dem britischen Historiker Arnold Toynbee wird der Ausspruch zugeschrieben, dass die Begegnung von westlicher Kultur und Buddhismus
das große Ereignis des 20. Jahrhunderts gewesen sei, dessen Auswirkungen sich erst noch
entfalten werden. Möglicherweise steht uns damit noch einmal eine Metamorphose von
kulturhistorischem Ausmaß bevor. Schon jetzt findet sich in der ökologischen Bewegung
westlicher Prägung viel Gedankengut aus dem Kulturkreis des Buddhismus und wird dort
zunehmend inkulturiert. Dabei ist zu beachten, dass der Buddhismus einerseits als
Religion verstanden werden kann, wenn auch ohne konkretes Gottesbild. Gleichzeitig
und vielleicht besser kann er als philosophische Ausrichtung begriffen werden. Was
unserer Zeit und auch der Wissenschaft stark entgegenkommt, ist der Verzicht auf eine
ausformulierte Dogmatik und die Betonung der eigenen, oftmals subjektiven Empirie
als Erkenntnisgrundlage [3].
Findet sich eine Spiegelung dieser Entwicklungen auch im Gesundheitsbereich? Auf die
systemischen Bezüge der Lebenserwartung wurde bereits hingewiesen. Näher konkretisiert
wurden diese Ansätze z. B. im Regenbogenmodell von Dahlgren und Whitehead mit seinen
Sphären der individuellen biologischen Grundlagen, Verhaltens- und Lebensweisen, die
Beeinflussung durch das soziale Umfeld, die allgemeineren Lebens- und Arbeitsbedingungen
einschließlich des Zugangs zum Gesundheitswesen und die sozioökonomischen, kulturellen
und natürlichen Umweltbedingungen, wie z. B. wirtschaftliche Lage, Ernährungsgewohnheiten
und Klima [4]. Im Bereich der Bevölkerungsmedizin ist der dazugehörige Begriff der einer „New
Public Health“. Darunter wird eine systemorientierte Herangehensweise im Bereich der
öffentlichen Gesundheitspflege verstanden, welche durch Multiprofessionalität, Interdisziplinarität
und transdisziplinäre Handlungsansätze mit starken partizipatorischen Elementen gekennzeichnet
ist.
In diesem Zusammenhang soll noch auf ein weiteres Konzept verwiesen werden, nämlich
das von „One Health – Eine Gesundheit“. Anlässlich eines interdisziplinären Treffens
in New York wurden 2004 von der Wildlife Conservation Society die sogenannten Manhattan-Prinzipien
formuliert [5]. Diese Prinzipien rufen die Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft dazu
auf, einen ganzheitlichen Ansatz in der Prävention von Epidemien und insbesondere
Zoonosen mit Übertragung von Krankheitserregern von Tieren auf die Menschen zu verfolgen.
Gleichzeitig ist der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in Form unseres Ökosystems
ein zentrales Anliegen. Dieser Gedanke wurde seither von den verschiedensten Organisationen
aus den Bereichen von Umwelt, Veterinärmedizin und menschlicher Gesundheit aufgegriffen
und unterstützt.
Die Schnittstellen zwischen Ökosystem, Humanmedizin und Veterinärmedizin sind unübersehbar.
Beispiele reichen von der Bildung von Antibiotikaresistenzen durch deren Verwendung
zu unterschiedlichen Zwecken in Human- und Tiermedizin bis zu neuen Infektionsgefahren
aufgrund eines Raum greifenden Siedlungsdruckes mit Beeinträchtigung der natürlichen
Lebensräume verschiedenster biologischer Arten. Beispiele insbesondere aus dem Bereich
der übertragbaren Krankheiten sind leicht zu finden: Die SARS-Epidemie von 2003 mit
epidemischer Übertragung eines Coronavirus vom Tier auf den Menschen, die verschiedenen
genetischen Veränderungen des Influenzavirus aufgrund des engen Zusammenlebens von
Mensch und Tier insbesondere in Asien, die Übertragung von multiresistenten bakteriellen
Erregern auf den Menschen bei der Schweinemast.
Darüber hinaus sind noch weitere Zusammenhänge zu beobachten. Ein Beispiel dafür sind
sich ändernde Verzehrgewohnheiten mit starker Präferenz für tierisches Eiweiß. Dies
führt zu einer Umsteuerung von pflanzlichen Lebensmitteln in die Tierproduktion mit
teilweise dadurch bedingter Lebensmittelverknappung für Bevölkerungsgruppen mit geringer
Kaufkraft. Hinzu kommen spürbare Auswirkungen der bei der Tiermast entstehenden Methangase
auf die globale Erwärmung. Es wird deutlich, dass Menschen bei einer ganzheitlichen
One Health Betrachtung nicht nur Opfer von Zoonosen sind. Sie sind gleichzeitig auch Täter:
Durch die Art der Tierhaltung, durch die Verwendung von Antibiotika in der Tierfütterung,
durch die bevorzugten Ernährungsweisen sowie durch den Umgang mit den natürlichen
Ressourcen in Landwirtschaft und Siedlungsbau. Damit wird Gesundheit auch zu einem
„planetaren“ Thema [6].
Den systemischen Zusammenhängen von Gesundheit und Krankheit geht auch diese Ausgabe
des Gesundheitswesens wieder nach. Bezogen auf Männergesundheit wird die Auswirkung
von Konkurrenzverhalten untersucht, es wird über die Versorgungslage im Bereich der
ambulanten Psychotherapie berichtet sowie über Burnout, Arbeitsstörungen, interpersonelle
und psychosomatische Probleme bei Studenten mit unterschiedlichen Studienabschlüssen,
über Gesundheits-Coaching in der Arbeitsmarktintegration, über die Validierung von
Elternfragebögen für die Vorsorgeuntersuchung U7 und über Frakturkosten durch Osteoporose
im stationären Sektor. Einen Blick in die Europäische Nachbarschaft ermöglicht der
Beitrag über privat finanzierte Gesundheitsleistungen in polnischen Woiwodschaften.
Besonders sei auf die Stellungnahme der DGSMP zur Bedeutung der personenbezogenen
Faktoren der ICF für die Nutzung in der praktischen Sozialmedizin und Rehabilitation
in diesem Heft hingewiesen.
Am Anfang dieser Überlegungen wurde gesagt, dass diese Abhängigkeit von systemischen
Bezügen eine Kränkung für die vielleicht mancher Orts – und nicht nur bei Ärzten –
zu findenden Allmacht-Fantasien bezogen auf das medizinisch Machbare darstellen. Gleichzeitig
liegt hier – durchaus im analytisch-therapeutischen Sinn – auch der Keim der Hoffnung.
Möglicherweise ist diese „Kränkung“ in der Medizin eine notwendige Voraussetzung zur
„Gesundung“ an Körper, Seele und Geist für einzelne Menschen und darüber hinaus: Durch
einen achtsamen und mitfühlenden Umgang mit Menschen, Tieren und dem gesamten Ökosystem,
in dem wir leben. Ein solcher Umgang wäre tatsächlich als positive Frucht, vielleicht
auch aus der Begegnung von östlichem und westlichem Geist, zu werten.