ergopraxis 2014; 7(04): 12-13
DOI: 10.1055/s-0034-1373750
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Interdisziplinäre Leitlinien – Wegweiser für die Therapie

Florence Kranz

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 March 2014 (online)

 

Ergotherapeuten profitieren auf vielfältige Weise von wissenschaftlichen Leitlinien. Grund genug, um sich selbst an ihrer Entwicklung zu beteiligen, findet zumindest Andreas Pfeiffer.


#

Florence Kranz

Zoom Image

Florence Kranz, Ergotherapeutin und freie Redakteurin bei ergopraxis, hat Andreas Pfeiffer während ihrer früheren Dozententätigkeit an der ZUYD Hogeschool kennengelernt und findet seinen Enthusiasmus für die Ergotherapie einfach ansteckend.

Ergotherapeut Andreas Pfeiffer ist überzeugt: „Leitlinien können die Präsenz der Ergotherapie in unserer Gesellschaft erhöhen.“ Seit mehreren Jahren vertritt er den Deutschen Verband der Ergotherapeuten (DVE) in wissenschaftlichen Leitlinien. In Themen rund um die Psychiatrie bringt er sein Expertenwissen ein, das er als stellvertretender Leiter der Ergotherapie am LVR-Klinikum Düsseldorf, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entwickeln konnte. Zuletzt hat er an den Leitlinien „psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ und „Zwangsstörungen“ mitgearbeitet. In beiden wird der Einsatz von Ergotherapie empfohlen. Damit aber nicht genug: Die Leitlinien beschreiben auch das ergotherapeutische Vorgehen und stellen die vorhandene Evidenz vor [1, 2].

Vielseitig nutzbar

Solche detaillierten Darstellungen zeigen, welchen Beitrag die Ergotherapie in der Gesundheitsversorgung leisten kann. Und will. Denn Leitlinien bieten auch eine Plattform, um das professionelle Selbstverständnis zu beschreiben. Das setzt natürlich voraus, dass Ergotherapeuten wie Andreas Pfeiffer an ihrer Entwicklung mitwirken. Ihn motiviert, dass sich Leitlinien an einen großen Adressatenkreis richten: „Sie ermöglichen allen – vom Patienten bis zum Kostenträger – einen kostenlosen Zugang zu aktuellem Wissen.“ Ärzte und Therapeuten können sie als Orientierungshilfe für ihre klinischen Entscheidungen nutzen [4]. Bereiten Leitlinien den aktuellen Forschungsstand systematisch auf, erleichtern sie zudem evidenzbasiertes Arbeiten [3, 5]. Außerdem dienen sie als Grundlage, um die Qualität in einer Einrichtung zu sichern oder Ressourcen zu verteilen [5].

Zoom Image
Abb: A. Pfeiffer

Leitlinien können die Präsenz der Ergotherapie in unserer Gesellschaft erhöhen.
Andreas Pfeiffer

In Deutschland hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eine Vorreiterrolle, wenn es um die Entwicklung von Leitlinien geht. Seit 1995 koordiniert sie die Leitlinienarbeit der Medizinischen Fachgesellschaften und veröffentlicht die Ergebnisse in elektronischer Form [6]. Sucht man nach Informationen für das eigene Clinical Reasoning, lohnt sich ein Blick auf www.awmf.org/leitlinien/leitlinien-suche.html . Dort findet man nicht nur psychiatrische Leitlinien mit ergotherapeutischen Inhalten, sondern auch orthopädische, pädiatrische und neurologische.


#

Am besten mit System!

Doch Leitlinie ist nicht gleich Leitlinie. Unterschiede bestehen in der Zielgruppe und der wissenschaftlichen Qualität. Neben den Leitlinien für medizinisches Fachpersonal gibt es Patientenleitlinien, die kein medizinisches Fachwissen erfordern und eine einfache Sprache nutzen [3]. Außerdem können Leitlinien unterschiedliche Entwicklungsstufen besitzen. Sogenannte S1-Leitlinien basieren auf einem informellen Expertenkonsens. S2-Leitlinien beruhen hingegen auf einer formalen Konsensfindung (S2k) oder werten die vorhandene Evidenz aus (S2e). Und S3-Leitlinien verfügen über alle Elemente einer systematischen Entwicklung („Methodischer Hintergrund von Leitlinien“) [3–5].

Das heißt, nur bei S3-Leitlinien recherchieren die Forscher systematisch nach Evidenz, klassifizieren diese und diskutieren die Darstellungen und Empfehlungen in einem Konsensverfahren [3, 7]. Und hier kommt Andreas Pfeiffer wieder ins Spiel: „Bei den meisten psychiatrischen Leitlinien habe ich den DVE im Konsensprozess vertreten. Ich las über einen längeren Zeitraum die von der Steuerungsgruppe verfassten Texte und brachte Änderungs- und Ergänzungsvorschläge ein. Bei evidenzbasierten Leitlinien benötigte ich außerdem Studien, um Aussagen zu untermauern. Unterstützt hat mich dabei das Referat ‚Standards und Qualität‘ und die Fachausschüsse des Verbandes.“ Leitlinienarbeit ist Teamarbeit! In den Konferenzen stimmen die Vertreter der beteiligten Fach-, Patienten- und Angehörigenverbände sowie die Kostenträger mit je einer Stimme in einem vorgeschriebenen Verfahren über die Texte und Empfehlungen ab.


#

S3-Leitlinien als Goldstandard

Hat man als Therapeut die Wahl, sollte man sich an S3-Leitlinien orientieren. Sie haben die stärkste Aussagekraft [5, 7]. Die systematische Literaturrecherche und -analyse erhöht die Chance, dass die Empfehlungen tatsächlich auf der bestverfügbaren Evidenz basieren [8]. Finden Therapeuten zu einer Fragestellung mehrere S3-Leitlinien, sollten sie sich einen Eindruck von ihrer methodischen Qualität verschaffen [5]. Denn: Unterschiedliche Leitlinien können zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Zu diesem Zweck hat die AWMF gemeinsam mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) das deutsche Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI) entwickelt [7, 9]. Das Instrument steht unter www.leitlinien.de zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Zoom Image
Abb: R. Kneschke/fotolia.de

Methodischer Hintergrund von Leitlinien: die S-Klassifikation [7]

S3

evidenz- und konsensbasierte Leitlinie

> repräsentatives Gremium
> systematische Recherche
> Auswahl
> Bewertung der Literatur
> strukturierte Konsensfindung

S2e

evidenzbasierte Leitlinie

> systematische Recherche
> Auswahl
> Bewertung der Literatur

S2k

konsensbasierte Leitlinie

> repräsentatives Gremium
> strukturierte Konsensfindung

S1

Handlungsempfehlungen von Expertengruppen

> Konsensfindung in einem informellen Verfahren

Auch die Leitlinie „psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ besitzt die Entwicklungsstufe S3. Sie spricht sich mit dem Empfehlungsgrad B für den Einsatz von Ergotherapie aus. Demnach sollten Betroffene im Rahmen des Gesamtbehandlungsplans ergotherapeutische Interventionen erhalten, die sich an ihren individuellen Bedürfnissen und Vorlieben orientieren. Neben einer solchen „Sollte-Empfehlung“ gibt die Leitlinie auch Soll- (A) und Kann-Empfehlungen (C), die vom jeweiligen Evidenzlevel abhängen [1].


#

Empfehlenswert!

Um sich angemessen in Leitlinien zu positionieren, benötigt die Ergotherapie also Studien mit hoher Beweiskraft – in einigen Bereichen leider immer noch Mangelware. Trotzdem und gerade deshalb ist es wichtig, das Potenzial der Ergotherapie herauszustellen. Die S3-Leitlinie „Zwangsstörungen“ konnte beispielsweise nur auf zwei Fallstudien zurückgreifen, um die Wirksamkeit von Ergotherapie zu beleuchten [2]. Zu wenig, um eine „Kann“-Empfehlung auszusprechen.

Glücklicherweise durfte Andreas Pfeiffer den DVE hier in der Steuerungsgruppe vertreten. Mit Unterstützung des Verbandes hat er beschrieben, welchen Beitrag die Ergotherapie für die Lebensqualität und Teilhabe der Klienten leisten kann. Eine Darstellung, die offensichtlich bei den Experten ankam. Denn sie stimmten im Konsensverfahren für folgende Empfehlung: „Ergotherapie kann durch konkretes Einüben von Alltagstätigkeiten und Übungen im häuslichen Umfeld eine sinnvolle Ergänzung von leitliniengerechter Psychotherapie sein.“ Da diese Empfehlung auf einem Expertenkonsens und nicht auf klinischen Studien basiert, besitzt sie den Empfehlungsgrad „Klinischer Konsensus Punkt“ (KKP) [2].


#

Eine Orientierung, kein Patentrezept

Leitlinien erfüllen für die Ergotherapie also gleich mehrere Funktionen. Sie bieten Therapeuten eine Plattform, um Wirkung und Selbstverständnis ihres professionellen Handelns zu präsentieren. Erzielen sie dabei eine Empfehlung, stärken sie auch die Position der Ergotherapie in der Gesundheitsversorgung. Leitlinien können Ergotherapeuten zudem als Orientierung dienen, wenn sie ihr Vorgehen beschreiben und Interventionen wissenschaftlich untermauern. Obwohl systematisch entwickelte Leitlinien das evidenzbasierte Arbeiten erleichtern, stellen sie keine Patentrezepte dar. In begründeten Fällen darf und sollte man sogar von ihnen abweichen [4].

Auch Andreas Pfeiffer profitiert in seiner praktischen Arbeit von dem Wissen, das in Leitlinien aufbereitet wird: „Leitlinien sind aktueller als Lehrbücher, gut lesbar zusammengestellt und noch dazu kostenlos. Sie helfen mir beim Clinical Reasoning. So berate ich meine Klienten nicht nur auf der Grundlage subjektiver Erfahrungen und Wünsche. Ich kann meine Überlegungen auch auf die ‚harte Evidenz‘ und eine breite Expertenmeinung stützen.“


#
#

Zoom Image
Zoom Image
Abb: A. Pfeiffer
Zoom Image
Abb: R. Kneschke/fotolia.de