ergopraxis 2014; 7(04): 26-29
DOI: 10.1055/s-0034-1373754
ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ergotherapie und Musiktherapie – Herr Dietz liebt die Musik

Sonja Schickel
,
Simone Willig

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Publication Date:
31 March 2014 (online)

 

Die Musik hat Einzug gehalten in die interdisziplinäre Behandlung von Menschen mit neurophysiologischen Erkrankungen. Ergotherapeutin Sonja Schickel und Musiktherapeutin Simone Willig berichten von ihrer gemeinsamen Arbeit. Und von Walter Dietz.


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Sonja Schickel und Simone Willig

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Sonja Schickel, Ergotherapeutin seit 2009, arbeitet in der Ergotherapiepraxis Schepp in Herborn, www.ergotherapie-herborn.de .
Simone Willig, Dipl.-Musiktherapeutin (FH), Neurologische Musiktherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Herborn Kontakt: www.simonewillig.de , info@simonewillig.de

Vor drei Jahren lernte ich Walter Dietz kennen. Er hatte eine Hirnblutung erlitten und kämpfte noch mit Einschränkungen in Sprache und Motorik. Zu der Zeit stellte mir mein Chef auch die Neurologische Musiktherapeutin Simone Willig vor (Neurologische Musiktherapie). Sie erzählte uns von ihrer Arbeit und dass sie an einer Zusammenarbeit interessiert sei. Ich hatte gleich das Gefühl, diese Art der Behandlung könnte Walter Dietz Spaß machen und ihn seinen Therapiezielen näher bringen. Er hörte schon immer gerne Musik und schien dafür offen zu sein. Und so wurde die Musik Teil der ergotherapeutischen Behandlung. Konkret bedeutet das, dass an einem von zwei Behandlungsterminen pro Woche Musiktherapeutin Simone Willig im Hausbesuch dabei ist.

Zu Beginn der ambulanten Reha war aktives Bewegen des rechten Armes und der Schulter nicht möglich. In der Ergotherapie formulierten wir als Anfangsziele die Bewegungsanbahnung und Lockerung der Spastik. Im weiteren Verlauf schlossen sich die Steigerung der Kraft und das Vergrößern des Bewegungsausmaßes an. Außerdem war es Walter Dietz immer wichtig, mit der Hand etwas greifen zu können. Deshalb stehen neben dem Faustschluss auch die gezielte motorische Steuerung einzelner Finger auf dem Programm.

Spiegeltherapie mit musikalischer Begleitung

Die gemeinsame Therapie beginnt in der Regel mit vibroakustischen Instrumenten, zum Beispiel mit einer Sansula (Abb. 1). Musiktherapeutin Simone Willig legt die Sansula an der Schulter an und schlägt die Klangzungen aus Metall mit dem Daumen an. Über den Resonanzkörper überträgt sich die Schwingung auf den Körper des Patienten. Um sich dem Atemrhythmus von Walter Dietz anzupassen, improvisiert die Musiktherapeutin. „Das tut gut“, kommentiert Walter Dietz. Das merkt man auch an seinem gesenkten Muskeltonus. Über die Sensoren in den Knochen und Gelenken sowie über die Rezeptoren der Haut nimmt er die Vibrationen wahr. Die Wahrnehmung akustischer Reize erfolgt auf basalen Stufen der neurophysiologischen Informationsverarbeitung (die Verarbeitung findet im intakten Hirnstamm statt), bedarf also nicht notwendigerweise komplexer Fähigkeiten des Gehirns. Walter Dietz entspannt sichtlich, und durch den verminderten Tonus und die verbesserte Tiefensensibilität kann nun der aktive Teil der Therapie kommen.

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Abb. 1 Musiktherapeutin Simone Willig senkt bei Walter Dietz den Muskeltonus mithilfe der Sansula. Das Instrument wirkt über Klang und Vibration beruhigend.
(Abb.: J. Plechinger)
INTERNET

Seien Sie live dabei!

Erleben Sie Sonja Schickel und Simone Willig bei ihrer Arbeit! Ein Video, produziert von Joerg Plechinger, zeigt die Therapie von Walter Dietz: http://bit.ly/youtube_walter . Und bei der gemeinsamen Therapie mit der kleinen Lisa sind Sie unter http://vimeo.com/71154155 mit dabei!

Jetzt beginne ich mit der Spiegeltherapie, Simone Willig begleitet uns dabei (Abb. 2). Dazu positioniere ich den Spiegel mittig vor Walter Dietz und übe mit ihm das Öffnen und Schließen der Faust – in Supination, Pronation und aufgestellter Hand. Die Musiktherapeutin begleitet uns auf dem Akkordeon. Dabei steigt die Tonfolge beim Öffnen der Hand an und sinkt beim Schließen wieder.

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Abb. 2 Simone Willig begleitet das Öffnen und Schließen der Hand während der Spiegeltherapie auf dem Akkordeon. Angepasst an den Rhythmus von Walter Dietz unterstützt sie so Bewegung und Entspannung.
(Abb.: J. Plechinger)

Sie nutzt rhythmische, melodische, harmonische und dynamischakustische Elemente der Musik als zeitliche, räumliche oder kraftbezogene Anker für die Bewegungsausführung. Die Bewegung stellt sie musikalisch mit dem Akkordeon dar – individuell im Tempo des Patienten. Das Ansteigen der Tonhöhe, die Steigerung der Lautstärke und das Initiieren von Bewegung durch einen musikalischen Auftakt beim Öffnen der Hand wirkt wie eine akustische Schablone, die es Herrn Dietz erleichtert, die Bewegungen zu trainieren.


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Musik als Motivationsspritze

Um dem Patienten eine kleine Pause zu verschaffen und die Wahrnehmung auf der rechten Seite noch einmal zu verstärken, legt Simone Willig erneut für einige Augenblicke die Sansula an den Arm. Walter Dietz schließt entspannt die Augen: „Das ist totale Entspannung“, grinst er. Nach der kurzen Verschnaufpause trainiert er die Kraft und das Bewegungsausmaß der Schulter. Dabei klopfe ich mit Herrn Dietz den Boomwhacker, ein Musikinstrument, das aus unterschiedlich langen Kunststoffröhren besteht, auf den Tisch, und es entsteht ein tiefer Ton (Abb. 3). Auf diese Weise produziert er mit seinem betroffenen Arm Musik und kann im Takt zu einem Lied klopfen. Durch die akustischen Signale beim Aufschlagen auf den Tisch bekommt er die positive Rückmeldung, dass er die Bewegung korrekt ausgeführt hat und in welchem zeitlichen und kräftemäßigen

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Abb. 3 Bewegungsausmaß, Kraft, Koordination, Ausdauer und funktionale Handbewegungen trainiert Walter Dietz mit Boomwhacker und Schellenband, das zur Klangverstärkung am bunten Plastikstab befestigt ist. Der Patient bewegt seine Schulter in Anteversion und Retroversion im Takt. Das fördert die Ausdauer und neuronale Vernetzung rund um Bewegungsausmaß und Kraft.
(Abb.: J. Plechinger)

Die musikalische Unterstützung in der Therapie fand ich von der ersten Minute an gut.
Walter Dietz

Ausmaß dies geschieht. Auch hier begleitet Simone Willig auf dem Akkordeon und nimmt den Takt und die Geschwindigkeit von Walter Dietz auf. Zu seinem Takt singen häufig sowohl die Ehefrau als auch die im Haus lebende Oma mit.

Geht es um feinmotorische Fähigkeiten, trainieren wir gerne mit dem Rollpiano (Abb. 4). Wie ein Keyboard konzipiert, lassen sich auf dieser ausrollbaren Matte die Tasten einzeln anspielen. Im Unterschied zum Keyboard oder Klavier benötigt man zur Erzeugung eines Klanges jedoch weniger Kraft.

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Abb. 4 Mithilfe des Rollpianos lernt Walter Dietz, seine Finger einzeln motorisch anzusteuern und die Bewegung aktiv zu stoppen. Die Ergotherapeutin assistiert dabei nach dem Motto „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“.
(Abb.: J. Plechinger)

Simone Willig zeigt die Übung zunächst auf dem Piano. Walter Dietz spielt dann genau die gleiche Tonfolge nach. Ich unterstütze die Bewegungen, wenn nötig, durch assistives Führen. Dabei lernt der Patient, die einzelnen Finger motorisch anzusteuern und den Bewegungsfluss bewusst zu stoppen. Herrn Dietz ist es deutlich anzusehen, dass es ihm Spaß macht, er erhält sofort eine akustische Rückmeldung über sein Handeln – das motiviert. Diese motivierende Wirkung zeigt sich auch im Engagement des Patienten, Musikinstrumente mit dem betroffenen Arm zu verwenden.

In den Behandlungseinheiten, in denen die Musiktherapeutin nicht dabei ist, bemerke ich deutliche Unterschiede: Bewegungsausmaß und Geschwindigkeit im Bewegungsablauf sind mit musikalischer Unterstützung ausgeprägter. Auch Walter Dietz und seine Frau haben diesen Unterschied bemerkt: „Mit Musik geht alles ein bisschen spielerischer.“

Wenn man bedenkt, dass im rechten Arm gar nichts ging, dann geht jetzt richtig viel.
Walter Dietz


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Musiktherapie ist eine Selbstzahlerleistung

Da Musiktherapie bisher von den Krankenkassen nicht als Therapieform bei neurologischen Erkrankungen anerkannt ist, ist sie eine reine Selbstzahlerleistung. Es besteht die Möglichkeit, die Rechnung bei der Kasse mit einem gemeinsamen Bericht von Ergo- und Musiktherapeutin einzureichen, um eventuell einen Zuschuss zu beantragen. Leider geschieht dies in den wenigsten Fällen. Die TK „bewirbt“ jedoch auf ihrer Internetseite seit einiger Zeit die Musiktherapie als Therapieform bei neurologischen Erkrankungen, was wir als ein positives Zeichen werten. Allerdings können sich in der aktuellen Situation nicht alle Patienten diese unterstützende Therapie leisten.

NEUROLOGISCHE MUSIKTHERAPIE

Mit Musik geht Reha besser

Neurologische Musiktherapie (NMT) bedeutet die therapeutische Anwendung von Musik bei kognitivem, sensorischem und motorischem Funktionstraining mit Patienten in der Neurologie.

NMT ist eine forschungsbasierte Behandlungsmethodik. Die Behandlungstechniken basieren auf dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Musikwahrnehmung und - produktion und deren Auswirkung auf nichtmusikalische Gehirn- und Verhaltensfunktionen [1, 2].

Das Indikationsspektrum von NMT beinhaltet Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Morbus Parkinson und Chorea Huntington, Infantile Zerebralparese, Morbus Alzheimer, Autismus und andere neurologische Erkrankungen, welche Kognition, Bewegung und Kommunikation beeinträchtigen. In Deutschland trugen 2011 etwa 150 Musiktherapeuten den Titel NMT, weltweit sind es etwa 1.000 (zum Vergleich: In Deutschland gibt es etwa 4.000 Musiktherapeuten). Entwickelt wurde diese Technik durch Michael Thaut et al. Weiterführende Informationen finden Sie auch unter www.mit-musik-geht-reha-besser.de .

Aus ergotherapeutischer Sicht profitiert Walter Dietz in mehreren Punkten von der interdisziplinären Zusammenarbeit: Er führt eine Übung mit Musik motivierter, ausdauernder und kraftvoller durch. In der gemeinsamen Therapie führt die Musik somit schneller zum Therapieziel. Und die Wahrnehmung der betroffenen Körperseite wird erfahrungsgemäß verstärkt. Der Patient erlebt, dass er Musik machen und positive Gefühle wahrnehmen kann. Letzteres ist vielleicht sogar das Wichtigste. Musiktherapie macht unglaublich viel Spaß – und zwar nicht nur dem Patienten. Wir lachen alle sehr viel in den Behandlungen.

Voraussetzung für eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit ist, dass Ergotherapeutin und Musiktherapeutin an einem Strang ziehen. Darum steht im Fokus der Zusammenarbeit nicht die Musik an sich, sondern stets die mit dem Patienten abgestimmte ergotherapeutische Zielsetzung – Bewegungsanbahnung, ADL-Training, Verminderung von Apraxie etc. Die Bewegungen, die mit Musik trainiert werden, finden sich in den formulierten ergotherapeutischen Zielen wieder. Die Neurologische Musiktherapie (NMT) wird somit als adjuvante, begleitende Therapie angewandt, um die Wirksamkeit der Ergotherapie zu unterstützen („Neurologische Musiktherapie“).


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Zur Nachahmung empfohlen

Musik ist – wie neue Forschungsergebnisse und die S3-Leitlinie zur Behandlung nach Schlaganfall bestätigen – Auslöser neuronaler Reorganisationsprozesse. Sie stimuliert komplexe, kognitive, affektive und sensomotorische Prozesse im Gehirn, deren Funktion wiederum auf nicht musikalische Therapieansätze übertragen werden kann. So verbessern beispielsweise unscheinbare akustische Signale die Bewegungsbereitschaft des motorischen Nervensystems.

Walter Dietz antwortet auf die Frage, wie er die Musiktherapie erlebt: „Das macht Spaß, weil da Musik dabei ist, und Musik ist eh mein Hobby.“ Für ihn ist das genau die richtige Form der begleitenden Therapie. Rückblickend auf die bisherige Behandlung ziehen er und seine Frau ein positives Fazit: „Wenn man bedenkt, dass im rechten Arm gar nichts ging, dann geht jetzt richtig viel.“

„Ein gutes Lied verkürzt den Weg“, sagt ein Sprichwort aus dem Kaukasus. Das trifft besonders auf die Möglichkeiten im Zusammenspiel von Ergo- und Musiktherapie zu. In der gemeinsamen Arbeit verbinden sich auf kreative und neue Weise funktionale ergo- und musiktherapeutische Methoden mit ressourcenorientiertem, wertschätzendem therapeutischen Kontakt. Eine Bereicherung und Eröffnung neuer Horizonte, nicht nur für die Patienten, sondern immer wieder auch für uns. Eine Nachahmung können wir nur empfehlen!

Mit Musik geht alles ein bisschen spielerischer.
Walter Dietz


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Abb. 1 Musiktherapeutin Simone Willig senkt bei Walter Dietz den Muskeltonus mithilfe der Sansula. Das Instrument wirkt über Klang und Vibration beruhigend.
(Abb.: J. Plechinger)
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Abb. 2 Simone Willig begleitet das Öffnen und Schließen der Hand während der Spiegeltherapie auf dem Akkordeon. Angepasst an den Rhythmus von Walter Dietz unterstützt sie so Bewegung und Entspannung.
(Abb.: J. Plechinger)
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Abb. 3 Bewegungsausmaß, Kraft, Koordination, Ausdauer und funktionale Handbewegungen trainiert Walter Dietz mit Boomwhacker und Schellenband, das zur Klangverstärkung am bunten Plastikstab befestigt ist. Der Patient bewegt seine Schulter in Anteversion und Retroversion im Takt. Das fördert die Ausdauer und neuronale Vernetzung rund um Bewegungsausmaß und Kraft.
(Abb.: J. Plechinger)
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Abb. 4 Mithilfe des Rollpianos lernt Walter Dietz, seine Finger einzeln motorisch anzusteuern und die Bewegung aktiv zu stoppen. Die Ergotherapeutin assistiert dabei nach dem Motto „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“.
(Abb.: J. Plechinger)