Zwei neue Meta-Analysen bestärken das Lager derer, die Vitamin D-Mangel für überbewertet
halten. Doch der Streit um Norm- und Grenzwerte dürfte weiter gehen. Da bleibt die
Frage: Was muss es nun sein? Reichen 150, 75, 50 nmol/l Blut oder gar noch weniger?
Das ist mal ein klares Statement: Zukünftige Studien mit ähnlichem Design dürften
an der Schlussfolgerung kaum etwas ändern. Eine Gruppe um den Neuseeländer Mark J.
Bolland von der University of Auckland erklärt damit kurzerhand die Streitfrage um
Vitamin D für gelöst. Denn das Fazit einer neuen Meta-Analyse der Autoren, präsentiert
im Januar 2014 im renommierten Lancet Diabetes & Endocrinology lautet kurz gefasst:
Die Einnahme von Vitamin D-Präparaten bringt für die Gesundheit in aller Regel – nix.
Die Analyse checkte dafür immerhin 40 kontrollierte Studien zum Thema und unterwarf
sie einer sequentiellen Analyse, die mitberücksichtigt, wie sich die Ergebnisse entwickeln
je mehr man der einzelnen Studien additiv untersucht [
1
]. Ergebnis: Vitamin D-Präparate, mit oder ohne zusätzliches Calcium, senken das Risiko
für Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs nicht. Genauer gesagt: Sie bringen zumindest
nicht jene 15 % Risikoreduktion, die die Autoren als Mindestwert festlegen, damit
sie wirklich „klinisch relevante“ Effekte akzeptieren würden. Womit gleich eine Angriffslücke
in der Methode der Analyse entsteht, wie andere Experten monieren (siehe S. 105).
Keine signifikanten Effekte sehen Bolland et al. auch bei der Vorbeugung von Knochenbrüchen.
Einzig ältere Studien zur Einnahme solcher Präparate bei Heimbewohnerinnen schafften
die Messlatte: Dort fand sich eine Verringerung des Risikos von Oberschenkelhalsbrüchen
(Hip Fracture) auf über 15 %.
Mehr Klarheit – oder zusätzliche Verwirrung?
Mehr Klarheit – oder zusätzliche Verwirrung?
Wie jede Meta-Analyse hat auch diese implizite Schwächen. Sie poolt eine Vielzahl
an Interventionsstudien, die unterschiedlichste Ausgangs- und Endpunkte haben. Manche
mit wenigen Dutzend Teilnehmern, manche mit weit über 1000, manche mit einem Durchschnittsalter
der Probanden von 53, andere mit weit über 80. Bei manchen nahmen die Probanden Vitamin
D für wenige Monate ein, in anderen mehrere Jahre. Und vor allem differierten – falls
überhaupt gemessen – die Werte für Vitamin D im Blut der Teilnehmer. Bei 80 % der
40 Studien gab es Angaben dazu, und bei 72 % davon lag der Durchschnitt von Vitamin
D zu Beginn der Studie unter 50 nmol/l Blut. 85 % der Studien machte Angaben dazu,
welche Werte sich im Laufe der Untersuchung ergaben, bei wiederum 94 % davon wurden
es mehr als 50 nmol/l
Die Studie gilt als weiterer Schlag gegen einen boomenden Markt. Immerhin, so der
Editorialist Karl Michaelsson von der Uppsala University im Lancet Diabetes & Endocrinology,
schluckten US-Amerikaner 2011 Vitamin D für 605 Millionen USDollar, weit mehr als
das 10-fache dessen, was sie noch 2002 dafür ausgaben – 42 Millionen. Es sei aber
nötig, so Michaelsson, endlich evidenzbasierte Grenzwerte für das zu entwickeln, was
nun tatsächlich für Erwachsene ein Vitamin D-Mangel ist.
Wenn das so einfach wäre. Denn just darum gehen die Auffassungen der Gelehrten weiterhin
auseinander – wie auch die beiden folgenden Interviews belegen (siehe S. 105 und 107).
Sonnenbaden ohne Sonnenbrand erwünscht!
Sonnenbaden ohne Sonnenbrand erwünscht!
Das fettlösliche Vitamin D ist gar kein Vitamin, der Körper kann es selber herstellen.
Bei einem UV-Index höher als 3 entsteht in der Haut durch UVB-Strahlen aus 7-Dehydrocholesterol
das Provitamin D3, das der Körper zum wirksamen Vitamin D2 umsetzt.
Prinzipiell reicht ein regelmäßiges Sonnenbad mehr als aus, um den Bedarf zu decken.
Eine Viertelstunde in T-Shirt und kurzer Hose in der Sonne lassen vergleichsweise
gewaltige 20 000 Internationale Einheiten (IE) an Vitamin D in der Haut entstehen,
wie der Vitamin D-Spezialist Michael Holick vom Boston University Medical Center erklärt.
Dabei, fügt er gleich hinzu, bitte darauf achten, dass kein Sonnenbrand entsteht [
2
].
Vitamin D Mangelgebiet Deutschland
Vitamin D Mangelgebiet Deutschland
20 000 IE ist weit über dem 5-fachen dessen, was selbst Protagonisten einer eifrigen
täglichen Einnahme von Vitamin D in Pillenform anstreben.
(Bild: Fotolia / pixhunter.com)
Allerdings – nördlich des 35. Breitengrades reiche die nötige UVB-Strahlung von Oktober
bis März nicht aus, um überhaupt Vitamin D entstehen zu lassen, warnte eine Gruppe
um Holick erneut Ende letzten Jahres [
3
].
Deutschland ist zeitweise sogar Komplettmangelgebiet. Die Lage des Landes nördlich
des 47. Breitgrades erkläre, dass hierzulande so viele Menschen an „Vitamin D-Mangel“
litten – zu erkennen an weniger als 50 nmol/l Blut Vitamin, meint die Gruppe um Holick.
Gemeint ist mit Vitamin D im Blut meist der Pegel der wichtigsten „Transportform“
des Vitamins, des Calcidiols, alias 25-Hydroxycholecalciferol, 25(OH)D.
In der Literatur kursieren 2 Angaben – entweder als nmol/l oder als ng/ml. 50 nmol/l
entsprechen 20 ng/ml.
Wo bitte geht’s zum Richtwert?
Wo bitte geht’s zum Richtwert?
Die Sicht von Holick et al.: Weniger als diese 50 nmol/l, alias 20 ng/ml Blut, seien
mit ein Faktor in der Entstehung vieler chronischer Krankheiten – von Multipler Sklerose,
Typ 1 Diabetes, Morbus Crohn bis Bluthochdruck, von Darmkrebs bis Alzheimerscher Krankheit.
Daher würden alle Patienten mit diesen Krankheiten von einer Supplementierung mit
Vitamin D profitieren. Denn nötig seien am Ende Werte zwischen 100 bis 150 nmol/l
(40 und 60 ng/ml). Zu schaffen sei das mit täglich 3000 IE Vitamin D, wahlweise als
21 000 IE einmal die Woche oder als 90 000 IE einmal im Monat.
150 nmol sind ein Maximalwert im Streit der Gelehrten.
Die Gruppe um Holick verweist zur Ableitung dieses Werts unter anderem auf Studien
wie etwa die von Martine F. Luxwolda und Kollegen vom Dutch University Medical Center
in Groningen, die 2012 bei traditionell lebenden Massai und Hadzabe in Tansania 25-OH-Vitamin
D-Werte von 119 und 109 nmol/l Blut gemessen haben [
4
]. Der Mensch kommt bekanntlich aus Afrika und trug früher eben auch nicht Jeans und
Pulli.
Ob allerdings zivilisationsgeprägte Mitteleuropäer tatsächlich solche Werte brauchen,
um gesund zu sein, ist nicht nur mit der neuen Analyse von Bolland et al. mehr als
strittig.
Fakt ist: Die meisten Hinweise auf positive Wirkungen bestimmter Vitamin D-Spiegel
im Blut stammen aus Korrelationsstudien und sind damit am Ende Fehlinterpretationen.
Denn Korrelationen stehen eben nicht per se für Kausalität. Und Interventionsstudien
zur Einnahme von Vitamin D lieferten bislang – fast immer Fehlanzeige.
In diese Kerbe schlägt eine zweite neue Analyse, diesmal einer Gruppe um Philippe
Autier vom International Prevention Research Institute in Lyon [
5
].
Positive Effkte differenziert betrachten
Positive Effkte differenziert betrachten
290 Kohortenstudien und 172 kontrollierte Interventionsstudien zur Rolle der Spiegel
an 25-OH-Vitamin D nahm die Gruppe unter die Lupe. Fazit auch hier: Interventionsstudien
zeigen keine positiven Effekte zur Vorbeugung von Krebs und Herzinfarkt. Niedrige
Spiegel an 25-OHVitamin D seien vielmehr nur Marker für einen generell schlechteren
Gesundheitszustand, postulieren die Autoren.
Für einige wenige Gruppen scheinen positive Effekte allerdings belegbar. Supplementierung
mit Vitamin D senkte in mehreren Studien das Knochenbruchrisiko bei betagten Frauen,
die in Heimen leben. So zu sehen in bereits älteren Studien einer Gruppe um Marie
C. Chapuy vom Hôpital Edouard Herriot in Lyon.
Schon 1992 berichtete diese im New England Journal of Medicine von Erfolgen mit einer
täglichen Gabe von 800 IE Vitamin-D3 (alias 20 Mikrogramm). 18 Monate später lag die
Rate an nichtvertebralen Frakturen und Oberschenkelbrüchen in der Verum-Gruppe um
32 % und 43 % unter der in der Placebo-Gruppe. Allerdings hatte die Studie eine hohe
„drop-out-Rate“. 16 % von über 3500 Teilnehmerinnen verstarben während der Studie,
weitere 17 % brachen aus anderen Gründen vorzeitig ab [
6
].
Keine Einigung für eine pauschale Empfehlung in Sicht
Keine Einigung für eine pauschale Empfehlung in Sicht
Darüber hinaus aber bleibt es bei einer großen Auswahl an Empfehlungen. Die Deutsche
Gesellschaft für Endokrinologie rät zu einem gelassenen Umgang mit der Vitamin D-Frage
(siehe S. 105): Handlungsbedarf sieht sie wenn, dann ab Werten von gerade noch 10
nmol/l.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sieht einen ausgeprägten Vitamin D-Mangel
mit einem erhöhten Risiko für Rachitis und Osteomalazie bei 25(OH)D-Konzentrationen
unter 30 nmol/l Serum. Wer dann noch zuwenig in der Sonne ist, dem empfiehlt sie die
tägliche Einnahme von 800 IE am Tag [
7
].
Eine Expertengruppe des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) setzte 2010
den Bedarf auf 50 nmol/l (20 ng/ml).
Das ist ein Richtwert, dem sich wiederum der Dachverband Osteologie e. V. (DVO), auch
im neuen Entwurf seiner Leitlinie Osteoporose anschließt [
8
].
Mehr als 50 nmol Serum-25-Hydroxy-Vitamin D seien anzustreben bei Menschen mit erhöhtem
Sturz- und Frakturrisiko, so der DVO. Die endgültige Fassung der Leitlinie lag zum
Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels noch nicht vor, sie wird für den Sommer
erwartet (siehe S. 107).
Abweichungen von solchen Leitlinien sind nicht ausgeschlossen.
DVO-Vorsitzende Frau Professor Heide Siggelkow sieht eher 75 nmol für Patienten als
Zielwert, verweist auf Daten einer Gruppe um Michael Amling vom Hamburger Universitätsklinikum
Eppendorf (siehe S. 105). Diese legte 2010 eine Studie vor, die die Knochengesundheit
bei 675 Verkehrs- oder gar Mordopfern posthum an Autopsien mit ihren 25-OH-Vitamin
DSpiegeln korrelierte [
9
].
Über ein Drittel der Untersuchten hatte pathologische Mineralisationsdefekte in den
Knochen, zu sehen an einer zu hohen Menge noch unfertigem Ostoids im Beckenkammknochen.
Erst ab Werten von mehr als 75 nmol 25(OH)D/l Blut, zeigten sich keine pathologischen
Osteoidwerte mehr.
Hoffnung auf neue Daten aus laufenden Studien
Antworten erhofft sich die Szene von weiteren Studien. Mindestens 5 derzeit laufende
prospektive Studien testen an 2150 bis 20 000 Probanden, die älter als 50 sind, was
ihnen die tägliche Einnahme von 40 bis 80 Mikrogramm Vitamin D zur Vorbeugung gegen
Krebs, Herzinfarkt, Gedächtnisverlust und Knochenbrüche bringt.
An einer Erkenntnis in Sachen Vitamin D wird sich nicht viel ändern: Öfters mal in
die Sonne gehen!
Bernhard Epping