DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2015; 13(1): 18-21
DOI: 10.1055/s-0034-1383289
praxis
Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Osteopathische Sterbebegleitung

Christina Thomas
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Christina Thomas D. O.
Widenbüelstr. 16
8617 Mönchaltorf
Schweiz

Publication History

Publication Date:
09 January 2015 (online)

 

Die Frage, ob die Begleitung Sterbender zur Arbeit eines Osteopathen gehört, habe ich mir als junge Osteopathin nicht gestellt. Ja, das Sterben gehört grundsätzlich zum Leben dazu, aber was hatte das mit meiner Arbeit zu tun? Das betrifft doch überwiegend alte Leute, oder? Es gab für mich erstmal keinen Anlass, mich mit dem Thema zu beschäftigen.

So kam es, dass ich mit dem Tod eines Patienten unvorbereitet konfrontiert wurde. Nicht, dass es in meinem näheren Umfeld noch keine Todesfälle gegeben hätte. Aber bis dato hatte ich den Tod noch nicht als Therapeutin erlebt. Ich hatte eine Idee vom Tod und Sterben und hatte mir dazu auch schon Gedanken gemacht, mich spirituell damit auseinandergesetzt. Auf einer professionellen Ebene hatte ich mich mit diesem Thema aber noch nicht beschäftigt.

Palliative osteopathische Sterbebegleitung

Ein 50-jähriger Patient kam nach einem Langstreckenflug zurück aus Asien mit einer Schwäche des M. peroneus in meine Praxis. Laut ärztlichem Befund war diese auf eine Kompression des N. peroneus durch das Übereinanderschlagen der Beine während des Fluges zurückzuführen. Ich behandelte den Patienten ein Vierteljahr lang 1–2-mal im Monat. Gleichzeitig erhielt er 2–3-mal pro Woche Physiotherapie. Der Mann war ein dynamischer Marathonläufer, der das ihm verordnete Übungsprogramm gewissenhaft absolvierte. Das Behandlungsergebnis war trotzdem unbefriedigend.

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Abb. 1 In der Begleitung Sterbender ist es wichtig, empathisch und präsent zu sein, aber zum Eigenschutz dennoch auch distanziert. Foto: © istockphoto

Ich hatte ein komisches Gefühl, irgendetwas stimmte nicht, ohne dass ich das mit meinen mir damals zur Verfügung stehenden osteopathischen Mitteln hätte verifizieren können. Weil sich der Befund objektiv zusehends verschlechterte, intervenierte ich beim behandelnden Neurologen so lange, bis der Patient zu einer umfangreichen Diagnostik in eine Spezialklinik überwiesen wurde. Nach 3 Wochen sahen wir uns wieder, die Diagnose: amyothrophe Lateralsklerose.

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine rasch voranschreitende, degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Von der Krankheit betroffene Menschen verlieren kontinuierlich Muskelsubstanz an Armen und Beinen, am Sprech-, Kau- und Schluckapparat. Die Krankheit verläuft sehr unterschiedlich. Die meisten Patienten leben bei fortschreitender Lähmung noch 3–5 Jahre, meistens bei vollem Bewusstsein.

Mein Patient und seine Frau waren bereits gut informiert, sie wussten – zumindest theoretisch –, was auf sie zukommen würde. Sie bedankten sich für meine Hartnäckigkeit, da die Diagnosestellung sonst mit Sicherheit wesentlich später erfolgt wäre. Ab jetzt war Zeit kostbar.

Das Paar reiste noch einmal nach Asien. Etwa 1 Jahr nach unserem ersten Kontakt nahmen die Lähmungen zu, sodass der Patient innerhalb kürzester Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen war. Bis dahin hatte ich noch nie über osteopathische Hausbesuche nachgedacht. Nun ergaben sich diese fast von selbst. Im Nachhinein betrachtet gehört das Behandeln zu Hause (oder in einer palliativen Abteilung) als einer der wesentlichen Faktoren bei der osteopathischen Begleitung von Sterbenden dazu.

Ich behandelte bei dem Patienten nun jeweils die Region oder das Organ, das am meisten „Unruhe“ machte. Oft waren es die Leber auf viszeraler Ebene und die reziproken Spannungsmembranen im kranialen Bereich. Häufig ging es darum, den Patienten darin zu unterstützen, zur Ruhe zu kommen.

Es fühlte sich für mich an, als würde sein Körper Abschnitt für Abschnitt sterben. Es kehrte mehr und mehr Stille in ihm ein, und auch äußerlich, denn mein Patient konnte bald nicht mehr sprechen und schlucken. Er war aber immer sehr wach und präsent.

Wir hatten über das Sterben gesprochen, wo er sterben wolle und wie: in Ruhe und zu Hause. So sorgfältig, wie er früher sein Marathontraining geplant hatte, hatte er sich im Wissen um sein baldiges Ende über sein Verhältnis zu seinen Freunden und Angehörigen Gedanken gemacht. Er hatte Dinge gesagt und geklärt, die noch gesagt werden mussten, finanzielle Angelegenheiten erledigt und auch schon über seine Beerdigung nachgedacht. Nicht jeder Mensch kann das, aber das respektvolle Daraufhinweisen, ob alles, was es zu erledigen, zu sagen und zu ordnen gibt, auch getan ist, gehört manchmal auch zu unseren therapeutischen Aufgaben, damit ein Patient in Ruhe und innerem Frieden sterben kann. Unser Vorteil als Therapeut ist, dass wir nicht zu nah sind und nicht zur Familie gehören. Wir wahren einen gewissen professionellen Abstand und haben dennoch ein intimes – im Sinne von sehr nahes und vertrautes – Verhältnis zu dem jeweiligen Menschen.

Eines Tages kam ich zum Hausbesuch und merkte schon beim Betreten der Wohnung, dass eine besondere, ruhige und gelassene Stimmung herrschte. Beim Behandeln des Patienten spürte ich eine von tief innen kommende Stille, die sich in ihm ausbreitete. Ich konnte gut spüren, dass ihm dabei wohl war. Ich war mir sicher, er wusste, dass er bald sterben würde. Im Stillen dankte ich ihm dafür, dass er so viel Vertrauen zu mir hatte und ich ihn auf seinem Weg begleiten durfte, und nahm dann in Demut von ihm Abschied. Als ich am Ende der Behandlung war, spürte auch seine Frau, dass es wahrscheinlich mein letzter Besuch gewesen sein würde.

Rückblickend bin ich froh, dass mich dieser Patient damals nicht gefragt hatte, ob ich ihn bei seinem Sterbeprozess begleiten würde. Sicher hätte ich es mir nicht zugetraut und abgelehnt, soviel Verantwortung zu übernehmen. So war aber unausgesprochen klar, dass ich die Behandlung, die ich derzeit begonnen hatte, auch beenden würde. Natürlich war mein ursprüngliches Behandlungsziel ein komplett anderes gewesen. Mir kam damals sehr entgegen, dass auch ich fast 2 Jahre Zeit hatte, um mich auf sein Sterben vorzubereiten.

Was habe ich in dieser Zeit gelernt, was ist für mich als Osteopathin wichtig, wenn ich einen Menschen auf seinem Weg zum Tod osteopathisch begleite? Meines Erachtens ist es wesentlich, dass man sein persönliches Verhältnis zum Tod und zum Sterben geklärt hat, wenn man als Osteopathin in diesem Bereich arbeitet. Was bedeuten Sterben und Tod für einen selbst? Was glaubt man, passiert nach dem Tod oder eben auch, was passiert nicht? Wie ordnet man den Übergang vom Leben zum Tod spirituell ein? Ist man selbst bereit zu sterben? Wie geht man mit dem möglichen Sterben von Familienmitgliedern oder Freunden um? Das alles sind Fragen, denen wir uns stellen müssen. Für mich war es dabei hilfreich, mich mit Texten der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross auseinanderzusetzen [1], [2].


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Ein überraschender Verlust

Das nächste Mal, dass einer meiner Patienten starb, war das genaue Gegenteil von dem ersten beschriebenen Fall. Ich hatte gerade meine Ausbildung in Kinderosteopathie abgeschlossen, meine eigenen Kinder waren noch klein, und wie zum eigenen Schutz als Mutter hatten Sterben und Kind für mich miteinander nichts zu tun.

Eine knapp 40-jährige Mutter kam mit ihrem 3 Wochen alten Sohn in unsere Praxis. Es war ihr 3. Kind und sie kam auf Anraten ihres Kinderarztes. Das Neugeborene hatte einen ausgeprägten Schiefhals, massive Verdauungsstörungen und einen deutlichen Plagiozephalus im okzipitalen, temporalen und frontalen Bereich rechts. Die Mutter berichtete von einer schwierigen Schwangerschaft mit Blutungen zwischen der 7. und 9. Schwangerschaftswoche und vorzeitigen Wehen. Sie selbst habe sich, im Gegensatz zu den beiden vorherigen Schwangerschaften, nicht wohl gefühlt.

Der kleine Junge lag ruhig auf meinem Behandlungstisch, während ich ihn untersuchte und behandelte. Ich fand mechanische Auffälligkeiten, wie sie bei einem Schiefhals häufig auftreten: einen Beckenschiefstand, eine Dysfunktion des Os sacrum und eine erhöhte Zwerchfellspannung. Alle Diaphragmen waren sehr gespannt. Außerdem wirkte das Kind „noch nicht angekommen“, es war noch nicht richtig da und der Ausdruck des Primären Respiratorischen Mechanismus (PRM) war sehr reduziert. Das beunruhigte mich nicht, denn das findet man ja häufiger mal. Im Nachhinein hätte die geringe Vitalität des PRM mich stutzig werden lassen sollen, aber damals dachte ich, das sei auf die schwierige Schwangerschaft und Geburt zurückzuführen.

Nach der ersten Behandlung verbesserte sich der Befund bei dem Neugeborenen. Alles wirkte symmetrischer und auch der PRM drückte sich kräftiger aus. Ich bestellte Mutter und Kind für 2 Wochen später zur nächsten Behandlung. In der Regel halten unsere Patienten ihre Termine zuverlässig ein und so wunderte ich mich, dass die Mutter mit ihrem Kind nicht zur Behandlung erschienen war. Ich wartete zur vereinbarten Uhrzeit 10 Minuten und griff dann zum Telefon, um nachzufragen, ob sie den Termin vergessen habe. Der Vater war am Apparat und fragte, ob ich denn nicht wüsste, dass ihr Sohn letzte Woche gestorben sei. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Er sei am plötzlichen Kindstod gestorben, erklärte er mir. Ich kondolierte und wünschte der Familie noch viel Kraft in dieser schweren Zeit.

Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich in mich und fragte mich, ob ich es hätte wissen oder ahnen können. Heute, 15 Jahre später und einiges an Berufserfahrung reicher, würde ich sagen: Ja, ich hätte es ahnen können. Aber welche Konsequenz hätte es gehabt? Ich bin nicht so vermessen zu behaupten, ich hätte es verhindern können. Jedenfalls habe ich aus diesem Todesfall viel gelernt – im Umgang mit meinen eigenen Kindern und mit meinen Patientenkindern und deren Eltern. Ich begann, das Leben noch mehr wertzuschätzen und es nicht als selbstverständlich hinzunehmen, gesunde Kinder zu haben. Ich versuche diese positive Grundhaltung dem Leben und dem Kind gegenüber in unserer Praxis allen Eltern zu vermitteln. Ich möchte sie besonders darauf hinweisen, was ihr Kind gut kann, denn gerade das verlieren sie bei verhaltensauffälligen, behinderten oder chronisch kranken Kindern schnell aus den Augen. Und ich selbst bin noch wachsamer geworden, habe gelernt, mein „komisches“ Gefühl ernst zu nehmen. Ich versuche den Patienten alles zu geben, wonach sie fragen. Ich bitte meinen Kollegen um eine zweite Meinung und tausche mich mit dem Kinderarzt aus, wenn ich der Meinung bin, dass etwas nicht stimmt. Den Eltern sage ich davon allerdings nichts. Denn ich möchte, dass sie ihrem Kind unvoreingenommen begegnen können, und keine Ängste schüren, wenn es nicht notwendig ist. Schließlich sind wir keine Wahrsager – Intuition hin oder her.


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Unterstützung beim Sterbeprozess

Manchmal bekommt man ein Kompliment und versteht erst einmal nicht, dass es eines ist. Das ist Ihnen bestimmt auch schon einmal so gegangen. Wir haben unsere Praxis auf dem Land und z. T. sind alle Generationen einer Familie bei uns Patienten. Dieser Tatsache hatte ich es zu verdanken, dass eines Tages die 65-jährige Schwiegermutter einer Patientin mit der Begründung zu mir zur Behandlung kam, sie habe schon so viel Gutes über uns gehört.

Bei der Anamnese gab sie an, 2 Jahre zuvor wegen eines Mammakarzinoms operiert worden zu sein. Sie wurde anschließend erst bestrahlt und bekam dann noch über ein halbes Jahr Chemotherapie. Sie kam, weil sie insgesamt etwas für ihr Wohlbefinden tun wollte. Ich persönlich habe ein sehr kritisches Verhältnis zur „Wellnessosteopathie“, wollte die Dame aber nach der ausführlichen Anamnese nicht ohne Behandlung wieder wegschicken.

Also untersuchte ich sie von Kopf bis Fuß. Außer dass sie von Zeit zu Zeit Kopfschmerzen hatte, gab sie keine Symptome an. Ich fand ein paar Dysfunktionen im Bereich des Bewegungsapparats, weitere im Bereich von Leber und Darm, der linke Lungenflügel war operationsbedingt restriktiv und die Mobilität in den kranialen Membranen war deutlich eingeschränkt.

Da war es wieder, das komische Gefühl. Nicht greifbar, keine wirklich signifikante Einschränkung, aber ein Mangel an Vitalität des PRM, der nicht zu der sonst ganz munteren Patientin passte. Beiläufig fragte ich sie, wie oft sie denn zur Nachkontrolle müsse. Sie antwortete, sie sei vergangene Woche erst beim CT gewesen und hätte morgen eine Besprechung beim Onkologen. Ich behandelte die Dysfunktionen, die mir relevant erschienen, und vereinbarte, dass sie sich melden sollte, falls sie eine weitere Behandlung haben wolle.

Nach 2 Wochen rief die Patientin erneut an und bat um einen Termin. Sie kam und berichtete, wie gut es ihr nach der Behandlung gegangen sei. Die Verdauung funktionierte besser, sie habe besser geschlafen und insgesamt sei sie emotional stabiler. Ich fragte sie zu Beginn der Behandlung, wie denn der Befund der Nachkontrolle gewesen sei. Da wurde sie plötzlich ganz ruhig. Man hätte 2 Metastasen gefunden, in der Leber und im Gehirn. Auf Anraten des Onkologen würde sie nächste Woche erneut mit einer Chemotherapie beginnen. Sie fragte mich, ob ich sie in den Wochen zwischen der Chemotherapie jeweils behandeln könne. Ich schluckte innerlich – das würde kein Spaziergang werden. Aber ich sagte zu, und wir sahen uns von da an alle 3 Wochen.

In den darauffolgenden Wochen und Monaten funktionierte insbesondere die Verdauung sehr schlecht und auch die Atmung war eingeschränkt. Ich versuchte, so sanft wie möglich die immer schwächer werdende Patientin zu unterstützen. Wir klärten schnell miteinander, dass ihr und mir wohler war, wenn sie während der Behandlung ihre Perücke ablegte. Bei jeder Behandlung fielen mehr innerliche Mauern. Schnell kamen wir zu den Dingen im Leben, die für sie noch wichtig waren.

In dieser Zeit war ich sehr dankbar für meine Kommunikationsausbildung, die ich in den letzten 3 Jahren absolviert hatte. Präzises Ausdrücken und Hinterfragen waren mir als Osteopathin damals eine große Stütze. Ebenfalls war es wichtig, um meine persönlichen Grenzen zu wissen und sie zu meinem eigenen Schutz zu respektieren. Ich machte mir zu dieser Zeit absichtlich keine Gedanken darüber, wie ich in der eigenen Familie mit so einer Problematik umgehen würde. Diese innere Auseinandersetzung hob ich mir für die Zeit danach auf. Auch meinen persönlichen Gefühlen wollte ich Raum geben können; während den Behandlungen jedoch brauchte ich aber immer wieder Distanz.

Wir unterhielten uns vor und nach den Behandlungen viel über Themen, die sie persönlich bedrückten, aber nie über das Sterben an sich, obwohl es naheliegend gewesen wäre. Irgendwann sprach ich das Thema Tod an, denn es war offensichtlich, dass sie nicht mehr lange leben würde. Ich tat das, während meine Hände an ihrem Zwerchfell lagen, ich sie aber nicht direkt anschaute. Die Spannung unter meinen Händen löste sich sofort auf. Sie sagte, es sei sehr schwierig, denn ihr Umfeld sei der Meinung, „es würde schon wieder werden“. Sie selbst aber merke, dass dem nicht so sei. Wir sprachen darüber, warum die Familie damit solche Schwierigkeiten habe und wie sie darauf reagieren könne. Ich machte ihr Mut, dieses Thema mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Freunden anzugehen, damit das, was sie ausdrücken wollte, noch Zeit und Raum finden könne. Für mich waren unsere Treffen mindestens so sehr Coaching wie osteopathische Behandlung. Irgendwann sagte, sie fürchte, sie könne nicht mehr lange zu den Behandlungen kommen; sie sei zu schwach, um die Fahrt noch weiter auf sich zu nehmen. Sie fragte, ob es mir möglich sei, sie zu Hause weiter zu begleiten, was ihr enorm wichtig sei. Die Ruhe und das Wohlsein nach der Behandlung trage sie.

Da war er wieder: der osteopathische Hausbesuch. Ich behandelte die Patientin die letzten 4 Wochen ihres Lebens in ihrer eigenen Wohnung. Die Behandlungszeiten legte ich so, dass mir Zeit blieb, um meine innere Mitte zu finden und zu halten. Nach den Behandlungen nahm ich mir jeweils Zeit, um spazieren zu gehen, sodass ich wieder genügend Abstand hatte, bevor ich weiter arbeitete. Ich spürte, dass ich für mich genauso viel Sorge tragen musste wie für meine Patientin. Dies wurde mir damals bewusst. Für mich gehört die eigene Fürsorge im hohen Maß zur professionellen Berufsausübung. Ich kann mich meiner Meinung nach nur gut um meine Patienten kümmern, wenn ich mich vorher gut um mich selbst gekümmert habe. Dazu gehört auch, dass ich meine geplanten Ferien einhalte.

Die Ferien standen an und ich sagte meiner Patienten, dass ich nun für 2 Wochen nicht kommen könne. Wir verabschiedeten uns und sie bedankte sich für alle Unterstützung, die ich ihr in dem letzten dreiviertel Jahr gegeben hatte. Sie und auch ihre Familie seien nun ruhig. Das letzte Jahr sei das wertvollste, das sie in ihrem Leben gelebt habe. Sie bedauerte, nicht vorher jemanden gehabt zu haben, mit dem sie so gut hätte reden können.

Als ich aus den Ferien zurückkam, lag der Umschlag mit der Todesanzeige in der Post. Die Patientin war an meinem ersten Ferientag im Kreise ihrer Familie gestorben. Ganz ruhig und friedlich, wie mir ihr Sohn später erzählte. Auch er sagte, dass die Zeit davor für ihn sehr wertvoll gewesen sei.


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Fazit

Zusammenfassend kann ich sagen, dass in meinen Augen eine osteopathische Begleitung Sterbender nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist. Wir können möglicherweise krankheits- oder stressbedingte körperliche Symptome lindern oder abmildern, aber auch über unsere Arbeit mit dem vegetativen Nervensystem und ZNS die Patienten darin unterstützen, gelassener in ihrer schwierigen Situation zu sein. Als Behandelnder braucht es jedoch dafür ein paar Voraussetzungen; nicht nur eine respektvolle, kritische und ruhige osteopathische Herangehensweise, sondern vor allen Dingen Selbst-Bewusst-Sein. Das Wissen um eigenen Schwachstellen und einen guten Umgang mit ihnen sind Voraussetzung, denn wir sollten uns nicht zu viel zumuten, sondern auch Raum lassen für die eigene Verarbeitung des Geschehenen. Die spirituellen „Hausaufgaben“ mit der zentralen Frage „Was bedeutet der Tod für mich?“ sollten meiner Meinung nach vorher gemacht worden sein. Auch das Wissen über die Macht der Sprache kann hilfreich sein. Es ist wichtig, Sterbenden Raum zu geben, um sich von eher emotional geladenen Situationen innerhalb der Familie zu entlasten. Haben wir diese Themen gut in uns selbst integriert, sodass wir unser eigenes Fulkrum behalten können, sind wir sicher gut auf die Höhen und Tiefen des Lebens vorbereitet. So können wir dem Tod als Teil der Gesundheit in Frieden begegnen.

Ein wesentlicher Impuls für die Entwicklung der Osteopathie war für Still der frühe Tod zwei seiner Kinder und eines Adoptivkinds [3]. Er arbeitete sein Leben lang mit Patienten, die vom Tod bedroht waren und konnte einige retten, andere nicht. Die Situation heutiger Osteopathen ist meist eine andere; wir sind seltener mit solch extremen Situationen konfrontiert. Jedoch ist es auch für uns heutzutage wichtig, uns mit dem Thema Tod und Sterben auseinanderzusetzen und dies im Sinne einer ganzheitlichen Osteopathie nicht auszuklammern. Dabei müssen wir sehen, wo unsere persönlichen Grenzen bei der Arbeit sind und sie u. U. neu auszuloten.


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Christina Thomas D. O.

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Christina Thomas war ursprünglich Physiotherapeutin und machte 2000 am College Sutherland ihr Examen. Sie ist seit 2001 Heilpraktikerin, seit 2003 D.O. und arbeitet als Osteopathin in der Nähe von Zürich. Sie ist Präsidentin der Deutschschweizer Sektion (ohne Bern) des Schweizer Verbandes der Osteopathen (SVO).

  • Literatur

  • 1 Kübler-Ross E. Interviews mit Sterbenden. Freiburg: Kreuz; 2014
  • 2 Kübler-Ross E. Über den Tod und das Leben danach. Güllesheim: Silberschnur; 2012
  • 3 Still AT. Das große Stillkompendium. Pähl: Jolandos; 2005

 

Christina Thomas D. O.
Widenbüelstr. 16
8617 Mönchaltorf
Schweiz

  • Literatur

  • 1 Kübler-Ross E. Interviews mit Sterbenden. Freiburg: Kreuz; 2014
  • 2 Kübler-Ross E. Über den Tod und das Leben danach. Güllesheim: Silberschnur; 2012
  • 3 Still AT. Das große Stillkompendium. Pähl: Jolandos; 2005

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Abb. 1 In der Begleitung Sterbender ist es wichtig, empathisch und präsent zu sein, aber zum Eigenschutz dennoch auch distanziert. Foto: © istockphoto