physiopraxis 2014; 12(06): 42-43
DOI: 10.1055/s-0034-1384230
physiotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Was im Alltag schwerfällt

Die patientenspezifische Funktions-Skala
Benjamin Schäfer

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Publication Date:
18 June 2014 (online)

 

Ob sich Funktion und Aktivität durch die Behandlung aus Sicht des Patienten verbessert haben, können Therapeuten mit der patientenspezifischen Funktions-Skala (PSFS) herausfinden. Zudem hilft die Skala dabei, Therapieziele festzulegen und geeignete Maßnahmen zu finden.


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Benjamin Schäfer

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Benjamin Schäfer, BSc, ist Physiotherapeut im DRK Schmerz-Zentrum Mainz und Mitglied des Arbeitskreises „Schmerz und Bewegung“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Berufsbegleitend absolviert er derzeit ein Masterstudium in Therapiewissenschaften an der Hochschule Fresenius in Idstein.

Die meisten Therapeuten haben es schon einmal erlebt: In der letzten Behandlung klagt der Patient, es habe sich nichts verändert und seine Beschwerden seien noch genauso stark wie zu Beginn der Therapie. Der Physiotherapeut weiß jedoch, dass sich bestimmte Funktionen und Aktivitäten verbessert haben. Mit der patientenspezifischen Funktions-Skala (PSFS) kann er dem Patienten die Fortschritte widerspiegeln. Bei diesem Assessment hält der Therapeut zu Beginn und am Ende der Therapie schriftlich fest, wie leicht oder schwer dem Patienten drei Aktivitäten aus dem täglichen Leben fallen. So kann er ihm beispielsweise aufzeigen, dass das Treppensteigen nach der Behandlung deutlich besser klappt – auch wenn die Schmerzen am Ende der Therapie zunächst unverändert sind oder sich nur minimal verbessert haben. Gerade bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Alltagsaktivität zu richten [3, 5].

Drei Alltagsaktivitäten als Referenz

Zu Beginn der Behandlung wählt der Therapeut zusammen mit dem Patienten drei individuelle Aktivitäten aus dem täglichen Leben aus. Diese sollten für den Patienten schwer durchzuführen sein und häufig im Alltag vorkommen, zum Beispiel Schuhebinden, Radfahren oder Treppensteigen. Es dürfen keine Aktivitäten sein, die der Patient vermeidet, da er diese nicht bewerten kann. Bereits die Auswahl der „Activities of daily living“ ist für den Therapeuten interessant, denn der Patient „inventarisiert“ [4]: Er lässt sich seinen Alltag durch den Kopf gehen und benennt Situationen, die ihm dabei am meisten Probleme bereiten. Oft lässt sich auf diesem Weg herausfinden, ob ein Patient dazu neigt, die Zähne zusammenzubeißen oder ob er Unangenehmes eher vermeidet. Zudem wird der Therapeut durch das gemeinsame Durchdenken der Alltagsaktivitäten auf mögliche Therapieziele und -inhalte aufmerksam gemacht. Bei Dauerpatienten kann er überprüfen, ob die festgesetzten Therapieziele noch aktuell sind.


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Nicht die Schmerzen, sondern die Aktivität bewerten

Sind die Aktivitäten ausgewählt, bewertet der Patient auf einer Skala von null bis zehn, wie schwer sie ihm fallen. Der Therapeut kann helfen, indem er ihn zum Beispiel fragt: „Wie schwer ist Ihnen das Treppensteigen in der vergangenen Woche gefallen? ‚Null‘ würde bedeuten, dass es Ihnen überhaupt keine Schwierigkeiten bereitet hat, ‚zehn‘, dass es für Sie unmöglich war.“ Manche Patienten finden es schwierig, zwischen Schmerzen und Funktion zu unterscheiden. Hilfreich ist dabei die Anleitung: „Bitte bewerten Sie nicht Ihre Schmerzen, sondern wie schwierig es für Sie ist, die Aktivität durchzuführen.“

In der letzten Behandlungseinheit bewertet der Patient erneut, wie ihm die Alltagshandlungen gelingen. Anschließend überprüft er mit dem Therapeuten, ob sich diese verbessert haben (Tab.)

Tab.

In diesem Beispiel schätzt der Patient alle drei gewählten Aktivitäten nach der Behandlung als weniger problematisch ein als zu Beginn der Therapie.

Aktivität

Wert beim Eingangstest (vor der ersten Therapie)

Wert beim Re-Test (in der letzten Behandlung)

Schuhebinden

6

1

Radfahren

5

3

Treppensteigen

7

5


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Besonders hilfreich bei multilokulärer Symptomatik

Therapeuten können die PSFS sehr gut bei Patienten mit chronischen Schmerzen, neurologischen oder internistischen Erkrankungen anwenden. Besonders hilfreich ist das Assessment, wenn ein Patient eine multilokuläre Symptomatik hat – er also an mehreren Stellen unter Schmerzen und Funktionseinschränkungen leidet – und der Therapeut somit sehr viele Parameter evaluieren und die Therapieergebnisse mit dem Patienten durchsprechen müsste. Dadurch dass der Patient die mit der PSFS zu bewertenden Aktivitäten selbst ausgewählt hat, ist immer sichergestellt, dass sie eine hohe Relevanz für ihn haben. Legen Therapeut und Patient die Aktivitäten auch als Therapieziele fest, steigert deren hohe Relevanz außerdem die Adhärenz in der Behandlung. Das heißt, es fällt dem Patienten umso leichter, Empfehlungen zu Verhaltensänderungen und therapeutische Maßnahmen wie Übungen tatsächlich umzusetzen.

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Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
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In der ursprünglichen Version des Assessments von Paul Stratford und Kollegen („patient-specific measure“) bewerten die Patienten die Durchführbarkeit der gewählten Aktivitäten. Anna Beurskens änderte das Original-Assessment in eine aktivitätsbezogene Schmerzskala um [1]. Das bedeutet, dass die Patienten die Schmerzen angeben, die sie während der Aktivität empfinden. Beide Ansätze sind möglich. Doch auf Grundlage des Salutogenese-Prinzips empfiehlt es sich, die Aufmerksamkeit nicht auf den Schmerz zu lenken, sondern die Patienten wie in der ursprünglichen Version einschätzen zu lassen, wie gut oder schlecht sich eine Aktivität durchführen lässt.


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Gute Validität und Reliabilität

Mehrere Wissenschaftler haben untersucht, wie valide und reliabel die PSFS ist, und bescheinigten dem Assessment für beide Kriterien gute Werte [1, 2, 6, 7]. Die Korrelation mit den Werten des anerkannten Roland Morris Disability Questionnaire lagen mit r = 0,53–0,88 im moderaten bis exzellenten Bereich [6]. Optimal ist der Wert „1,00“. Der Test-Retest-Reliabilitäts- Koeffizient war ebenfalls sehr gut: Der Intraklassen-Koeeffizient (ICC) betrug 0,97 [6]. Auch hier wäre der Wert „1,00“ optimal.

AKTIVITÄTEN

Vorschläge für die PSFS bei unterem Rückenschmerz [4]

  • > gehen (auf ebenem oder unebenem Gelände)

  • > stehen

  • > Treppen steigen

  • > laufen

  • > aufstehen (aus dem Bett oder von einem Stuhl)

  • > lang sitzen

  • > heben

  • > nach vorne beugen

  • > an- und ausziehen

  • > im Bett liegen

  • > Fahrrad fahren

  • > Gartenarbeit

  • > tanzen

  • > putzen (zum Beispiel saugen oder Fenster putzen)

  • > bügeln

  • > Bett machen

In der englischen Originalversion des PSFS ist die Bewertung übrigens entgegengesetzt: Die maximale Einschränkung enspricht null Punkten, keine Einschränkung bei der Aktivität zehn Punkten [6].

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Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
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Die Erfahrung zeigt, dass es den Patienten häufig schwerfällt, adäquate Aktivitäten für die PSFS zu finden. In diesem Fall kann der Therapeut Vorschläge nennen („Aktivitäten“). Gelegentlich fallen den Patienten nur Aktivitäten ein, die ihnen zu einem Zeitpunkt mit geringer Schmerzintensität keine Schwierigkeiten und bei einer Schmerzattacke große Probleme bereiten und deswegen nicht als generell „leicht“ oder „schwer“ bewertbar sind. Dies erschwert die PSFS, macht sie jedoch nicht unmöglich: Der Patient soll die Aktivität dann in der Phase bewerten, in der er körperlich eingeschränkt ist.


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