Steigende Asylantragszahlen
Steigende Asylantragszahlen
Im vergangenen Jahr hat sich der seit 2008 abzeichnende Trend eines wieder wachsenden
Zustroms von Asylsuchenden nach Deutschland fortgesetzt und augenscheinlich verstärkt.
Von den über 200 000 im Jahr 2014 in Deutschland gestellten Asylanträgen handelte
es sich in über 85 % um Erstanträge auf Asyl, was im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg
um rund 58 % bedeutet. Gemessen an der Gesamtzahl der gestellten Asylanträge handelte
es sich beim Jahr 2014 um das Jahr mit den vierthöchsten Antragszahlen seit Bestehen
der Bundesrepublik.
Bisher sind nur in den Jahren 1991 – 1993 mehr Asylanträge verzeichnet worden, wobei
alleine in 1993 knapp 440 000 Erst- und Folgeanträge auf Asyl gestellt wurden. Anhand
der Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge lässt sich seit den 1970er-Jahren
ein wellenartiger Verlauf der Asylantragszahlen nachvollziehen. Dabei wechseln auch
die zugangsstärksten Herkunftsländer der Asylsuchenden, was im Wesentlichen die jeweilige
politische Situation in Europa und in der Weltgemeinschaft reflektiert. Im Jahr 2014
kam annähernd ein Viertel aller Asylerstantragsteller aus Syrien [1]. Knapp 10 % aller Asylerstanträge stellten im gleichen Jahr Menschen aus Serbien,
gefolgt von Eritrea (7,6 %) und Afghanistan (5,3 %). Wenn sich die jüngste Entwicklung
der Asylantragszahlen fortsetzt, werden am Ende des laufenden Jahres nochmal deutlich
mehr Asylsuchende in Deutschland Zuflucht gesucht haben als in 2014. Da die Aufnahme
von Asylsuchenden bereits 2014 die Länder, Städte und Kommunen in Deutschland vor
zum Teil erhebliche Probleme gestellt hat, erscheinen die offenen Fragen nach einer
angemessenen Unterbringung, den Möglichkeiten einer Integration oder der gesundheitlichen
Versorgung von Asylsuchenden gegenwärtig umso drängender.
Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit
Psychodynamik der Fremdenfeindlichkeit
Unter dem Eindruck eines wachsenden Zustroms von Asylsuchenden hat sich im vergangenen
Jahr der öffentlich geführte Diskurs um das Thema Zuwanderung verschärft. Nicht zuletzt
hat die Formierung der Pegida-Bewegung, die ab Herbst 2014 in einigen Städten Deutschlands durch regelmäßige Demonstrationen
und Kundgebungen sichtbar wurde, zu einer Polarisierung der Meinungsbildung und Debatte
über die gegenwärtige Einwanderungs- und Asylpolitik beigetragen. Gleichzeitig haben
sich als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Strömungen vielerorts aber auch Bürger
zu Gegenbewegungen zusammengeschlossen und für mehr Toleranz, Offenheit und Integration
eingesetzt. Die Menschen, die hierzulande Asyl suchen, sind damit gewissermaßen zu
einer Projektionsfläche für gegensätzliche Auffassungen, Bewertungen und Emotionen
geworden, die in der Gesellschaft zu den Themen Zuwanderung, kulturelle oder nationale
Identität und Integration bestehen. Die Hintergründe und die Entwicklung solcher Phänomene
wie Pegida sind durch klassische Deutungsmuster und Erklärungstheorien der Soziologie zu Ursachen
von Vorurteilen und Feindbildern nicht mehr erschöpfend zu erklären. So scheint sich
eine ablehnende Haltung zum Thema Zuwanderung hierzulande längst nicht mehr nur auf
die Teile der Gesellschaft zu beschränken, die selbst von sozioökonomischen Nachteilen
betroffen sind und sich deshalb mit Zuwanderern in einer vermeintlichen Konkurrenzsituation
um knappe und begehrte Ressourcen sehen. Vielmehr mischt sich mit vordergründig rationalen,
ökonomischen und primär individualpsychologisch verankerten Gründen offensichtlich
ein triebhaft-irrationales Moment [2], dessen Erklärung eher in gruppenpsychologischen Phänomenen zu suchen ist. Ethologisch
ist die Furcht vor dem Fremden und dessen aggressive Abwehr zunächst als eine entwicklungsgeschichtlich
tief verwurzelte, archaische Reaktionsform zu verstehen, die vorzivilatorisch angelegt und der Organisation und Abgrenzung von Gruppenverbänden geschuldet ist
(vgl. [2]). In der Tradition entwicklungspsychologischer Theorien der Psychoanalyse wurde
in jüngerer Zeit mehr der ambivalente Charakter der Angst vor dem Fremden herausgearbeitet,
die zwischen Furcht auf der einen Seite und Neugier oder gar Lust auf der anderen
Seite zu oszillieren scheint. Nach Erdheim (1992 [2]) bildet sich neben einer Selbst- und Objektrepräsentanz zusätzlich eine Fremdenrepräsentanz aus, die die Grundlage für eine Beziehung zu einer Person darstellt, die eben nicht
die Mutter ist (zitiert nach [2]). Durch projektive Abwehrmechanismen besteht dabei das Risiko, dass die Fremdenrepräsentanz zum Ort externalisierter, abgelehnter bzw. gefürchteter und gleichzeitig gehasster
Selbstanteile wird. Kurz gesagt wird dadurch das Eigene zum Guten und das Fremde zum Bösen [3].
Das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit kann in dieser Lesart mithin als ein Symptom verstanden werden, das etwas über den psychosozialen Zustand einer Gesellschaft aussagt.
Die Ursachen und Auswirkungen von Fremdenfeindlichkeit müssen entsprechend genauer
analysiert und verstanden werden, um das hinsichtlich der Zivilgesellschaft selbstdestruktive
Potenzial besser erkennen und begrenzen zu können.
Psychische Gesundheit Asylsuchender
Psychische Gesundheit Asylsuchender
Trotz der bereits lange bestehenden Relevanz für das öffentliche Gesundheitswesen
gibt es bisher keine systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen über den Gesundheitszustand
und zur Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden in Deutschland [4]. In den wenigen systematischen Reviews zur Prävalenz psychischer Störungen bei Asylsuchenden
in westlichen Industrieländern wurden daher Untersuchungen aus Deutschland bisher
auch nicht berücksichtigt (vgl. [5]
[6]). Zur Prävalenz psychischer Störungen bei Asylsuchenden sind selbst international
nur wenige Untersuchungen durchgeführt worden. Die Prävalenzraten für psychische Störungen
bei Asylsuchenden und Flüchtlingen variieren in diesen Studien ganz erheblich, beispielsweise
für Depressionen von unter 3 % bis 80 % oder für Posttraumatische Belastungsstörungen
(PTBS) von 4,4 % bis 86 % [7]. Diese hohe Variabilität wird zum Teil auf methodische Unterschiede der Studien
zurückgeführt, könnte gleichzeitig aber auch die unterschiedlichen Bedingungen widerspiegeln,
auf die Asylsuchende in den jeweiligen Ankunftsländern treffen. Insgesamt sprechen
die Studienergebnisse aus westlichen Industrieländern dafür, dass Flüchtlinge und
Asylsuchende nahezu doppelt so häufig von Depressionen oder Angststörungen betroffen
sind wie sogenannte Arbeitsmigranten, und zwar unabhängig von den ökonomischen Rahmenbedingungen der Aufnahmeländer [5]. Zudem hat eine Reihe von Untersuchungen bestätigt, dass Asylsuchende im Vergleich
zur Mehrheitsbevölkerung oder zu anderen Migrantengruppen deutlich häufiger von PTBS
betroffen sind [6]
[8]. Korrespondierend sind für Asylsuchende neben hohen Raten von prämigratorischen
Traumatisierungen eine Reihe charakteristischer postmigratorischer Stressoren identifizierbar,
die zur Manifestierung oder zur Chronifizierung psychischer Störungen beitragen können.
In diesem Zusammenhang werden bspw. der unsichere Aufenthaltsstatus, Widrigkeiten
des Asylverfahrens, Erfahrungen von Diskriminierung und Vorurteilen, fehlende Arbeitsmöglichkeiten
und der erschwerte Zugang zur Gesundheitsversorgung genannt [9]
[10]
[11]. Gerade diese Umstände kennzeichnen aber vielerorts die Bedingungen, unter denen
Asylsuchende gegenwärtig in Deutschland leben.
Gesundheitsversorgung und psychosoziale Forschung
Gesundheitsversorgung und psychosoziale Forschung
Ein strukturelles Hauptproblem bei der medizinischen Versorgung von Asylsuchenden
liegt in den Limitationen, die das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) vorgibt.
In dem aus politischer Perspektive und seitens medizinischer Fach- und Sozialverbände
umstrittenen Regelungswerk ist festgelegt, dass sich die medizinische Versorgung von
Asylsuchenden ausschließlich auf akute Erkrankungen, Schmerzzustände oder lebensbedrohliche
Gesundheitsstörungen zu beschränken hat. Auf diesem Hintergrund ist es für Asylsuchende
besonders schwierig, eine angemessene psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung
zu erhalten. Die Bundespsychotherapeutenkammer fordert bereits seit Längerem, bundesweit
einheitliche Regelungen zu schaffen, nach denen Asylsuchende im Bedarfsfall einen
Zugang zum psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem erlangen können.
Das Risiko der gegenwärtigen Regelungspraxis besteht darin, dass ein großer Anteil
der Asylsuchenden mit schweren psychischen Störungen, insbesondere mit Traumafolgestörungen,
ohne Aussicht auf eine angemessene psychiatrische und insbesondere psychotherapeutische
Behandlung bleibt und somit psychisches Leid potenziell noch vergrößert wird. Die
DGPPN hat Ende des vergangenen Jahres deshalb nochmals gefordert, durch entsprechende
Maßnahmen die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden
in Deutschland zu verbessern [12]. Neben dem Aufbau einer interkulturellen Kompetenz im Versorgungssystem wurde ausdrücklich die gesetzliche Regelung einer Kostenübernahme
von Sprachvermittlern im Zusammenhang mit Gesundheitsleistungen angemahnt. Zudem wurde
eine bundesweite Einführung gestufter Behandlungsmodelle gefordert, da bestehende Versorgungsstrukturen bereits in der Vergangenheit nicht
ausreichten, um eine adäquate medizinische und vor allem eine psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgung dieser benachteiligten Patientengruppe zu gewährleisten.
Durch die Einführung der Gesundheitskarte für Asylsuchende soll aktuell in ersten Bundesländern, namentlich in Bremen und Hamburg,
der Zugang zu Gesundheitsleistungen erleichtert werden. Ob sich dadurch die Behandlungsmöglichkeiten
auch für psychische Störungen in der Praxis verbessern werden, bleibt zumindest zweifelhaft,
da nicht nur administrative Hürden, sondern im Einzelfall auch kulturelle und sprachliche
Barrieren überbrückt werden müssen. Da in vielen Regionen Deutschlands die psychotherapeutische
Versorgung grundsätzlich schon mit mehrmonatigen Wartezeiten auf einen Therapieplatz
verbunden ist, ist zu befürchten, dass die Zugangsbarrieren für Asylsuchende ungleich
höher bleiben, zumal sich durch die Einführung einer Gesundheitskarte die einschränkenden
Vorgaben des AsylbLG inhaltlich nicht ändern.
Ohne Frage gehört Deutschland in Europa zu den bevorzugten Zielländern von Asylsuchenden
und Flüchtlingen. Der gegenwärtig wieder wachsende Zustrom stellt nicht nur die Länder,
Städte und Kommunen vor enorme Probleme, sondern konfrontiert auch das Gesundheitssystem
mit neuen Herausforderungen und offenen Fragen, z. B. dazu wie eine angemessene Gesundheitsversorgung
für eine zunehmende Anzahl von Asylsuchenden aus unterschiedlichsten Herkunftsländern
und unter den genannten Bedingungen gewährleistet werden kann. Da bisher in Deutschland
keine Routinedaten zur gesundheitlichen Situation und zur Gesundheitsversorgung der
überaus heterogenen Gruppe der Asylsuchenden vorliegen, ist die Entwicklung innovativer,
sach- und bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen zusätzlich erschwert. Notwendig sind
daher förderliche Rahmenbedingungen für interdisziplinäre Forschungsansätze, in denen
die Situation von Asylsuchenden in Deutschland aus unterschiedlichen wissenschaftlichen
Perspektiven beleuchtet wird und deren Ergebnisse eine fundierte Grundlage für die
Asyldebatte liefern könnten. In jedem Fall bedarf es dringend neuer Signale von Akteuren
aus der Politik, der Zivilgesellschaft und der Sozialsysteme, die gleich auf mehreren
Ebenen durchgreifende Nachbesserungen der bestehenden Konzepte zur Aufnahme, Integration
und vor allem auch der Gesundheitsversorgung von Asylsuchenden initiieren.