Z Orthop Unfall 2014; 152(04): 299-301
DOI: 10.1055/s-0034-1390199
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizin für Menschen ohne Papiere – „Notfallambulanzen für jeden öffnen.“

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Publikationsdatum:
16. September 2014 (online)

 
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    Der Internist Dr. Herbert Breker arbeitet seit seiner Pensionierung ehrenamtlich für die Malteser Migranten Medizin (MMM) in Köln. Breker, geboren 1939, war nach eigenen Aussagen selber mal „Migrant“, arbeitete nach seinem Medizinstudium 7 Jahre in den USA, bevor er in verschiedenen deutschen Krankenhäusern tätig war. 2006 bekam er für seine Arbeit bei MMM den Ehrenamtspreis des Landes Nordrhein-Westfalen. Bild: R. Breker.

    Obdachlose, Menschen ohne Versicherung oder gar ohne legalen Aufenthaltsstatus – Stützpunkte der Malteser Migranten Medizin (MMM) in 12 Städten bieten diesen Gruppen heute eine erste medizinische Versorgung. Ein Arzt berichtet vom Alltag der Notversorgung in Köln.

    Breker: Wir hatten heute einen lebensbedrohlichen Notfall. Ein Bürger aus einem anderen EU-Land kam mit einer nekrotisierenden Faszitis. Er hat vermutlich keine Chance, wenn sein Bein nicht amputiert wird. Stellen Sie sich das einmal vor.

    ? Wie kam es dazu?

    Das ist eine Wundinfektion, die vermutlich verschleppt wurde. Der Mann hat keine Krankenversicherung, er lebt hier bei uns auf der Straße und ist Alkoholiker. Ich habe ihn als Notfall in ein Krankenhaus überwiesen. Zum Glück sehen wir solch schwere Fälle nicht alle Tage.

    ? In Köln gibt es die MMM seit 2005. Was bieten Sie an?

    Wir sind angeschlossen an ein Malteser- Krankenhaus, das St. Hildegardis-Krankenhaus hier in Köln, wo wir eine Ambulanz auf dem Klinikgelände angemietet haben. Wir bieten drei Behandlungstage in der Woche an, am Donnerstag ist der traditionelle Erwachsenensprechtag. Dienstags und freitags haben wir Sprechstunden für Kinder und auch eine zahnärztliche Behandlung wird angeboten.

    ? Behandlungstage, was heißt das?

    Dass zu den festgelegten Zeiten immer Ärzte da sind, die jeder ohne Anmeldung kontaktieren kann. 12 Ärzte arbeiten ehrenamtlich mit, die sich abwechseln. Wir haben außerdem ein Netz aus Fachärzten und einigen Kliniken. Sie können an Stelle einer Bezahlung von den Maltesern eine Spendenquittung erhalten. Der Betrag ist dann voll steuerlich absetzbar.

    ? Und wie viele Menschen kommen in etwa?

    Heute hatten wir 30 Patienten hier. 2013 haben wir über 3600 Patienten behandelt, davon 1132 Erwachsene. Meistens geht es um Schmerzzustände leichter Art, Hautproblemen oder auch Infektionen oder Karies. Oft Bagatellen, aber mitunter erleben wir auch echte Dramen wie heute.

    ? Wie groß ist die Gruppe der Menschen ohne Papiere bei Ihnen?

    Das waren letztes Jahr weniger als 150, etwa 10 bis 15 %. Die Zahl ist über die Jahre etwa konstant geblieben, prozentual sogar gesunken, weil eine andere Gruppe deutlich zunimmt. Es sind die EU-Bürger ohne Krankenversicherung.

    ? Wie viele Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus leben hierzulande?

    Man geht so von 400 000 bis 500 000 aus. In Köln schätzt man die Zahl auf 10 000 bis 20 000.

    ? Wer ist das?

    Das sind keine Leute, die auf der Straße leben, sondern vielmehr Menschen, die oft ganz hervorragend integriert sind, relativ viele Akademiker.

    ? Und die Arbeit haben?Und die Arbeit haben?

    Ja, es gibt so viele Grauzonen. In Restaurants, handwerklichen Betrieben, Selbstständigkeit. Ich denke an Jemanden, der Pharmazie studiert hat und 3 Sprachen spricht und der hier für eine Gebäudereinigung arbeitet – es geht ihm selbst in der Illegalität viel besser als in seinem Heimatland.

    ? Ihre Adresse und Öffnungszeiten sind im Internet zu lesen. Die Polizei müsste ja nur bei Ihnen vor der Türe stehen, wenn sie nach Menschen ohne Papiere fahndet?

    Nein, das gab es noch nie. Als wir angefangen haben, hatten wir eine Sitzung mit dem Bürgermeister der Stadt Köln. Wir hatten noch nie irgendwelche Probleme mit der Polizei.

    ? Angenommen ich habe eine Knie-Arthrose, lebe ohne Papiere, komme bei Ihnen vorbei. Was können Sie mir helfen?

    Wir werden immer versuchen, die Patienten symptomatisch zu behandeln, eine Salbe geben, eine Kniebandage und Anweisungen zur Gymnastik.

    ? Kostenlos?

    Ja, bei erkennbarer Mittellosigkeit des Patienten. Über Spenden haben wir einen gewissen Etat für Medikamente und Verbandstoffe. Für die Patienten ist solch eine erste Behandlung kostenlos, es sei denn, es geht um Medikamente, die wir nicht vorrätig haben. Dann muss ich sagen, hört mal, ihr müsst die Medikamente kaufen, ich kann hier nur ein Privatrezept ausstellen. Das wird dann auch meistens akzeptiert.
    Wir haben außerdem eine Kooperation bezüglich Laboruntersuchungen, nichtinvasiver Diagnostik wie EKG oder Echokardiographie, ebenso die akute Wundversorgung, was einen Qualitätsstandard unserer Einrichtung gewährleistet.
    Andererseits muss ich klar sagen, sobald es um planbare medizinische Leistungen geht, sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. Sonst wäre unser Budget innerhalb von 2 Wochen am Ende. Im Zweifel müssen wir überlegen, ob jemand nicht doch zum Sozialamt gehen kann, um einen Krankenschein zu holen.

    ? Und genau da steckt ja ein Haupthindernis dafür, dass solche Menschen die ihnen nach Asylbewerberleistungsgesetz zustehende Versorgung erst gar nicht in Anspruch nehmen. Sie haben Angst vor der Aufdeckung …

    Prinzipiell ist das so, ja. Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Ich habe vor ein paar Monaten einen Syrer behandelt, einen hochintelligenten Mann, der in Deutschland zunächst mit einem befristeten Aufenthaltstitel Sprachen studiert hat und danach ohne Papiere hier blieb. Er lebt seit 18 Jahren hier, finanziert als Dolmetscher sein Leben. Er kam mit einem diabetischen Fuß. Wir konnten ihn dazu bewegen, sich bei den Behörden zu melden.
    Dass er sich gemeldet hat, lag auch daran, dass ihn die Behörde derzeit nicht in ein Bürgerkriegsland abschieben kann. Er hat neben einem Duldungsstatus ein Anrecht auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen und konnte in einer diabetischen Fußambulanz behandelt werden. Er hat so seinen Fuß behalten, den er sonst sicher verloren hätte.

    ? Sollte sich die Lage in Syrien je stabilisieren, würde er womöglich eine Ausweisung erhalten?

    Ja, das ist denkbar, aber das muss man als Preis dann zahlen, es geht ja hier um bedrohliche Situationen.

    ? Das Asylbewerberleistungsgesetz bietet andererseits nur sehr eingeschränkte medizinische Leistungen, vor allem eine„Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“... Wieso hat das Sozialamt hier dennoch der Behandlung einer chronischen Erkrankung zugestimmt, eines Diabetes?

    Aber es wäre ja unsinnig, einen Patienten mit einem diabetischen Fuß nicht zu behandeln mit dem Argument, das sei eine chronische Erkrankung. Wenn ein diabetischer Fuß nicht behandelt wird, bleibt nur die Amputation. Nein, die Versorgung in solchen Fällen, ist auch nach Asylbewerberleistungsgesetz abgedeckt.

    ? Die Grenzen zwischen akut und chronisch sind fließend, da helfen juristische Spitzfindigkeiten nicht weiter?

    So ist es. Auch bei einem Diabetiker, der insulinpflichtig ist, kann ein Amt nicht sagen, da zahlen wir das Insulin nicht. Dann fällt der Betroffene nach ein paar Wochen vielleicht ins Koma. Das wäre unterlassene Hilfeleistung.

    ? Angenommen ich habe eine so starke Arthrose, dass Ärzte einem deutschen Versicherten ein künstliches Kniegelenk empfehlen würden … Und bei einer Versorgung nach Asylbewerberleistungsgesetz?

    Schwierig, das geht nicht. Da kann man nichts machen.

    ? Wie bewerten Sie diese Einschränkung? Der letzte Deutsche Ärztetag fordert eine Gleichbehandlung, die Regelversorgung für alle.

    Der genaue Wortlaut dieser Forderung ist mir nicht bekannt. Es sollte in unserem Interesse sein, dass eine Akut- und Notfallbehandlung für jeden hier Lebenden ermöglicht wird. Ich glaube allerdings nicht, dass eine allumfassende Behandlung für alle, auch die, die keine Krankenversicherung haben, möglich ist, da unser Krankenversicherungssystem auf dem Solidaritätsprinzip basiert, was nur funktioniert, wenn alle, Gesunde und Kranke ohne Unterbrechung einzahlen.

    ? Sagt jemand, der solchen Menschen in seiner Freizeit hilft …

    Praktische Hilfe, ja.

    ? Das Setting Notfall, ein Verkehrsunfall, womöglich ein Herzinfarkt?

    Wenn solche Patienten zu mir kämen, würde ich sie als Notfall sofort einweisen. Denn es gibt im SGBXII einen § 25, in dem steht, dass ein medizinischer Notfall ein Recht, einen Anspruch auf sofortige ärztliche Versorgung begründet. Wenn ein Patient lebensbedrohlich erkrankt ist, muss er stationär behandelt werden. Ich versuche dann oft, ein Krankenhaus in der Nähe des Wohnorts zu kontaktieren.

    ? Und die Krankenhäuser nehmen die Leute auch an?

    Sie müssen einen bedrohlichen Notfall aufnehmen. Andernfalls wäre dies ein Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Dass die Kostenerstattung mühsam werden kann, ist bekannt.

    ? Bislang gingen die Klinikleitungen meist im Nachhinein an die Sozialämter und versuchten dort, das Geld zu erhalten. Dabei gilt der verlängerte Geheimnisschutz. Das Sozialamt darf die Daten dann nicht an die Ausländerbehörde geben.

    Das ist richtig, ja.

    ? Funktioniert das?

    Ich habe zumindest noch von keinem Fall gehört, wo plötzlich die Polizei in der Klinik stand und Leute verhörte.

    ? Kennen Sie Fälle, wo Leute in der Not zum Sozialamt gegangen sind, die medizinische Behandlung vielleicht bekamen, dann aber abgeschoben wurden?

    Da kenne ich keinen Fall. Im Gegenteil, ich bin immer wieder überrascht, wie flexibel im Einzelfall agiert wird, und wie sehr humanitäre Faktoren eine Rolle spielen. Wir hatten hier vor einigen Jahren einen Indonesier ohne Papiere, der lebensbedrohlich mit einem Bauchaortenaneurysma erkrankt war. Der Fall ist dem Ausländeramt gemeldet worden, auch weil der Patient hier völlig ohne Angehörige und nicht mehr reisefähig war. Der Patient hat einen Duldungsstatus bekommen und sogar eine kleine finanzielle Unterstützung erhalten. Er verstarb wenige Monate später. Aber natürlich gehen viele aus Angst vor Entdeckung eben nicht zum Ausländeramt und verschleppen womöglich eine Erkrankung. Das ist nicht nur ein gesundheitliches Risiko für die Betroffenen, das ist für uns alle auch ein finanzielles Risiko, weil so am Ende die Notfallbehandlung viel teurer werden kann.

    ? Unter anderem aus der Bundesärztekammer gibt es die Forderung nach einem anonymen Krankenschein. Ist das eine Lösung?

    Es wäre eine Möglichkeit, aber ich bin skeptisch, weil dies neue Bürokratien schaffen würde. Ich könnte mir eine andere Lösung vorstellen.

    ? Als da wäre?

    Alle Notfall- und Akutbehandlungen sollten meiner Meinung auch bei uns barrierefrei sein – in den Ambulanzen der Krankenhäuser auch für Menschen ohne Krankenversicherung und ohne legalen Aufenthaltsstatus.

    ? Wer soll zahlen?

    Zum Beispiel ein staatlicher Fond. Das könnte man ja so regeln, wie es in Spanien praktiziert wird, in den Niederlanden, in England und auch in Italien. Dort gibt es überall ein nationales Gesundheitssystem, das in dieser Form für uns nicht unbedingt erstrebenswert ist. Aber die Notfalleinrichtungen in Krankenhäusern, die rund um die Uhr besetzt sind, stehen dort grundsätzlich jedem offen. Ob versichert oder nicht. Damit würden auch Menschen, die Angst vor Entdeckung haben, dort leichter hinfinden. Wir sollten dafür sorgen, dass Menschen nicht Angst haben müssen, einen Arzt zu sehen.

    Das Interview führte BE


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