Z Orthop Unfall 2014; 152(04): 304-305
DOI: 10.1055/s-0034-1390201
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizin für Menschen ohne Papiere – „Da kommt endlich Bewegung rein“

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Publication Date:
16 September 2014 (online)

 
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    Der Facharzt für Frauenheilkunde Dr. Ulrich Clever (Jahrgang 1953) ist seit 2011 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer und Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Bild: Landesärztekammer Baden-Württemberg.

    Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesärztekammer (BÄK) erklärt, warum er seit kurzem wieder optimistischer ist, dass der Gesetzgeber die Medizinische Versorgung für Asylbewerber und auch für Menschen ohne Aufenthaltspapiere verbessern könnte.

    ? Die Bundesärztekammer wie auch der letzte Deutsche Ärztetag fordern die Einführung eines anonymen Krankenscheins.

    Ja, und das fordern wir seit vielen Jahren. Wir hatten da zwischendurch so eine Phase, dass wir dachten, das wird wohl nichts werden. Jetzt aber haben wir da neue Signale, das ist ein bisschen anders in der letzten Zeit.

    ? Signale von wem und woher?

    Wir haben positive Entwicklungen auf mehreren Ebenen. Zum einen von Bremen ausgehend, mittlerweile auch in Hamburg, dass Asylbewerber eine Versichertenkarte in die Hand gedrückt bekommen. Allein das ist schon ein Fortschritt, den der Deutsche Ärztetag in diesem Jahr für ganz Deutschland als nachahmenswert bewertet hat.

    ? Was ist das für eine Karte?

    Eine Chipkarte, die es den Ärzten und Krankenhäusern in Bremen und Hamburg erlaubt, die Behandlung dieser Patienten mit der AOK abzurechnen.

    ? Damit wird deren Versorgung über die Beiträge aller Versicherten mitbezahlt?

    Nein. Das Geld wird in diesen Fällen am Ende vom Land bezahlt.

    ? Das gilt für Asylbewerber. Es gibt Menschen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, die theoretisch aber dennoch ebenfalls Anspruch auf medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben. Für diese Gruppe wollen sie eine Versorgung über einen anonymen Krankenschein?

    Richtig. Und die könnte am Ende eben auch über solch eine Karte aufgesattelt werden.

    ? Und wer soll dieser Patientengruppe den anonymen Schein, alias eine anonyme Chipkarte ausstellen?

    Es muss eine amtliche Stelle sein, die auf jeden Fall völlig unabhängig vom Ausländeramt der jeweiligen Kommune ist, und daher auch keinen Datenübertrag mit dem Ausländeramt hat.

    ? Datenübertrag?

    Das Asylbewerberleistungsgesetz fordert ja im §11 einen Datenabgleich zwischen Sozialamt und Ausländerbehörde. Asylbewerber haben damit keine Probleme. Für Menschen ohne Papiere aber steckt hier das Problem, denn sie fürchten ja gerade, von den Ausländerbehörden entdeckt zu werden. Sie würden daher von einem Anonymen Krankenschein enorm profitieren.

    ? Welche positiven Signale sehen Sie in jüngster Zeit noch?

    Im Hannoveraner Landtag ist derzeit ein Antrag der dortigen Regierungsfraktionen im Beratungsverfahren, nach dem das Konzept "anonymer Krankenschein" modellhaft in Göttingen und Hannover erprobt werden soll.

    ? Wer macht da mit?

    Es ist noch in der Planungsphase. Die Hannoveraner Obdachlosenbetreuung ist zum Beispiel dabei, die ja von der dortigen Krankenversicherung mit organisiert wird, vor allem auch von Frau Dr. Cornelia Goesmann, der ehemaligen Vizepräsidentin der BÄK.

    ? Und wer wird für die medizinische Versorgung dieser Menschen bezahlen? Für, wohlgemerkt, eine Versorgung im Schutze der Anonymität? Bislang gibt es eine Kostenübernahme ja nur, wenn diese Menschen sich outen, vor dem Arztbesuch zum Sozialamt gehen.

    Nach meiner Kenntnis sind diese Fragen auch in Hannover noch nicht völlig geklärt. Wahrscheinlich wird das eine Mischung werden, Geld des Steuerzahlers plus Spenden. Beiträge sollen vielleicht auch von Caritas, Maltesern, und ähnlichen Einrichtungen kommen, über einen Fond. Am Ende müsste dann aber das Land den Ärzten und Krankenhäusern die Bezahlung garantieren, sonst wäre so eine Ausgabe von einem Behandlungsschein ja ein leeres Versprechen.

    ? Wer soll entscheiden, dass jemand den anonymen Krankenschein bekommt, der ja dann konkret vermerken würde, welche Behandlung gebilligt wird? Das Sozialamt, wie es das Asylbewerberleistungesetz festlegt?

    Nein, genau das wollen wir nicht, da wollen wir eine grundlegende Änderung. Bislang entscheiden ja vorrangig Sachbearbeiter bei den Sozialämtern darüber, welche medizinische Leistung ein Asylbewerber.
    Die Chipkarte für Asylbewerber in Bremen und Hamburg und auch das Konzept eines anonymen Krankenscheins für Menschen ohne Papiere sollen ja vielmehr erreichen, dass jeder ungehinderten Zutritt zum Arzt hat. Und erst der Arzt, und nicht ein Mitarbeiter im Sozialamt, soll dann das letzte Wort darüber haben, welche Behandlung nötig ist und welche vielleicht nicht.
    Das gilt noch mehr im Notfall. Es ist in den letzten Monaten häufiger vorgekommen, dass vom diensthabenden Personal in Asylbewerberheimen kein Notarzt gerufen wurde.

    ? Das wäre aber wenn, dann der schlimme Fehler eines Wachmannes oder Sachbearbeiters im Asylbewerberheim gewesen, nicht der eines Sozialamtes.

    Die Verunsicherung ist bei den Mitarbeitern der Asylbewerberheime sehr groß, über das Vorliegen eines medizinischen Notfalls zu entscheiden. Die Hauptkritik am heutigen Verfahren bleibt somit bestehen, nämlich dass mit diesen Regeln Nichtexperten über medizinische Behandlungen entscheiden. In § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes wird die Entscheidung über die Behandlungsnotwendigkeit für Asylsuchende auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände beschränkt. Bremen oder Hamburg haben ja bereits eine grundlegende Änderung eingeführt, Baden- Württemberg könnte meiner Meinung nach gerne folgen.

    ? Zumindest bei Notfällen gab es bislang die Möglichkeit zu einer Behandlung im Schutz der Anonymität – wenn Krankenhäuser direkt mit dem Sozialamt abrechneten.

    Korrekt. Die Daten dürfen dann, da auch hier noch die ärztliche Schweigepflicht gilt, nicht weitergereicht werden. Für diesen so genannten verlängerten Geheimnisschutz hat die Ärzteschaft sich besonders engagiert.

    ? Waren das wirklich allein die Ärzte? Die Medibüros haben da wahrscheinlich auch mitgefochten?

    Wir sehen das nicht als Gegeneinander. Wir ziehen da an einem Strang. Wirklich sicher können wir aber ja leider immer noch nicht sein, dass die Sache auch funktioniert.

    ? Was meinen Sie?

    Wir haben da immer noch einen Widerspruch in den Vorschriften. Zwar haben wir seit 2009 eine Verwaltungsvorschrift, die klar sagt, dass Sozialämter alle Informationen, die sie von Ärzten, Krankenhäusern und Angestellten erhalten, nicht an die Ausländerbehörden geben dürfen.
    Auf der anderen Seite steckt im Asylbewerberleistungsgesetz immer noch der § 11, Absatz 3, der dezidiert weiterhin den Datenabgleich zwischen Sozial- und Ausländerbehörde fordert. Der wird von der Verwaltungsvorschrift nicht erreicht, blieb da unabhängig stehen. Wir wollen daher auch die Abschaffung dieses § 11, Absatz 3.

    ? Und, wie sind die Chancen?

    Naja, ich kann Ihnen sagen, in dem Fall geht der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesärztekammer von Pontius zu Pilatus. Die Zuständigkeiten werden zwischen Ministerien hin und her geschoben. Ein besseres Zusammenspiel der Ministerien wäre wünschenswert.

    ? Also keine Gewähr, dass ein Sozialamt die Daten über einen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus nicht weiter reicht, selbst dann, wenn es sie von Krankenhaus oder Arztpraxis erfährt?

    So ist es. Und wenn Sie bei den Sachbearbeitern auf den Ämtern nachfragen, wissen die oft gar nichts von einer Verwaltungsvorschrift und dem Verlängerten Geheimnisschutz.
    Am Ende muss ich sagen, all das dreht sich viel zu sehr um unsere Sicht und die der Behörden. Die Menschen, die Angst vor Entdeckung haben, denen ist wahrscheinlich egal, ob wir verlängerten Geheimnisschutz haben oder nicht, die trauen der Sache sowieso nicht. Wenn, dann gelangen sie eher über Stellen wie die Medinetze an Ärzte, die zumindest eine gewisse kostenlose Versorgung anbieten unter Geheimhaltung.

    ? Obendrein hat das Bundessozialgericht im Oktober 2013 diesen Weg der Abrechnung versperrt. Das Krankenhaus kann bei Notfällen gar nicht mehr im Nachgang abrechnen. Die ganze Schiene greift nicht mehr. Der Einsatz für den Verlängerten Geheimnisschutz war am Ende vielleicht umsonst?

    Es ist tatsächlich so, dass seit diesem Urteil die Krankenhäuser auf ihren Kosten sitzen bleiben. Behandeln müssen sie im Notfall, das steht außer Frage. Sie können aber im Nachhinein den Anspruch nicht realisieren. Andererseits ist es genau diese Situation, die jetzt zusätzlich dafür sorgt, dass endlich Bewegung in die Geschichte reinkommt.

    ? Wie das?

    Die Situation kann ja nicht so bleiben. Und die Krankenhäuser werden zu dem Thema Kostenübernahme bei der Behandlung von Menschen ohne Papiere seit kurzem lauter. Das kann ich mir nur so erklären, dass das etwas mit dem erwähnten Gerichtsurteil zu tun hat. Die Häuser haben ein Interesse daran, dass sich hier die Vorschriftenlage wieder klärt und verbessert.

    ? Mithin auch von dieser Seite mehr Druck für eine Novellierung der Gesetze?

    Ich denke ja. Und es gibt noch einen Punkt: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss ja auch aufgrund eines weiteren Gerichtsurteils geändert werden. Weil das Bundesverfassungsgericht schon 2012 gesagt hat, dass die Leistungen zum Lebensunterhalt nicht ausreichen, die dort festgelegt sind.
    Wir sagen der Politik natürlich, wenn ihr jetzt schon novellieren müsst, dann macht es doch bitte gleich richtig. Wenn schon, dann muss der verlängerte Geheimnisschutz umfassend hinein. Und wenn schon, dann sollte gleich auch ein Anonymer Krankenschein neu eingeführt werden.

    ? Geht es nicht noch um mehr? Der Deutsche Ärztetag hat in diesem Jahr gefordert, Asylbewerbern und Menschen ohne Papiere die Regelversorgung zukommen zu lassen und eben nicht mehr nur die eingeschränkten Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz. Wie sehen Sie das?

    Wir haben als Menschenrechtsbeauftragte zunächst mal die § 11-Streichung als Minimumforderung formuliert. Uns stört allein schon wegen unseres Berufsrechts die Vorstellung, ärztliche Geheimnisse werden von Ämtern weiter geleitet. Wir haben als Ärzte die Pflicht jeden zu behandeln, unabhängig von seinem Status – und das geht mit der derzeitigen Regelung zur Kostenübernahme eben in der Praxis nicht. Und ich kann Ihnen versichern, wir werden den uns störenden Teil der Weitergabe der Daten des Patienten auf jeden Fall weiter kritisieren.

    Das Interview führte BE


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