Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2014; 21(06): 278
DOI: 10.1055/s-0034-1397300
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Neuer Anti-G-Anzug für Flugbesatzungen getestet – Kein ausreichender Schutz vor Fliehkräften durch elektrische Muskelstimulation

Balldin UI, Gibbons JA.
Inferior G protection with an electrical muscle stimulation suit compared to a standard G-suit.

Aviat Space Environ Med 2014;
85: 1071-1077
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Publication Date:
08 January 2015 (online)

 

Balldin UI, Gibbons JA. Inferior G protection with an electrical muscle stimulation suit compared to a standard G-suit. Aviat Space Environ Med 2014; 85: 1071–1077

Thema: Mehr als 70 Jahre intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf dem Gebiet des Anti-G-Schutzes haben dazu geführt, dass die wesentlichen Stellschrauben für seine Optimierung weitgehend ausgelotet wurden. Dennoch sind die bisher kommerziell verfügbaren Systeme noch nicht der Weisheit letzter Schluss und veranlassen die auf diesem Gebiet tätige Community daher, nach leistungsfähigeren Alternativen zu suchen. In diesem Licht ist die Studie der Autoren zu betrachten.

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(Bild: Corel Stock)

Projekt: Das Leistungsvermögen eines auf der Grundlage von elektrischen Muskelstimulationen im Bereich der unteren Extremitäten und der Gesäß- und Bauchmuskulatur agierenden neuen Anti-G-Anzugs (EMS-Anzug der Fa. Prizm Medical, Inc., Duluth, GA, USA) wurde mit der herkömmlichen Anti-G-Hose (CSU-13B/P) verglichen. Für die Testung in der Humanzentrifuge sind den insgesamt 9 (von ursprünglich 15 geplanten) Piloten sowohl Profile mit graduellen (sogenannte GOR = gradual onset runs mit 0,1 Gz/s) und rapiden Beschleunigungszuwachsraten (sogenannte ROR = rapid onset runs mit 6 Gz/s) als auch sogenannte „simulated aerial combat maneuvers“ (SACM) mit einer F-16-Trackingaufgabe, die den Flugbetrieb moderner Kampfflugzeuge realistisch abbilden sollten, abverlangt worden.

Ergebnis: Sowohl bei den GOR und den ROR als auch bei den SACM war die mit der Anti-G-Hose erreichte mittlere maximale G-Toleranz um 1,1, 1,5 beziehungsweise 2 Gz höher als mit dem EMS-Anzug. Auch konnten die Leistungsanforderungen des SACM mit der Anti-G-Hose bei deutlich geringerer mittlerer Herzrate (23 Schläge pro Minute weniger) insgesamt 46 Sekunden länger erfüllt werden als mit dem EMS-Anzug. Alle genannten Unterschiede ließen sich statistisch sichern. Aufgrund der Tatsache, dass es in 4 Fällen mit dem EMS-Anzug zu G-induzierten Bewusstseinsverlusten (G-LOC = G induced loss of consciousness) und in einem weiteren Fall zu einem sogenannten A-LOC (almost loss of consciousness), das heißt beinahe zu einem Bewusstseinsverlust gekommen ist, wurde die Studie nach dem neunten Piloten terminiert.

Fazit: Der getestete EMS Anzug hat den Piloten insbesondere im Hoch-Gz-Bereich nicht den erwarteten G-Schutz geboten. Damit kommt er als Alternative zur herkömmlichen Anti-G-Hose nicht infrage.

Kommentar

Um die Inzidenz G-induzierter Bewusstseinsstörungen, die entsprechend der Literatur insbesondere bei jungen Piloten mit wenigen Flugstunden auftreten [ 1 ]–[ 3 ], zu vermindern und die Piloten zu befähigen, den höheren Leistungsanforderungen der modernen, hochagilen Kampfflugzeuge gerecht werden zu können, bedarf es ohne Frage auch einer Verbesserung der kommerziell verfügbaren Anti-G-Anzüge. Auf der Suche nach neuen Prinzipien des G-Schutzes sind die Autoren beim Literaturstudium auf das Phänomen der Erhöhung des arteriellen systolischen Blutdrucks durch elektrische Muskelstimulationen gestoßen. In ersten Untersuchungen [ 4 ] konnten sie zeigen, dass elektrische Muskelstimulationen unter 1 Gz ähnliche Blutdruckanstiege erzeugen, wie sie durch ein Anti-G-Manöver beziehungsweise durch einen aktivierten Anti-G-Anzug erreicht werden. In der vorliegenden Studie sollte nun geprüft werden, ob sich dieses Prinzip auch für den G-Schutz für Piloten nutzen lassen würde.

Der in der Studie offensichtlich gewordene unzureichende Schutz des EMS-Anzugs wurde von den Autoren vor allem mit der im Vergleich zu aktiven Muskelanspannungen geringeren Effizienz der generierten Muskelstimulation sowie mit der Tatsache erklärt, dass der durch diesen Anzug erzeugte Blutdruckanstieg unter höheren G-Belastungen hinter den Erwartungen zurückblieb und damit unter diesen Bedingungen keine ausreichende Durchblutung des Gehirns sicherstellen konnte.

Leider ließen die Autoren den Leser nicht an Überlegungen teilhaben, wie, im Falle der zu Beginn der Studie postulierten Überlegenheit des neuen EMS-Anzugs gegenüber der Anti-G-Hose, im operationellen Flugbetrieb eine verlässliche Ankopplung der in den EMS-Anzug integrierten Elektroden an den Körper der Piloten sichergestellt worden wäre. Die im Flug auftretenden, zeitweilig sehr hohen Temperaturen und das damit unweigerlich verbundene extreme Schwitzen der Piloten aber auch die mitunter großen Hautübergangswiderstände, wie sie beispielsweise bei stärkerem Haarwuchs oder ähnlichen Bedingungen zu überwinden sind, hätten eine Überführung des EMS-Anzugs in ein praxistaugliches kommerzielles Produkt wahrscheinlich sehr schwierig gestaltet.

Carla Ledderhos, Fürstenfeldbruck

Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin


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  • Literatur

  • 1 Sevilla NL, Gardener JW. G-induced loss of consciousness: case-control study of 78 G-LOCs in the F-15, F-16, and A-10. Aviat Space Environ Med 2005; 76: 370-374
  • 2 Green NDC, Ford SA. G-induced loss of consciousness: retrospective survey results from 2259 military aircrew. Aviat Space Environ Med 2006; 77: 619-623
  • 3 Lyons TJ, Kraft NO, Copley GB et al. Analysis of mission and aircraft factors in G-induced loss of consciousness in the USAF: 1982–2002. Aviat Space Environ Med 2004; 75: 479-482
  • 4 Balldin UI, Annicelli L, Gibbons J, Kisner J. An electrical muscle stimulation suit for increasing blood pressure. Aviat Space Environ Med 2008; 79: 914-918

  • Literatur

  • 1 Sevilla NL, Gardener JW. G-induced loss of consciousness: case-control study of 78 G-LOCs in the F-15, F-16, and A-10. Aviat Space Environ Med 2005; 76: 370-374
  • 2 Green NDC, Ford SA. G-induced loss of consciousness: retrospective survey results from 2259 military aircrew. Aviat Space Environ Med 2006; 77: 619-623
  • 3 Lyons TJ, Kraft NO, Copley GB et al. Analysis of mission and aircraft factors in G-induced loss of consciousness in the USAF: 1982–2002. Aviat Space Environ Med 2004; 75: 479-482
  • 4 Balldin UI, Annicelli L, Gibbons J, Kisner J. An electrical muscle stimulation suit for increasing blood pressure. Aviat Space Environ Med 2008; 79: 914-918

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(Bild: Corel Stock)