Aktuelle Urol 2015; 46(01): 14-15
DOI: 10.1055/s-0034-1544092
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Überaktive Blase – Steriler Urin ist nicht unbedingt steril

Contributor(s):
Elke Ruchalla

J Clin Microbiol 2014;
52: 871-876
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 February 2015 (online)

 

Die Ätiologie der überaktiven Blase – auch als „Reizblase“ bekannt – ist bislang nicht ausreichend geklärt. Im Allgemeinen handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose, wenn keine sonstigen Ursachen für Schmerzen und Pollakisurie gefunden werden. Medizinern aus Chicago ist es jetzt gelungen, mögliche Pathogene in solchem „sterilen“ Urin nachzuweisen.
J Clin Microbiol 2014; 52: 871–876

mit Kommentar

Urinproben, in denen es mit herkömmlichen mikrobiologischen Kultivierungsmethoden nicht zu einem Wachstum kommt – entsprechend weniger als 103 koloniebildende Einheiten (KBE) pro Milliliter Urin –, müssen nicht steril sein. Zu diesem Schluss kommen Evann Hilt und seine Kollegen, die mittel transurethraler Katheterisierung gewonnene Urinproben von 41 Frauen mit überaktiver Blase und 24 Frauen ohne entsprechende Symptomatik als Kontrollgruppe untersucht haben.

Dabei wurde jeweils ein Teil des Urins mit folgender Methodik untersucht:

  • mikrobiologische Standardkultivierung (5 % Schafsblut-Agar, aerobe Inkubation bei 35 °C über 24 h)

  • Kultivierung unter verschiedenen Spezialbedingungen (verschiedene Nährböden, verlängerte Inkubationszeit bis zu 5 Tagen, Temperaturen von 30 °C und 35 °C, mit Zusatz von 5 % CO2, unter aeroben und anaerobe Bedingungen, höheres Urinvolumen)

  • molekulargenetische 16S-rRNA-Gen-Sequenzierung.

Bei einem Wachstum in der Kultur wurde anschließend die Art der Erreger mittels MALDI-TOF-MS (matrix assisted laser desorption ionization – time of flight mass spectrometry) bestimmt.

Die Auswertung ergab

  • ein Wachstum unter Standardbedingungen bei 4 der 65 Proben

  • dagegen ein Wachstum unter Spezialbedingungen bei 52 der 65 Proben (80 %).

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(Bild: Dörte Jensen / Thieme Verlagsgruppe)

Dabei zeigte sich, dass die meisten der unter Spezialbedingungen angezüchteten Mikroorganismen entweder eine erhöhte CO2-Konzentration oder anaerobe Wachstumsbedingungen benötigten, ebenso wie eine verlängerte Inkubationszeit. Oftmals lag die Zahl der nachgewiesenen KBE auch unter dem Schwellenwert der üblichen Protokolle.

Als Erreger wurden in der MALDI-TOF-MS 35 Gattungen und 85 Arten identifiziert, am häufigsten vertreten waren Lactobacillus (15 %), Corynebacterium (14,2 %), Streptococcus (11,9 %), Actinomyces (6,9 %) und Staphylococcus (6,9 %). Aerococcus, Gardnerella, Bifidobacterium und Actinobaculum fanden sich dagegen seltener. Aerococcus und Actinobaculum waren dabei nur bei den Patientinnen mit einer überaktiven Blase nachweisbar, während die anderen Erreger im Urin sowohl asymptomatischer als auch symptomatischer Frauen gezüchtet werden konnten.

Wurden die Ergebnisse der Kultur denen der Sequenzierung gegenübergestellt, so machten die kultivierten Keime mehr als 80 % der erhaltenen DNA-Sequenzen aus. Darüber hinaus fand die Sequenzierung DNA von weiteren Gattungen, die nicht angezüchtet worden waren – möglicherweise von nicht lebensfähigen Mikroorganismen oder von Organismen, deren Wachstumsbedarf von den untersuchten Bedingungen nicht abgedeckt wurde.

Fazit

Dass nach mikrobiologischer Routineuntersuchung im Urin kein Bakterienwachstum nachweisbar ist, heißt noch lange nicht, dass auch keine Mikroorganismen vorhanden sind, meinen die Autoren. Ihre Ergebnisse sollten weitere Studien veranlassen, um die Rolle dieser Organismen bei Gesunden und Patienten zu klären. Möglicherweise kommt es dabei zu neuen Erkenntnissen über Ätiologie und Pathogenese von bislang so unklaren Erkrankungen wie der überaktiven Blase.

Kommentar

Haben Bakterien eine Bedeutung bei der überaktiven Harnblase?

In der Arbeit von Evann E. Hilt et al. wird das Mikrobiom des Urins von Patientinnen mit überaktiver Harnblase durch elaborierte Urin-Kultur-Techniken untersucht und mit dem von gesunden Kontrollen verglichen.

Das menschliche Mikrobiom

Die Arbeit zeigt, dass sowohl bei Patientinnen mit überaktiver Harnblase als auch bei gesunden Patientinnen multiple Bakterienspezies im Einmal-Katheterurin angezüchtet werden können, und zeigt damit eindeutig, dass es keinen sterilen Urin gibt. Dies ist deswegen nicht verwunderlich, da wir uns seit der Geburt mit unserem spezifischen Mikrobiom entwickeln, das 10-mal mehr bakterielle Zellen als eukaryonte Zellen in unserem Körper ausmacht. In verschiedensten Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass unser Mikrobiom unsere Körperfunktionen beeinflusst und auf der anderen Seite unser Körper das Mikrobiom steuert [ 1 ], sodass eine evolutorisch bedingte, enge Abstimmung zwischen menschlichem Körper und menschlichem Mikrobiom existiert. Das spezifische Mikrobiom des Menschen konnte bereits im Human-Mikrobiom-Projekt identifiziert werden [ 1 ]. Während das Mikrobiom sich signifikant an den unterschiedlichen Lokalisationen (z. B. Mundraum, Nase, Darm, Vagina) unterscheidet, bleiben die metabolischen Wege erstaunlich konstant [ 1 ].

Das Mikrobiom des Urogenitaltrakts

Der Harntrakt ist weiterhin kontinuierlich mit der Umgebung in Kontakt, da er durch die Urethra mit der Umgebung verbunden ist. Schon lange ist bekannt, dass die Vaginalflora einen Einfluss auf die Harnweginfektionsrate hat und bestimmte Bakterienspezies, wie z. B. Laktobazillen, einen protektiven Effekt aufweisen können, obwohl dieses Wissen nur teilweise in erfolgreiche Therapiestrategien gemündet ist. Trotzdem hat sich durchgesetzt, dass bei postmenopausalen Patientinnen lokal vaginale Östrogene eingesetzt werden, um die Laktobazillenflora wieder aufzubauen [ 2 ].

Symptomenkomplex Unterer Harntrakt

Die typischen Symptome Harndrang, Dranginkontinenz, Pollakisurie, Nykturie und schmerzhafte Miktion finden sich zum großen Teil sowohl bei nachgewiesener Harnweginfektion, als auch bei der überaktiven Harnblase. Die Prävalenz beider Erkrankungen in der Bevölkerung ist außerordentlich hoch. Dies zeigt auch, dass es möglich sein könnte, dass eine gemeinsame Schnittmenge zwischen überaktiver Harnblase und bakterieller Besiedelung der Harnblase existiert [ 3 ].

Die dargestellte Studie hat nun zwei gut definierte Patientenkohorten miteinander verglichen und dargestellt, dass nicht nur polymikrobielle DNA in den meisten Urinproben nachweisbar war, sondern die meisten Bakterienspezies auch anzüchtbar waren und damit der Beweis erbracht ist, dass die Bakterien in der Harnblase lebendig vorkommen. Die ausgesprochene Vielfalt der Bakterienspezies deutet auch an, dass dieser Aspekt noch völlig unverstanden ist, wenn es um den Stellenwert der einzelnen Bakterienspezies geht. Einzelne Bakterienspezies waren häufiger in der Kohorte der Patientinnen nachweisbar, wie z. B. Aerococcus und Actinobaculum spp. Ob diese Bakterienspezies aber einen Krankheitswert haben, bleibt unbeantwortet.

Folgeuntersuchungen werden auch darstellen müssen, ob unterschiedliche Mikrobiome auch unterschiedliche Auswirkungen auf den Metabolismus haben. In dieser Richtung wird auch zu untersuchen sein, ob bestimmte Mikrobiom-Konstellationen einen eher protektiven Effekt aufweisen und damit eine Richtung darstellen könnten, in die eine potenzielle Therapie oder Prophylaxe eingeschlagen werden könnte.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Untersuchung von Hilt et al. einen interessanten Forschungsaspekt eröffnet und die Symptomerkrankung der überaktiven Harnblase mit dem Mikrobiom und der unteren Harnweginfektion verbindet. Die Ergebnisse sind jedoch noch weit davon entfernt, in die täglich Praxis übernommen zu werden. Insbesondere muss davor gewarnt werden, Symptome der überaktiven Harnblase grundlos mit Antibiotika zu therapieren, da hier viel eher das Risiko besteht, die protektive, bakterielle Flora zu vernichten und die Entstehung von Antibiotikaresistenzen anzuheizen [ 4 ].

Prof. Dr. Florian Wagenlehner, Gießen

Interessenkonflikt: Astellas, Bionorica, Cubist, Galenus, Leo-Pharma, Merlion, OM-Pharma, Pierre Fabre, Rosen Pharma, Zambon


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Prof. Dr. Florian Wagenlehner


ist leitender Oberarzt an der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Andrologie der Justus-Liebig-Universität Gießen

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  • Literatur

  • 1 Consortium THMP. Structure, function and diversity of the healthy human microbiome. Nature 2011; 486: 207-214
  • 2 Beerepoot MA, Geerlings SE, van Haarst EP et al. Nonantibiotic prophylaxis for recurrent urinary tract infections: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Urol 2013; 190: 1981-1989
  • 3 Pearce MM, Hilt EE, Rosenfeld AB et al. The female urinary microbiome: a comparison of women with and without urgency urinary incontinence. MBio 2014; 5: e01283-14
  • 4 Blaser M. Antibiotic overuse: Stop the killing of beneficial bacteria. Nature 2011; 476: 393-394

  • Literatur

  • 1 Consortium THMP. Structure, function and diversity of the healthy human microbiome. Nature 2011; 486: 207-214
  • 2 Beerepoot MA, Geerlings SE, van Haarst EP et al. Nonantibiotic prophylaxis for recurrent urinary tract infections: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Urol 2013; 190: 1981-1989
  • 3 Pearce MM, Hilt EE, Rosenfeld AB et al. The female urinary microbiome: a comparison of women with and without urgency urinary incontinence. MBio 2014; 5: e01283-14
  • 4 Blaser M. Antibiotic overuse: Stop the killing of beneficial bacteria. Nature 2011; 476: 393-394

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(Bild: Dörte Jensen / Thieme Verlagsgruppe)