Haben Bakterien eine Bedeutung bei der überaktiven Harnblase?
In der Arbeit von Evann E. Hilt et al. wird das Mikrobiom des Urins von Patientinnen
mit überaktiver Harnblase durch elaborierte Urin-Kultur-Techniken untersucht und mit
dem von gesunden Kontrollen verglichen.
Das menschliche Mikrobiom
Die Arbeit zeigt, dass sowohl bei Patientinnen mit überaktiver Harnblase als auch
bei gesunden Patientinnen multiple Bakterienspezies im Einmal-Katheterurin angezüchtet
werden können, und zeigt damit eindeutig, dass es keinen sterilen Urin gibt. Dies
ist deswegen nicht verwunderlich, da wir uns seit der Geburt mit unserem spezifischen
Mikrobiom entwickeln, das 10-mal mehr bakterielle Zellen als eukaryonte Zellen in
unserem Körper ausmacht. In verschiedensten Untersuchungen konnte gezeigt werden,
dass unser Mikrobiom unsere Körperfunktionen beeinflusst und auf der anderen Seite
unser Körper das Mikrobiom steuert [
1
], sodass eine evolutorisch bedingte, enge Abstimmung zwischen menschlichem Körper
und menschlichem Mikrobiom existiert. Das spezifische Mikrobiom des Menschen konnte
bereits im Human-Mikrobiom-Projekt identifiziert werden [
1
]. Während das Mikrobiom sich signifikant an den unterschiedlichen Lokalisationen
(z. B. Mundraum, Nase, Darm, Vagina) unterscheidet, bleiben die metabolischen Wege
erstaunlich konstant [
1
].
Das Mikrobiom des Urogenitaltrakts
Der Harntrakt ist weiterhin kontinuierlich mit der Umgebung in Kontakt, da er durch
die Urethra mit der Umgebung verbunden ist. Schon lange ist bekannt, dass die Vaginalflora
einen Einfluss auf die Harnweginfektionsrate hat und bestimmte Bakterienspezies, wie
z. B. Laktobazillen, einen protektiven Effekt aufweisen können, obwohl dieses Wissen
nur teilweise in erfolgreiche Therapiestrategien gemündet ist. Trotzdem hat sich durchgesetzt,
dass bei postmenopausalen Patientinnen lokal vaginale Östrogene eingesetzt werden,
um die Laktobazillenflora wieder aufzubauen [
2
].
Symptomenkomplex Unterer Harntrakt
Die typischen Symptome Harndrang, Dranginkontinenz, Pollakisurie, Nykturie und schmerzhafte
Miktion finden sich zum großen Teil sowohl bei nachgewiesener Harnweginfektion, als
auch bei der überaktiven Harnblase. Die Prävalenz beider Erkrankungen in der Bevölkerung
ist außerordentlich hoch. Dies zeigt auch, dass es möglich sein könnte, dass eine
gemeinsame Schnittmenge zwischen überaktiver Harnblase und bakterieller Besiedelung
der Harnblase existiert [
3
].
Die dargestellte Studie hat nun zwei gut definierte Patientenkohorten miteinander
verglichen und dargestellt, dass nicht nur polymikrobielle DNA in den meisten Urinproben
nachweisbar war, sondern die meisten Bakterienspezies auch anzüchtbar waren und damit
der Beweis erbracht ist, dass die Bakterien in der Harnblase lebendig vorkommen. Die
ausgesprochene Vielfalt der Bakterienspezies deutet auch an, dass dieser Aspekt noch
völlig unverstanden ist, wenn es um den Stellenwert der einzelnen Bakterienspezies
geht. Einzelne Bakterienspezies waren häufiger in der Kohorte der Patientinnen nachweisbar,
wie z. B. Aerococcus und Actinobaculum spp. Ob diese Bakterienspezies aber einen Krankheitswert
haben, bleibt unbeantwortet.
Folgeuntersuchungen werden auch darstellen müssen, ob unterschiedliche Mikrobiome
auch unterschiedliche Auswirkungen auf den Metabolismus haben. In dieser Richtung
wird auch zu untersuchen sein, ob bestimmte Mikrobiom-Konstellationen einen eher protektiven
Effekt aufweisen und damit eine Richtung darstellen könnten, in die eine potenzielle
Therapie oder Prophylaxe eingeschlagen werden könnte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Untersuchung von Hilt et al. einen
interessanten Forschungsaspekt eröffnet und die Symptomerkrankung der überaktiven
Harnblase mit dem Mikrobiom und der unteren Harnweginfektion verbindet. Die Ergebnisse
sind jedoch noch weit davon entfernt, in die täglich Praxis übernommen zu werden.
Insbesondere muss davor gewarnt werden, Symptome der überaktiven Harnblase grundlos
mit Antibiotika zu therapieren, da hier viel eher das Risiko besteht, die protektive,
bakterielle Flora zu vernichten und die Entstehung von Antibiotikaresistenzen anzuheizen
[
4
].
Prof. Dr. Florian Wagenlehner, Gießen