physiopraxis 2015; 13(02): 18-19
DOI: 10.1055/s-0035-1546974
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Partizipative Gesundheitsforschung – Mitbestimmung motiviert

Eva Trompetter

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Publication Date:
20 February 2015 (online)

 

Bevor in einer Studie die Menschen ins Spiel kommen, die von den Ergebnissen profitieren, arbeiten Wissenschaftler im Voraus oft lange an Studiendesign und Maßnahmen. Bei der partizipativen Forschung ist das anders: Hier beziehen Forscher die Zielgruppe schon zur Vorbereitung mit ein und gestalten die Inhalte nach ihren Bedürfnissen. Ein Ansatz mit guten Ergebnissen.


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Ein für Physiotherapeuten interessantes partizipatives Forschungsprojekt ist „BIG – Bewegung als Investition in Gesundheit“ des Instituts für Sportwissenschaft und Sport der Friedrich-Alexander- Universität Nürnberg, das vor allem in Bayern sehr verbreitet ist. Das Ziel von BIG ist es, Frauen in schwierigen Lebenslagen, zum Beispiel mit niedrigem sozioökonomischen Status oder einem Migrationshintergrund, die Möglichkeit zu geben, an Bewegungsangeboten teilzunehmen [5]. Denn diese Frauen sind besonders selten sportlich aktiv [6]. Darüber hinaus ist BIG ein Integrationsprojekt, das durch Sport und Bewegung Frauen mit unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen soll [7]. Um sicherzustellen, dass die Angebote den Bedürfnissen der Zielgruppe entsprechen, haben die Wissenschaftler diese systematisch in die Planung einbezogen. Zunächst kamen die Forscher anhand von Interviews mit den Frauen ins Gespräch. Mithilfe von Informationen über ihren Lebensstil und ihre körperliche Aktivität lernten sie die Zielgruppe Schritt für Schritt kennen. Dabei stellte sich zum Beispiel heraus, dass sich muslimische Frauen im Schwimmbad eine Frauenbadezeit und Schwimmkurse mit weiblicher Aufsicht wünschen [8]. Wie die Sportprogramme gestaltet sind, dürfen die Frauen mitentscheiden. So kommen auf Wunsch neben klassischen Sportkursen wie Yoga oder Pilates auch spezielle Angebote wie Fahrradkurse hinzu. Darüber hinaus können sich Interessierte zu einer interkulturellen Sportassistentin ausbilden lassen oder selbst Übungsleiterin werden. Auch eine solche Qualifizierung haben sich die Frauen gewünscht [7]. Der partizipative und auf Selbstorganisation basierende Ansatz von BIG ist sehr erfolgreich. Drei Viertel der Teilnehmerinnen nehmen aufgrund persönlicher Kontakte an den Bewegungsangeboten teil [8]. Eines der BIG-Programme findet in Erlangen statt – 70 Prozent der Teilnehmerinnen haben dort einen Migrationshintergrund [7]. Auch hier erreicht das Projekt die Frauen unter anderem dadurch, dass sie an der Organisation teilhaben und das Programm mitgestalten können.

Forscher und Zielgruppe arbeiten auf Augenhöhe.

Forschung zum Mitmachen

Das Forschungsprojekt BIG ist ein Beispiel für Partizipative Gesundheitsforschung in Deutschland. Der bisher noch junge Forschungsansatz gehört zur Partizipativen Sozialforschung, die sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, dass die Ergebnisse direkt in Handlungen übergehen, die die Lebensumstände und den Gesundheitszustand der Zielgruppe nachhaltig verbessern und ihnen mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Dabei arbeiten Wissenschaft, Praxis, etwa Sozialarbeiter oder Physiotherapeuten, und Bevölkerung auf Augenhöhe zusammen. Das heißt, sie konzipieren im Voraus alle Phasen des Forschungsprojekts gemeinsam, dafür steht der Begriff partizipativ [1]. Dieses Vorgehen ist in der wissenschaftlichen Praxis nicht selbstverständlich. Oftmals bereiten Hochschulen die ersten Schritte einer Studie vor und entwickeln Fragestellungen und das Forschungsdesign alleine. Erst im Anschluss daran nehmen sie Kontakt zu potenziellen Praxispartnern oder den relevanten Zielgruppen auf, um ihnen ihre Ideen vorzustellen und sie für eine Mitarbeit zu gewinnen. Bei diesem weniger partizipativen Ansatz kann es jedoch sein, dass die entwickelten Maßnahmen nicht zur Zielgruppe passen und deshalb über das Projektende hinaus nicht angenommen werden. Ein weiterer Bestandteil der partizipativen Forschung ist deshalb auch, dass Wissenschaftler und Zielgruppe voneinander lernen und sich austauschen. Zudem haben sie geteilte Entscheidungsbefugnisse und gemeinsames Eigentum an den Forschungsergebnissen [2]. Partizipative Gesundheitsforschung hat sich besonders bei sozial Benachteiligten und sonst schwer erreichbaren Zielgruppen bewährt, etwa Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status oder einem Migrationshintergrund. Bei diesen Personen kann sie dazu beitragen, die Auswirkungen solcher sozialen Determinanten auf die Gesundheit zu verringern [1] (physiopraxis 4/09, S. 12).

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Das bayerische Projekt BIG - Bewegung als Investition in Gesundheit: Sport- und Bewegungsangebote bringen Frauen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. Das Besondere daran ist, dass die Teilnehmerinnen die Programme selbst mitplanen. Das motiviert.
Abb.: Erich Malter

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Flexibel im Forschungsprozess

Studien in der partizipativen Forschung beziehen sich immer auf eine bestimmte Community, zum Beispiel ein Wohnquartier oder eine Gemeinde. Sie konzentrieren sich auf lokale Themen und die Einflüsse auf die Gesundheit vor Ort, zum Beispiel die Möglichkeiten, sich in der Natur zu erholen oder zu bewegen. Um Gesundheit nachhaltig zu fördern, ist es wichtig, dass die partizipative Forschung über einen längeren Zeitraum angelegt ist, etwa im Rahmen einer Langzeitstudie oder mehrerer kürzerer Studien über einen längeren Zeitraum [1, 3]. Da die Projektpartner langfristig zusammenarbeiten, gehen sie eine engere Bindung ein als sonst in der Forschung üblich [3]. Die Datenerhebung und -interpretation erfolgen in der partizipativen Forschung abwechselnd und wiederholend. Das kann bedeuten, Interviewpartner nicht komplett zu Beginn einer Untersuchung zu bestimmen, sondern zunächst einzelne Personen zu befragen und die Daten auszuwerten. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen dann als Grundlage zur Auswahl weiterer Interviewpartner. So ist es im Forschungsprozess möglich, auf neue Fragestellungen zu reagieren, die zu Projektbeginn noch nicht wichtig erschienen [1, 3].

Die Zielgruppe erforscht ihre eigene Lebenslage.

Je nachdem, welche Zielgruppe im Fokus stehen soll, spricht man in der Partizipativen Sozialforschung von Praxis- oder Gemeinschaftsforschung. Praxisforschung bedeutet, dass Praktiker wie Physiotherapeuten in ihrem Arbeitsumfeld selbst Untersuchungen entwickeln und durchführen, um die eigene Berufspraxis im Sinne einer Partizipativen Qualitätsentwicklung zu verbessern [1, 4]. Mit der Unterstützung von Wissenschaftlern entwickeln sie beispielsweise Kriterien und Instrumente, um die Qualität der eigenen Arbeit zu ermitteln und zu verbessern. Qualitätsentwicklung kann dabei auch bedeuten, gemeinsam den Grad der Partizipation von Zielgruppen bei der Entwicklung, Durchführung und Auswertung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu reflektieren. Dies ist besonders für die Arbeit in Settings wie Schulen oder Betrieben bedeutsam [1]. Die Praxisforschung unterscheidet sich von der Grundlagen- und angewandten Forschung darin, dass das erzeugte Wissen kontextbezogen ist. Der Therapeut kann die Ergebnisse also direkt in die Praxis übertragen. Grundlagenforschung untersucht grundlegende soziale oder gesundheitliche Fragen. Angewandte Forschung knüpft daran an, findet Lösungen für diese Fragen und ist somit problembezogen [4].

Gemeinschaftsforschung spricht die Menschen an, die von den Angeboten des Sozial- und Gesundheitssystems profitieren sollen, wie die Frauen im BIG-Projekt. Ziel ist es, diese Personen dabei zu unterstützen, ihre eigene Lebenslage zu erforschen und dabei aktiv Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, um ihre Situation positiv zu verändern [1]. Partizipation ist also ein wesentlicher Faktor, um Gesundheitsförderung bedarfsgerecht, einfach zugänglich und nachhaltig zu gestalten.


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Das bayerische Projekt BIG - Bewegung als Investition in Gesundheit: Sport- und Bewegungsangebote bringen Frauen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen. Das Besondere daran ist, dass die Teilnehmerinnen die Programme selbst mitplanen. Das motiviert.
Abb.: Erich Malter