Hebamme 2015; 28(02): 76
DOI: 10.1055/s-0035-1547443
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Die Schwangerenvorsorge auf dem Prüfstand

S Krauss-Lembcke
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Publication Date:
09 July 2015 (online)

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

zu allen Zeiten – ob Krisen- oder Kriegsepochen, Wohlstand- und Friedenszeiten – waren Frauen schwanger und haben diese Zeit mehrheitlich gesund durchlebt. Manchmal hat man in unserer modernen westlichen Industrienation allerdings den Eindruck, Schwangerschaft sei eine hochkritische Lebensphase.

In den letzten 40 Jahren hat sich die Schwangerenvorsorge in Deutschland sehr verändert. Während meiner ersten Berufsjahre, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, kamen oft Frauen zur Geburt, die nur 3- bis 4-mal beim Frauenarzt waren. Dann wurden Anreize geschaffen. Die Krankenkassen zahlten Frauen eine Prämie von 100 DM, wenn zehn Vorsorgeuntersuchungen dokumentiert waren.

Derzeit gehen Schwangere eher 15- bis 20-mal zu diversen Untersuchungen. Mit der Einführung von Ultraschall als Routineuntersuchung und CTG-Kontrollen schon ab der 13. SSW wird den Frauen suggeriert, Schwangerschaft sei ein hochgradig kontrollbedürftiger Lebensabschnitt.

Die wenigen Ärzte, die CTG-Kontrollen erst ab ET schreiben, werden bei den Frauen sogar eher abgewertet: „Der Arzt macht ja gar nichts.“ Fragen wir die Frauen, so finden sie diese vielen Untersuchungen beruhigend, weil sie etwas zu sehen und zu hören bekommen.

Bis heute ist nicht eindeutig geklärt: Was wollen wir „Vorsorgen“?

Im internationalen Vergleich haben wir keine nennenswert besseren Outcomes. Das tückische HELLP-Syndrom kann nicht verhindert werden. Beim Diabetes-Screening herrscht Uneinigkeit, welche Normwerte verbindliche Gültigkeit haben. Für viele chronische Erkrankungen haben wir keine Heilmethoden.

Sehr interessant ist deshalb, dass die Oberärztin Fr. Dr. Lüdemann kritische Fragen stellt und über ihren Ärger in der Klinik berichtet. Durch ihren Beitrag zum Sinn und Unsinn von Untersuchungen wird hoffentlich eine längst überfällige Diskussion angeregt.

„Gedacht heißt nicht immer gesagt, gesagt heißt nicht immer richtig gehört, gehört heißt nicht immer richtig verstanden, verstanden heißt nicht immer einverstanden, einverstanden heißt nicht immer angewendet, angewendet heißt noch lange nicht beibehalten.“ (Zitat von Konrad Lorenz)

Wir brauchen eine sachliche Debatte, die im besten Falle zu einer S3 Leitlinie führt, auch wenn diese nicht zwangsläufig zu Anwendung und Beibehaltung führt.

Wir können heute viele Untersuchungen durchführen, doch welche Therapien stehen uns zur Verfügung? Am Beispiel der seltenen Cytomegalie-Infektion wird uns aufgezeigt, welche ernsthaften Erkrankungen beim Kind auftreten können und welche Empfehlungen das Robert-Koch-Institut gibt.

Hat der Ultraschall die „Kunst der Leopoldschen Handgriffe“ abgelöst? Der Artikel zur Geschichte dieser Handgriffe macht deutlich, dass sie auch heute noch eine große Bedeutung haben.

Zum richtigen Zeitpunkt kommt die Literaturrecherche zum Vergleich von Haus- und Klinikgeburten. Sie zeigt, wie schon mehrfach bewiesen, dass es keinen Grund gibt, Frauen die Wahl ihres Geburtsortes vorzuenthalten. Sie liefert uns Argumente für die Beratung von Frauen im Entscheidungsprozess zur Wahl des Geburtsortes.

Die verunsicherten Schwangeren und ihr Partner stehen unter einem hohen gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Wie sind die Generationen vor uns damit umgegangen? Wie haben sie die Schwangerschaft, Geburten und Familienbildung erlebt?

Das Projekt „Erzählcafe“ ist ein interessantes Konzept. Fachleute, Frauen und Männer aller Generationen werden an einen Tisch geladen und berichten über ihre Erfahrungen. Ein Ziel ist es, den politischen Protest zu verstärken und jungen Familien Mut zu machen. Vielleicht können Sie diese Ideen aufgreifen und in Ihrer Stadt oder Gemeinde umsetzen?

Ich wünsche Ihnen beim Lesen einen schönen Platz an der Sonne. Tanken Sie Kraft, um den notwendigen Veränderungsprozess mitzugestalten.

Ihre S. Krauss-Lembcke