Suizidankündigungen haben sich phänomenologisch gewandelt. Als ich begann, in der
Psychiatrie zu arbeiten, waren Suizidankündigungen ganz überwiegend ein Ereignis unter
vier Augen – gegenüber dem Therapeuten oder gegenüber nahestehenden Personen. Auch
Suizidankündigungen am Telefon haben einen Beziehungs- und Gesprächskontext und eine
einfühlbare psychopathologische Färbung.
Heute haben wir es inzwischen häufig mit einem anderen Phänomen zu tun: Die Suizidankündigung
per SMS oder in sozialen Netzwerken, oft nur aus wenigen Worten bestehend und mit
einem Inhalt, der alle Interpretationen offen lässt („macht euch keine Sorgen mehr
um mich, danke für alles, was ihr für mich getan habt“). Mit Vorliebe an die beste
Freundin oder den Exfreund, danach Mobiltelefon abgeschaltet, nicht mehr erreichbar,
höchst erstaunt und vorwurfsvoll, wenn wenig später die Polizei vor der Türe steht.
Im Gegensatz zur Vier-Augen-Mitteilung sind derartige SMS oder Facebook-Eintragungen
kryptische Botschaften; aufgrund ihrer informativen Dürre gelingt es oft weder Angehörigen
noch Professionellen, sie adäquat in einen diagnostischen bzw. psychopathologischen
Kontext einzuordnen. Manchmal, aber keineswegs immer, stellt sich eine ernsthafte
suizidale Gefährdung heraus, die einer Behandlung bedarf [1].
Die Aufgabe des Psychiaters und Psychotherapeuten ist es auch in diesen Fällen, Diagnostik
und Differenzialdiagnostik vorzunehmen und gegebenenfalls eine angemessene Therapie
einzuleiten. In der Differenzialdiagnostik von Suizidankündigungen gilt es im Wesentlichen,
drei Typen zu unterscheiden.
-
Patienten mit Suizidalität im Rahmen einer Depression
Bei diesen ist die Suizidankündigung eindeutig ein Indikator für eine suizidale Gefährdung.
Die Suizidalität ist im Wesentlichen durch kognitiv verzerrte depressive Fehlbewertungen
bedingt. Diese Patienten bedürfen dringend einer Therapie, meistens stationär. In
der Regel ist dafür das Einverständnis der Patienten zu gewinnen, ausnahmsweise ist
auch einmal eine gerichtliche Unterbringung erforderlich. Ob tatsächlich ein depressives
Syndrom vorliegt, lässt sich mit eingehender Exploration und Fremdanamnese sowie Verhaltensbeobachtungen
auf der Station meistens innerhalb von 24 Stunden gut beurteilen.
-
Patienten mit Suizidankündigung unter Alkoholeinfluss
Alkohol ist bekanntermaßen in hohem Maße mit gewalttätigem Verhalten assoziiert, jedoch
auch mit selbstgerichteter Aggressivität und Suizidalität. Angesichts der großen Häufigkeit,
mit der dieses Phänomen klinisch beobachtet wird, ist die Behandlung in der Literatur
eher spärlich; dennoch sind die Zusammenhänge gut belegt [2]
[3]. Nach klinischer Erfahrung sind nahezu alle Patienten, die in alkoholisiertem Zustand
Suizidgedanken oder -absichten äußern (mit oder ohne gleichzeitig bestehende Alkoholabhängigkeit)
nach Ausnüchterung nicht mehr suizidal. Wenn keine weitergehende Indikation für eine
stationäre Behandlung besteht, spricht meines Erachtens nichts gegen eine Entlassung
nach Ausnüchterung und Beratung über Risiken und Behandlungsmöglichkeiten. Durchaus
besteht die Gefahr der Wiederholung derartiger Ereignisse und mittelfristig ein erhöhtes
Suizidrisiko [4].
-
Menschen mit Suizidankündigungen aus anderen Gründen ohne Vorliegen eines depressiven
Syndroms
Gründe sind in der Regel psychosoziale Konfliktlagen, eventuell auch verbunden mit
manipulativen Intentionen bezüglich anderer Personen im persönlichen Umfeld, nicht
selten (freilich keineswegs immer) vor dem Hintergrund einer Persönlichkeitsstörung.
Gerade diese Fälle bedürfen einer sehr sorgfältigen Abklärung im Hinblick auf psychopathologische
Symptomatik, belastende und protektive situative Faktoren und fortbestehende Suizidalität.
Insbesondere muss ein hintergründig doch bestehendes schwereres depressives Syndrom
sorgfältig eruiert beziehungsweise ausgeschlossen werden. Wenn ein depressives Syndrom
nach hinreichend gründlicher diagnostischer Abklärung, die innerhalb von 24 Stunden
gelingen sollte, nicht vorliegt und keine sonstige Indikation für eine stationäre
Behandlung besteht, spricht meines Erachtens nichts gegen eine Entlassung, wiederum
natürlich nach Beratung und Aufzeigen von Behandlungsoptionen. Es spricht aber sogar
einiges gegen eine Fortsetzung der stationären Behandlung. Gerade bei Persönlichkeitsstörungen
entsteht durch die von Selbstverantwortung entlastenden Rahmenbedingungen der stationären
Behandlung häufig ein regressiver Sog, der zu weiterer repetitiver Symptomakzentuierung,
einer sich selbst verstärkenden Spirale dann tatsächlich entstehender stationärer
Behandlungsbedürftigkeit und somit einer schweren Destabilisierung des Gesundheitszustands
führen kann [5]. Solche Patienten nach Suizidankündigungen womöglich noch gegen ihren Willen gerichtlich
unterzubringen, könnte man bei sehr fraglichem Nutzen und möglichem erheblichem Schaden
sogar für unethisch halten, wenngleich jeder klinische Psychiater Fälle kennt, in
denen sich eine Negativspirale von Suizidankündigungen, Selbstverletzungen und Zwang
nicht vermeiden ließ. Wer weder depressiv noch psychotisch, intoxikiert, delirant
oder dement ist, ist auch in seinen Entscheidungen selbstbestimmt, einschließlich
möglicher selbstschädigender Handlungen. Nach ausreichend gründlicher Abklärung der
Sachlage und Anbieten möglicher Behandlungsoptionen hat der Arzt weder das Recht noch
die Pflicht, solchen Patienten mit Zwang zu begegnen.
Unsere Behandlungsgewohnheiten im Hinblick auf die Indikationsstellung für stationäre
Behandlungen folgen oft Traditionen und sind nicht sonderlich evidenzbasiert. In Deutschland
gibt es einen breiten und kaum hinterfragten Konsens bei Psychiatern, anderen Ärzten,
Polizei, Angehörigen und der Öffentlichkeit, dass Menschen mit Suizidäußerungen sofort
in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Ein Patient in England
dagegen würde nach einer Suizidankündigung mit hoher Wahrscheinlichkeit noch am selben
Tag einen Psychiater zu sehen bekommen, sehr wahrscheinlich aber kein psychiatrisches
Krankenhausbett. Es gibt keinerlei Evidenz dafür, dass diese grundsätzlich andere
klinische Praxis zu mehr Suiziden führt. Suizide stehen ganz überwiegend in Zusammenhang
mit psychischen Erkrankungen, die Suizidrate ist in England deutlich niedriger als
bei uns [6]. Nachdenklich stimmen die Ergebnisse einer kürzlich publizierten Studie über das
Suizidrisiko im Zusammenhang mit psychiatrischer Behandlung [7]. Es handelte sich um eine Analyse aller Suizide in Dänemark zwischen 1996 und 2009.
Irgendeine Art psychiatrischer Behandlung erhöhte das Risiko um den Faktor 8; Patienten,
die mit der Notaufnahme Kontakt gehabt hatten, hatten eine Risikoerhöhung um den Faktor
28 und solche, die stationär aufgenommen worden waren, hatte eine Risikoerhöhung um
den Faktor 44. Mit Rückschlüssen bezüglich Ursachen ist große Vorsicht angebracht,
Selektionsfaktoren spielen sicher eine Rolle. Trotzdem sind diese Daten nicht gerade
ein Beleg für die Erfolge stationärer psychiatrischer Behandlung in der Suizidverhütung.
Wir benötigen in diesem sehr wichtigen klinischen Tätigkeitsfeld eines Psychiaters
mehr Evidenz. Gegebenenfalls sollten wir bereit sein, unsere klinischen Handlungsroutinen
neuen Erkenntnissen anzupassen.