physiopraxis 2015; 13(05): 16-17
DOI: 10.1055/s-0035-1554752
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Den Blick schärfen – Wissenstransfer in der Physiotherapie

Eva Trompetter

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Publication Date:
22 May 2015 (online)

 

Über die Forschung an neues Wissen zu gelangen ist das eine – dieses Wissen in die Praxis zu übertragen das andere. Hier hilft die Implementationsforschung: Sie lenkt den Blick auf die Bedürfnisse der Praktiker, um ihnen den Transfer der neuen Erkenntnisse in ihren Alltag zu erleichtern.


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Eva Trompetter

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Eva Trompetter ist Physiotherapeutin und hat Public Health studiert Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld. Für physiopraxis arbeitet sie regelmäßig wissenschaftliche Themen auf.

Studien aus der Versorgungsforschung, etwa die Heil- und Hilfsmittelreporte der BARMER GEK, machen deutlich, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Versorgungskonzepte oftmals nicht von selbst ihren Weg in die Praxis finden. So erhalten beispielsweise viele Patienten mit Arthrose oder einem Fibromyalgiesyndrom statt empfohlener aktiver Behandlungen noch immer überwiegend passive Maßnahmen [1, 2] (physiopraxis 1/14). Dies liegt an der Verordnung des Arztes, den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten, aber auch daran, dass der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis oft nicht reibungslos funktioniert. Damit künftig mehr Patienten von Forschungsergebnissen profitieren, braucht der Wissenstransfer mehr Beachtung.

Patienten erhalten oft nicht die empfohlene Therapie.

Wissenschaftler und Praktiker sollten sich gegenseitig anerkennen

Dass in einer Berufsgruppe zunehmend geforscht wird, führt nicht automatisch dazu, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch Einzug in die Praxis finden. Oft stoßen diese bei den Praktikern zwar auf eine gewisse Zustimmung, aber auch auf Ratlosigkeit, stillschweigende Meidung oder gar Abwehr. Solche Reaktionen sind nicht verwunderlich, da das Wissen, das sich die Praktiker aneignen müssten, um die neuen Methoden umzusetzen, in der Regel sperrig und fremd ist. Sollen Prozesse modernisiert werden, stört das die bewährte Routine der Arbeitswelt [3]. Auf Ablehnung stoßen Veränderungen oft auch, weil die Praktiker nicht wissen, wie sie mit dem neuen Wissen umgehen sollen oder welche Vorteile es mit sich bringt. Auch institutionelle Rahmenbedingungen, zum Beispiel starre Hierarchien und Arbeitsabläufe oder wenig Austauschmöglichkeiten mit Kollegen, können eine Hürde sein, neue Erkenntnisse umzusetzen [4].

Zudem hegen Praktiker und Wissenschaftler Vorurteile einander gegenüber. So wird Praktikern gerne zu wenig Interesse an Weiterentwicklung unterstellt, während Wissenschaftler schnell als praxisferne Fachidioten gelten [5]. Soll der Wissenstransfer gelingen, müssen sich Wissenschaft und Praxis gegenseitig anerkennen, sich konstruktiv austauschen und kompromissbereit sein [4, 7].

Die Implementationsforschung befasst sich unter anderem damit, wie sich evidenzbasiertes Wissen in den beruflichen Alltag integrieren lässt. Sie begleitet beispielsweise die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis und interessiert sich dabei besonders für hinderliche oder förderliche Kontextbedingungen des Transfers. Das sind etwa die individuellen Eigenschaften und Einstellungen der Adressaten, wie ihre Motivation und ihre Interessen [8]. In der Pflege beispielsweise befasst sich das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) neben der Entwicklung von evidenzbasierten Expertenstandards vor allem auch mit deren modellhafter Implementierung. Dazu arbeitet das Netzwerk mit ausgewählten Praxiseinrichtungen zusammen, die die Expertenstandards über sechs Monate erproben. Die Praxispartner erhalten zunächst eine Fortbildung, dann erfolgen die Anpassung der Standards an die Gegebenheiten der jeweiligen Einrichtung und im Anschluss daran die Einführung und Anwendung unter wissenschaftlicher Begleitung [16].

Veränderungen im Alltag stoßen häufig auf Ablehnung.


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Auch andere Länder haben Schwierigkeiten

Zu den Kontextbedingungen des Wissenstransfers in der Physiotherapie gibt es international einige Untersuchungen. Diese befassen sich insbesondere mit der Umsetzung nationaler Leitlinien. Sie zeigen, dass der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis auch in Regionen mit akademischer Ausbildung und etablierter Forschung, etwa in den USA oder in Skandinavien, nicht von selbst erfolgt. Die Studien konnten belegen, dass der Wissenstransfer bei Physiotherapeuten vor allem dadurch erschwert wird, dass die Arbeitsbelastung zu hoch ist und die Therapeuten zu wenig Zeit oder keinen Zugang zu Literatur bzw. zum Internet haben [9, 10].

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Abb.: Skylines/shuttertstock.com

Zudem besteht oftmals kein Interesse an Forschungsergebnissen oder es fehlen Medienund Recherchekompetenz beziehungsweise die Therapeuten haben mangelnde Fremdsprachenkenntnisse [9, 11, 12]. Gleichzeitig spielt auch die individuelle Einstellung zur Wissenschaft eine Rolle, etwa ein Misstrauen gegenüber Forschungsergebnissen [13].

Die Erfahrung, dass es für den Wissenstransfer unerlässlich ist, sich an den praktizierenden Therapeuten zu orientieren, haben auch unsere niederländischen Nachbarn gemacht. In den 2000er Jahren konnten sie nachweisen, dass Physiotherapeuten Schwierigkeiten hatten, die Empfehlungen einer nationalen Leitlinie für die Behandlung von Kreuzschmerzen in der Praxis umzusetzen. Sie sollten psychosoziale Faktoren von Gesundheit und Krankheit in die Behandlung einbinden. Das fiel ihnen schwer, zudem hatten sie Wissenslücken und Schwierigkeiten damit, ihren Patienten zu vermitteln, dass sie zu den üblichen Hands-on-Techniken auch ein Beratungsgespräch mit ihnen führen wollen. In Rollenspielen lernten die Therapeuten daraufhin ihr Anliegen bei den Patienten anzubringen. Außerdem erhielten sie didaktisch aufbereitete Materialien und einen Flyer mit Informationen über die Leitlinie für die Patienten [14].

Wissenstransfer muss sich an den Praktikern orientieren.


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Wissensarbeiter könnten vermitteln

Diese Erfahrungen anderer Länder im Bereich der Physiotherapie, aber auch die der Pflegewissenschaft in Deutschland machen deutlich, dass der Wissenstransfer eine komplexe und anspruchsvolle Aufgabe ist. Therapeuten, die in diesem Bereich arbeiten möchten, etwa bei der Einführung von Leitlinien entsprechend den Expertenstandards in der Pflege, sollten beispielsweise über didaktische Kompetenzen verfügen und mit Veränderungen von institutionellen Rahmenbedingungen und Arbeitsabläufen vertraut sein. Zudem sollte dieser Therapeut über ein sehr gutes Praxiswissen und eine fundierte wissenschaftliche Fachexpertise verfügen. Es gibt deshalb Empfehlungen aus der Pflegewissenschaft, diese sogenannten Wissensarbeiter gezielt an Hochschulen zu qualifizieren [15]. Im Rahmen gesundheitsbezogener Studiengänge etwa könnte der Wissenstransfer ein besonderer Schwerpunkt sein.


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Eva Trompetter ist Physiotherapeutin und hat Public Health studiert Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld. Für physiopraxis arbeitet sie regelmäßig wissenschaftliche Themen auf.
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Abb.: Skylines/shuttertstock.com