Sportverletz Sportschaden 2015; 29(02): 82-84
DOI: 10.1055/s-0035-1554881
Sportphysiotherapie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview mit Mike Steverding – „Als Sportphysio darfst du kein Weichei sein“

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Publication Date:
15 June 2015 (online)

 

    Mike Steverding ist Sportphysiotherapeut des DOSB und aktuell Physiotherapeut und Rehabilitationstrainer der Fußballnationalmannschaft Österreich. Er betreut die Athleten regelmäßig bei Olympischen Winter- und Sommerspielen und bei Welt- und Europameisterschaften. Zudem ist er Therapeut und Athletiktrainer verschiedener Bundesligateams in Fußball, Handball und Basketball. Die übrige Zeit verbringt er in seinem Ambulanten Therapiezentrum MS Sport-Reha in Herxheim in der Pfalz.

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    (Fotos: S. Oldenburg)

    Mike Steverding betreut zahlreiche Bundesliga- und Nationalmannschaften. Beim Semestergespräch der SRH-Hochschule Karlsruhe berichtet er von seinen Erfahrungen im Spitzensport und erzählt, welche Eigenschaften ein angehender Sportphysiotherapeut mitbringen sollte.

    Mike, was gibt dir Energie und Kraft?

    In erster Linie meine Frau und meine Familie. Direkt danach die Arbeit mit meinen Athleten, die mich täglich herausfordert, inspiriert und motiviert. Es gibt kaum ein schöneres Gefühl, als einen fast schon verzweifelten Athleten mit diesem besonderen Glanz in den Augen wieder auf dem Spielfeld oder bei einem wichtigen Wettkampf zu sehen.

    Du arbeitest seit Jahren erfolgreich mit Spitzensportlern zusammen: Was ist der Unterschied zum Alltag in deinem Rehazentrum?

    Motivation und Zeit! Sportler wollen schnellstmöglich auf den Platz zurück. Bei ihnen wende ich intensiv sportphysiotherapeutische Maßnahmen an. Athleten haben einen anderen Trainingszustand als ein „normaler“ Patient in der Praxis. Ansonsten ist es das Gleiche.

    Ende letzten Jahres warst du mit der österreichischen Fußballnationalmannschaft unterwegs. Wie sieht dein Alltag während einer intensiven Trainingswoche aus?

    Einen Tag bevor das Mannschaftstreffen stattfindet, analysieren wir im interdisziplinären Team, welcher Fußballer wann und wie lange gespielt hat und wer behandlungs- oder regenerationspflichtig ist. Unser Ziel ist es, alle Spieler auf ein ähnliches Regenerationsniveau zu bringen. Die ersten beiden Tage sind von sogenannten Medical Checks geprägt: Laboruntersuchungen, Herzfrequenzvariabilität, Stressverhalten. Die Ergebnisse besprechen wir im Team und leiten die nötigen Maßnahmen ein. Der nächste Tag beginnt um 7.30 Uhr, ab 8 Uhr finden Laboruntersuchungen statt. Dann gibt es Frühstück und danach bereiten wir die Spieler für das erste Training (10 Uhr) vor. Es folgen eine kurze Trainingsbesprechung, dann den Fitnessbereich aufbauen, zum Beispiel mit Blackroll, TRX, Stabilisation und sensomotorischen Übungen. Beim Training ist immer mindestens ein Physio dabei. „Angeschlagene“ Spieler werden während dem Training in einer eigenen Rehabilitationseinheit betreut bzw. für die kommenden Tage aufgebaut. Im Anschluss an das Training absolvieren die Spieler individuelle Trainingsinhalte und aktive Regeneration. Auch die Versorgung mit Flüssigkeit und Nahrungsergänzung sind feste Bestandteile. Am Ende des Trainings absolvieren wir eine Spinningsequenz mit anschließendem faszialen Ausrollen. Danach folgen Mittagessen, Terminverteilung, Mittagsschlaf, Pause für die Spieler, Behandlung, Vorbereitung des zweiten Trainings (17 Uhr), Abendessen, Therapie – wenn nötig bis 24 Uhr.

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    (Foto: S. Oldenburg)
    Sportphysiotherapie

    Anbieter für Fort- und Weiterbildungen (Auszüge)

    Masterstudiengänge

    Ist es bei dieser vollen Tagesplanung überhaupt möglich, eine Mannschaft zu trainieren ohne das Individuum zu vernachlässigen?

    Die Frage ist: Was ist in dem jeweiligen Sport wichtig? Alle Athleten brauchen eine grundlegende Athletik, die zunächst mit einem vielseitigen, zielgerichteten Programm erreicht wird. Erst danach kann ich in spezifischen Einheiten auf den Einzelnen eingehen. Dafür haben wir die „Quality Time“ eingeführt. Dabei arbeiten Physiotherapeut, Conditioning Coach und Sportpsychologe eng zusammen. Wir organisieren drei bis vier Stationen, zum Beispiel Core Stability, Capoeira (brasilianische Kampfkunst) und mentales Training, und teilen uns die Sportler deren Anforderungen entsprechend auf.

    Bei Leistungssportlern ist eine schnelle Rückkehr zum Sport nach Verletzungen besonders wichtig. Geht das nicht zu Lasten einer langfristigen Genesung?

    So war es früher leider häufig. Da wurde mit Mitteln wie Cortison nachgeholfen. Eine scheinbar schnelle Genesung hat sich aber langfristig nicht bestätigt. Die Sportler waren dadurch oft chronisch verletzt und mussten im schlimmsten Fall ihre Karriere aufgeben. Das ist heute anders. Forciertes Rehabilitieren ja, aber immer mit Rücksicht auf die Prinzipien der Wundheilung und Trainingssteuerung. Es gibt Gesetzmäßigkeiten, die die Adaptation und Heilung von Gewebe bestimmen. An diese muss ich mich halten. Der Vorteil beim Athleten ist allerdings: Ich kann sofort anfangen und die ersten Heilungsphasen etwas beschleunigen.

    Rehabilitation ist ein Prozess. Inwiefern beeinflussen Bezugswissenschaften wie Sportmedizin, Sportwissenschaft und Psychologie die Sportphysiotherapie?

    Du brauchst alle Bezugswissenschaften, um den Athleten genau einschätzen zu können. Ist er beispielsweise verletzt, durchlebt er verschiedene psychische Stimmungsphasen, die natürlich den Wundheilungsverlauf beeinflussen. Aus der Sportmedizin ist Wissen über Wundheilung, neue OP-Methoden und deren Nachbehandlung eine große Hilfe.

    Die Spieler der Nationalmannschaften werden in ihrem Heimatverein ebenfalls physiotherapeutisch betreut. Hast du Kontakt zu den jeweiligen Physiotherapeuten?

    Einige Physiotherapeuten und Mediziner geben nicht gerne Informationen weiter. Sie empfinden das als Kontrolle und Kompetenzverlust. Die Kooperation hat sich zuletzt jedoch deutlich verbessert. Viele Vereinsphysiotherapeuten rufen mich im Vorfeld an. Das hilft mir, die Spieler entsprechend ihrer Verfassung einzuteilen. Am Ende muss ich die Spieler wieder an die Vereine übergeben.

    Das alles klingt nach hohem kommunikativem und organisatorischem Aufwand. Gibt es besondere persönliche Eigenschaften, die wichtig sind, um die sportphysiotherapeutischen Aufgaben bewältigen zu können?

    Du musst einfühlsam sein, eine hohe Sozialkompetenz haben, darfst kein „Weichei“ sein. Sportler haben eine deutliche Sprache. Du musst dich zurücknehmen und dennoch präsent sein, spüren, was für ein Problem der Athlet hat. Wenn ein Sportler dir anmerkt, dass du nicht genau weißt, wovon du sprichst, hast du verloren.

    Um das zu vermeiden, ist eine spezielle Ausbildung notwendig. Aber wie genau wird man eigentlich Sportphysiotherapeut?

    Es gibt unterschiedliche Ausbildungswege: Fort- bzw. Weiterbildung und Studium. Du musst Physiotherapeut sein und dich für Sport interessieren. In einer Sportart selbst aktiv zu sein ist hilfreich, um erste Betreuungserfahrung zu sammeln. Ich war Handballer und habe mich gelegentlich über die Kollegen geärgert, weil ich mich präventiv und therapeutisch ungenügend betreut fühlte: Schulterinstabilität und Rückenprobleme waren die Folgen. Ich möchte es besser machen. Meine berufliche Kombination aus Physiotherapeut und Athletiktrainer hilft mir dabei. Sportler verletzen sich meist an den Gelenken, deshalb sind die manualtherapeutische Ausbildung und myofasziale Behandlungstechniken eine gute Basis und sehr effektiv. Taping, Kinesio-Taping, Rehatraining und klassische Massagetechniken spielen aber ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Weiterbildungen haben da unterschiedlichste Schwerpunkte.

    Das klingt, als sei der Fortbildungsmarkt sehr heterogen: Gibt es Unterschiede in der Weiterbildung?

    Es gibt kleinere Wochenendfortbildungen mit kompaktem Inhalt, die nicht sehr tiefgehend sind, und die vierwöchigen Fortbildungen des Deutschen Olympischen Sportbundes, verteilt über zwei Jahre. Mit dieser Lizenz kann man Olympiakader betreuen. spt-education und ESP Education Network bieten aus meiner Sicht das umfassendste Curriculum.

    Woran erkenne ich eine gute Fortbildung?

    Eine gute Fortbildung bietet erfahrene Referenten mit Praxisbezug und ein Curriculum mit vielfältigen theoretischen sowie praktischen Inhalten. Dazu gehören unter anderem Trainingswissenschaft, Sportpsychologie, Sportmedizin, Funktionelle Anatomie, Ernährung, Wundheilung, aber auch das Tapen, Reha- oder Sensomotorisches Training.

    Lassen sich Masterstudiengänge der Sportphysiotherapie mit einer Weiterbildung vergleichen?

    Ich habe das Gefühl, dass die Studiengänge im Vergleich zur Weiterbildung noch sehr theorielastig sind. Sie haben mit dem Patienten an sich nicht viel zu tun. Eine Therapieform wird aber nicht im Labor entwickelt, sondern in der Praxis.

    Du arbeitest überwiegend mit großen Vereinen zusammen. Welche alternativen Einsatzmöglichkeiten gibt es für Sportphysiotherapeuten und wie steht es mit den Karrierechancen?

    Ein Rehazentrum mit Breiten-, Freizeit- und Leistungssportlern ist für den Sportphysio ein ideales Betätigungsfeld. Sportphysiotherapie kann aber auch in der „Wald- und Wiesenpraxis“ funktionieren. Wenn du im Leistungssport Fuß fassen willst, musst du bereit sein, Energie für etwas aufzubringen, das zunächst nicht gut bezahlt wird. Bei Olympia bist du 18 Stunden am Tag beschäftigt und bekommst 100 Euro dafür. Dafür nimmst du aus dem Sport sehr viel mit, sammelst Erfahrungen, die dein therapeutisches Handeln verbessern. Du kannst schneller entscheiden und wirkst souveräner. Sportphysios im höherklassigen Fußball werden besser bezahlt.

    Mike, welchen Tipp kannst du Therapeuten geben, die in die Sportphysiotherapie einsteigen möchten?

    Das Geheimrezept ist die Motivation. Wer mit Energie und Engagement an die Arbeit geht und sich einbringt, hat schon gewonnen. Genauso wichtig ist es jedoch auch, verlässlich und authentisch zu sein und respektvoll mit allen Teammitgliedern umzugehen und zu ihnen einen guten Draht aufzubauen. Gelingt das, kann man gerade am Anfang sehr viel von deren Erfahrung profitieren und lernen. Das Wichtigste ist aber, sich auf all das zu freuen, was einen erwartet.

    Das Gespräch führte Tobias Erhardt

    Studiengang Physiotherapie

    Hochschule Karlsruhe

    • Akkreditierter ausbildungsintegrierender Kooperationsstudiengang der SRH-Hochschule für Gesundheit Gera mit den SRH-Fachschulen für Physiotherapie in Karlsruhe, Stuttgart und Leverkusen, www.gesundheitshochschule.de, www.fachschulen-gesundheit.de

    • Dauer: Sieben Semester, nach dem sechsten Semester folgt das Staatsexamen, nach dem siebten Semester der Bachelorabschluss (B.Sc.)

    • Zugangsvoraussetzung: Fachhochschulreife

    • Beginn: Winter- und Sommersemester

    • Creditpoints: 180

    • Leiter: Prof. Dr. Tobias Erhardt, E-Mail: tobias.erhardt@srh-gesundheitshochschule.de


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    Prof. Dr. Tobias Erhardt ist Leiter des ausbildungsintegrierenden Studiengangs Physiotherapie an der SRH-Hochschule für Gesundheit in Karlsruhe, Stuttgart und Leverkusen. Er ist Physiotherapeut, M.A. in Sportwissenschaften, Psychologie, Politikwissenschaften und Lehrer für Politik und Sport.

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    (Fotos: S. Oldenburg)

    Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in physiopraxis 2015; 1: 51 – 53




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