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DOI: 10.1055/s-0035-1555716
Ernährung bei chronisch Nierenkranken – Wie kann man eine Low-Protein-Diet erreichen?
Autoren
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
19. Juni 2015 (online)
Quelle: Giorgina BP, Federica NV, Filomena L et al. Low-protein diets in CKD: how can we achieve them? A narrative, pragmatic review. Clin Kidney J 2015; 8: 61–70
Thema: Low-Protein-Diets (LPDs) haben in der Behandlung der Chronic Kidney Disease (CKD) eine wechselvolle Geschichte erfahren. Keine einzige der kontrollierten Studien einschließlich der bekanntesten Modification of Diet in Renal Disease (MDRD) ließ eine klare Schlussfolgerung zu. Systematische Reviews haben sich zumindest bei nicht diabetischen Erwachsenen dennoch dafür ausgesprochen, es scheint allerdings an der Implementierung zu mangeln. In Anbetracht zunehmender Bevölkerungsanteile, die eine vegetarische bzw. vegane Ernährung praktizieren, ergeben sich möglicherweise neue Chancen für dieses Konzept.
Projekt: In den letzten Jahren wurden Empfehlungen für die Eiweißaufnahme in der gesunden Bevölkerung in den meisten westlichen Ländern von 1,0–1,2 g/kg KG (Körpergewicht) auf 0,8 g/kg KG gesenkt. Dadurch nähert man sich den ursprünglich für die CKD entworfenen Richtwerten einer „moderat eiweißrestringierten Diät“ an, die insbesondere von Vegetariern und Veganern spontan relativ leicht erreicht werden. Damit erscheinen 1,0–1,2 g/kg KG als „eiweißreich“, während 0,6 g/kg KG sich bei Weitem nicht mehr so radikal von den allgemeinen Empfehlungen unterscheiden.
Ergebnisse: Die Autoren sehen heute 4 unterscheidbare Annäherungen an das Ziel einer moderaten LPD (0,6 g/kg KG). Sorgfältige qualitative und quantitative Planung der Ernährung erfordern 2 weitere Annäherungen: zunächst die „traditionelle’“ mit gemischten, also auch tierischen, Proteinquellen, sodann die vegane, die sich v. a. der Cerealien und Leguminosen als Eiweißquellen bedient.
Nochmals 2 weitere scheinen bzgl. Malnutrition auf der sicheren Seite: Supplemente mit essenziellen und ketoplastischen Aminosäuren, wodurch sich der Übergang von Mischkost zu veganer Ernährung erleichtern lässt. Weitgehende proteinfreie Anteile der Ernährung lassen insbesondere bei Kachexie eine höhere Energieaufnahme zu. Very-low-Protein-Diets (vLPDs, entsprechend 0,3 g/kg KG) kombinieren beide Ansätze, erfordern aber höhere Dosierungen an Supplementen. In jedem Fall ist eine LPD nicht mit einer gesunden Ernährung gleichzusetzen.
Fazit: Ähnlich der Situation des Dialysepatienten, in der gewöhnlich dem Patienten eine gewisse Wahlfreiheit zugunsten besserer Compliance zugestanden wird, könnte bei einer CKD die schrittweise Reduktion der Proteinaufnahme geeignet sein, um ihm die einfachste und am leichtesten praktizierbare Form zuzugestehen, etwa eine vereinfachte vegane Ernährung („vegan simplified diets“) für junge, flexible Patienten oder eher traditionelle mit auch tierischen Anteilen für die älteren. Eine streng auf 0,3 g/kg KG beschränkte Ernährung dürfte dagegen Patienten vorbehalten bleiben, die hoch motiviert und geschult sind, oder denen, für die ein Aufschub der Dialyse von speziellem Vorteil sein könnte.
Schlüsselwörter: CKD – Ernährung – Compliance – (ketoplastische) Aminosäuren – Low-Protein-Diets – Very-low-Protein-Diets
„A narrative, pragmatic review“ erscheint ein zutreffender Publikationstyp, wenn als wichtig anerkannte Probleme zwar seit geraumer Zeit wissenschaftlich bearbeitet werden, Ergebnisse und Schlussfolgerungen aber kontrovers bleiben. Hier geht es um die bereits 1939 erstmalig aufgeworfene Frage des Nutzens einer Eiweißrestriktion bei Patienten mit CKD [ 1 ]. Inzwischen gibt es zahllose Publikationen, 2 nur wenige Jahre alte Cochrane-Reviews und etliche Leitlinien hierzu.
EbM hat offenbar genügend abgeliefert, würden die meisten denken? Wer jetzt erwartet, mit Platzierung und Größe der Raute im Forestplot würde das Turiner Autorenteam das Problem lösen, wird jedoch von der vorliegenden Arbeit enttäuscht sein. Dessen sehr kritische Aufarbeitung der vorliegenden Literatur weist wie seine historischen Vorgänger [ 2 ], [ 3 ] auf nicht weniger als 10 wichtige, bislang unbeantwortete Fragen hin, darunter die Gretchenfrage, welche LPD optimal sei.
Eine erneute kritische Bearbeitung des Themas gewinnt auch dadurch ein bislang nicht gekanntes Gewicht, dass mittlerweile in den meisten westlichen Ländern nennenswerte Anteile der Bevölkerung irgendwann aus der landesüblichen, über ihre bisherige Lebensspanne, egal ob mit oder ohne CKD, praktizierten Ernährungsweise ausscheren. Man denkt hier in erster Linie an die Umstellung eines Erwachsenen auf eine ovo-lakto-vegetabile oder gar eine vegane Ernährungsweise und fragt sich, ob dies bzgl. Manifestation, Progression oder Symptomkontrolle einer CKD neue Aspekte liefern könnte.
Die „Umsteiger“ selbst dürften grundsätzlich von günstigen Effekten ausgehen. Unterstützt werden sie von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu allgemeinen Vorteilen sowie speziell bzgl. kardiovaskulärer, metabolischer und rheumatologischer Erkrankungen. Ihre freiwillig und oft unter Versagungen eingegangene Ernährungsumstellung, deren Vorteile zudem in populären Darstellungen oft überhöht dargestellt werden, macht sie anfällig für unspezifische Effekte. Deren Größe herauszuarbeiten wird neben vielem anderem die Aufgabe künftiger Forschung sein.
Das möglicherweise wichtigste Verdienst der Autoren besteht darin, 4 grundsätzlich zu unterscheidende Annäherungen an eine ausgewogene „0,6-Diät“ zu beschreiben:
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traditionell
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vegan
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vegan mit Supplementen
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proteinfrei
Alle 4 sind grundsätzlich praktikabel. Die letzte Variante ist insbesondere für das CKD-Stadium 5 und das progressive CKD-Stadium 4 denkbar, da hierdurch grundsätzlich iso- bzw. hyperkalorisch wirksame Energiemengen zugeführt werden können.
Dr. Rainer Stange, Berlin
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Literatur
- 1 Addis T, Lew W. Diet and death in acute uremia. J Clin Invest 1939; 18: 773-775
- 2 el Nahas AM, Coles GA. Dietary treatment of chronic renal failure: ten unanswered questions. Lancet 1986; 1: 597-600
- 3 Giovannetti S. Answers to ten questions on the dietary treatment of chronic renal failure: On behalf of the Steering Committee of the European Study Groups for the Conservative Treatment of Chronic Renal Failure. Lancet 1986; 2: 1140-1142
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Literatur
- 1 Addis T, Lew W. Diet and death in acute uremia. J Clin Invest 1939; 18: 773-775
- 2 el Nahas AM, Coles GA. Dietary treatment of chronic renal failure: ten unanswered questions. Lancet 1986; 1: 597-600
- 3 Giovannetti S. Answers to ten questions on the dietary treatment of chronic renal failure: On behalf of the Steering Committee of the European Study Groups for the Conservative Treatment of Chronic Renal Failure. Lancet 1986; 2: 1140-1142
