veterinär spiegel 2015; 25(04): 183
DOI: 10.1055/s-0035-1558282
Nutztiere & Pferde
Editorial
Enke Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Alles Wurst?

Rainer Schneichel
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Publication Date:
14 December 2015 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Adventszeit und die Weihnachtstage stehen vor der Tür. Kerzenschein und Kaminfeuer gehören für die meisten von uns genauso dazu wie Genuss und Gaumenfreunden. Selbst kochen oder essen gehen mit der ganzen Familie lenkt von den Alltagssorgen ab.


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Aber was sollen wir denn in diesem Jahr essen, ohne unsere Gesundheit zu gefährden? Die im Herbst veröffentlichte Studie der WHO über die Risiken und Folgen des Verzehrs von Fleisch und Wurst hat vielen Verbrauchern gründlich den Appetit verdorben. Das medienträchtige Thema hat hohe Wellen geschlagen.

Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass die Auswertungen der WHO in großen Teilen nicht evidenzbasiert sind und wissenschaftlich auf wackligen Füßen stehen. In die Metaanalyse seien Daten aus über 800 Studien eingeflossen, so die Weltgesundheitsorganisation. Fakt ist aber, dass es zum Thema Krebsgefahr durch Fleisch und Wurst keine solch hohe Anzahl an verwertbaren Studien gibt. Eine Gruppe von US-Epidemiologen hat nur 27 Auswertungen gefunden, die tatsächlich die Mindestkriterien für eine Evidenz-Basierung aufweisen. Dort heißt es, es sei denkbar, dass Fleisch Darmkrebs fördere, ein stichhaltiger Beleg dafür fehle aber bislang.

Meines Erachtens ist es zwar gut und richtig, die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung zu untersuchen und Risiken für die Gesundheit aufzuzeigen. Es ist auch in meinem Sinne, kritisch über den Konsum von Fleisch und Wurst nachzudenken bzw. bewusster mit der eigenen Nahrungsaufnahme umzugehen. Vor allem verarbeitete Lebensmittel sollten zugunsten frischer Zutaten weichen.

Es stimmt mich aber sehr nachdenklich, dass international renommierte Organisationen wie die WHO zunächst medienwirksam eine Pressemeldung lostreten, um anschließend selbst „zurückzurudern“. Denn mittlerweile hat man seitens der WHO Schwächen bzw. wissenschaftliche Lücken der veröffentlichten Analyse eingeräumt.

Das darf nicht passieren, weder wenn es um die menschliche Gesundheit geht, noch wenn andere Themen im Fokus stehen. Studien haben den Zweck, für Aufklärung zu sorgen. Sie müssen wissenschaftlich fundiert und nachvollziehbar sein.

Echte Wissenschaft sucht zudem ihre Daten nicht nur im Labor, sondern vor allem auch im Feld, um möglichst große und praxisnahe Stichproben zu erhalten.

Echte Wissenschaft arbeitet nicht isoliert, sondern in engem Schulterschluss mit allen an dem entsprechenden Thema beteiligten Stufen.

Echte Wissenschaft soll Wissen schaffen und nicht die mediale Präsenz als Zweck verfolgen.

Welche Schlussfolgerungen können wir für unseren Berufsstand aus der Diskussion um die WHO-Studie ziehen? Wir sollten zum Beispiel Themen, wie den Antibiotika-Einsatz und die Entwicklung von Resistenzen, umfassender beleuchten. Erfahrungen aus der Praxis gehören unbedingt dazu, um ein reales Bild von der tatsächlichen Situation zu erhalten.

In Zusammenarbeit mit der Forschung können unsere Hinweise eine wertvolle Basis für den sach- und fachgerechten Umgang mit Problemen liefern und zur Lösungsfindung beitragen.

Polemik, halbwahre Studien und Medienrummel bewirken genau das Gegenteil.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein besinnliches Weihnachtsfest und nur das Beste für das Jahr 2016.


Ihr

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Dr. Rainer Schneichel