physiopraxis 2015; 13(07/08): 67
DOI: 10.1055/s-0035-1562872
physiospektrum
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Hätte ich auf einen Arzt bestehen müssen?

Karsten Bossow

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Publication Date:
24 July 2015 (online)

 

Karsten Bossow

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Karsten Bossow ist seit 1999 Rechtsanwalt. Seit 2003 ist er Fachanwalt für Arbeitsrecht und seit 2010 für Medizinrecht.

Die Rechtsfrage

» Kürzlich machte ich einen Hausbesuch bei einer älteren Dame. Während ich mir nach der Behandlung die Hände wusch, stürzte sie. Ich bot ihr an, einen Arzt zu rufen. Dies lehnte sie jedoch mehrmals ab und sagte, sie habe keine Schmerzen. Daraufhin vermerkte ich den Vorfall in der Akte. Später erfuhr ich, dass sie einen Nasenbeinbruch davongetragen hatte. Hätte ich auf einen Arzt bestehen müssen? «

Therapeut aus Langenfeld

Die Antwort unseres Experten

Ob Sie in dieser Situation einen Arzt hätten rufen müssen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst kommt unabhängig von der Behandlungssituation eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung in Betracht. Daneben könnten Schadensersatzansprüche aufgrund unterlassener Hilfeleistung und Ansprüche aufgrund der Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag bestehen.

Eine strafbare unterlassene Hilfeleistung begeht, wer unter anderem bei einem Unglücksfall Hilfe nicht leistet, obwohl dies erforderlich und den Umständen nach zuzumuten wäre. Der Unglücksfall und die Erforderlichkeit einer Hilfeleistung sind in Ihrem Fall vorhanden. Allerdings muss für Sie auch erkennbar sein, dass Hilfe erforderlich ist. Das scheint hier nicht der Fall zu sein, da die Patientin mehrmals versicherte, sie habe keine Schmerzen. Wenn sich eine Hilfebedürftigkeit nicht aus weiteren Umständen ergibt, dürfen Sie auf die Angabe der Patientin vertrauen.

Selbst wenn aufgrund äußerer Anzeichen eine Hilfebedürftigkeit zu vermuten ist, müssen Sie den Arzt nicht rufen, wenn die Patientin frei verantwortlich darauf verzichtet oder sich selbst helfen kann. Hierfür sollte man sich vergewissern, dass die Patientin sich der Verletzung bewusst und tatsächlich in der Lage ist, bei Bedarf selbst Hilfe zu rufen. Das haben Sie offenbar getan, sodass Sie sich insoweit richtig verhalten haben.

Anders wäre es, wenn die hilfebedürftige Patientin nach dem Sturz unter Schock steht oder aus einem anderen Grund erkennbar nicht frei in ihrem Willen ist. In diesem Fall hätten Sie als Therapeut im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Hilfe leisten oder zumindest dafür sorgen müssen, dass Hilfe geleistet wird. Je nach Schwere der Verletzung können Sie dann verpflichtet sein, einen Arzt zu rufen. Dies gilt auch, wenn Sie erkennen, dass die Patientin die ihr drohenden Gefahren nicht richtig einschätzt.

Im Ergebnis haben Sie richtig gehandelt, wenn Sie keinen Zweifel hatten, dass die Patientin sich ihrer Situation bewusst war, sich bei einer Verschlechterung selbst helfen konnte und frei auf weitere Hilfe verzichtet hat. Richtig ist insbesondere die vollständige Dokumentation des Vorfalls, damit man später nachvollziehen kann, was passiert ist und was Sie veranlasst haben.

Wirft auch Ihr Berufsalltag rechtliche Fragen auf? Dann schreiben Sie eine E-Mail an Simone.Gritsch@thieme.de .


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Karsten Bossow ist seit 1999 Rechtsanwalt. Seit 2003 ist er Fachanwalt für Arbeitsrecht und seit 2010 für Medizinrecht.