Geburtshilfe Frauenheilkd 2018; 78(01): 83-92
DOI: 10.1055/s-0038-1625064
Abstracts
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mythen in der Geburtshilfe. Eine empirisch-philosophische Analyse

W Lütje
1   GGGB, Berlin
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Publication Date:
11 January 2018 (online)

 
 

    Auch in Zeiten der Evidenz ist Geburtshilfe wie die Geburt mythenumrankt. Diese stand zu keiner Zeit so sehr auf dem Prüfstand wie heute: Die Sinnfrage zwischen „normaler Geburt“ (Kaiserschnitt) und natürlicher Geburt entbehrt noch jedweder Wissenschaftstheorie. Auch die aktuellen entstehenden S3-Leitlinien „Kaiserschnitt“ und „Geburt am Termin“ kämpfen mit klaren Aussagen zur Evidenz. In Zeiten von Haftung, Ansprüchen und Angst widerspricht dies der Sehnsucht vieler Geburtshelfer nach Klarheit und Kontrolle. Da, wo die Wissenschaft nur wenig liefert, entwickelt sich der Mythos als früheste Antwort auf das menschliche Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit. So entwickelt sich der Mythos als Gegensatz von Logos, als unüberprüfte nicht evidente Idee der Richtigkeit zur Sicherung von Kontinuität und Kontrolle, aber auch von Interessen. Im Gegensatz zu Fake News gibt es beim Mythos entweder kein Bewusstsein oder keinen Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Grundannahmen. Seine penetrante Wiederholung steigert weder den Wahrheitsgrad, noch führt seine Widerlegung zu zeitnaher Veränderung des Denkens und Handelns.

    Selbst da wo es Evidenz gibt, wird sie nicht gelebt. Ein Beispiel ist das Stillen, das nach Einführung der Formelnahrung in den 1970-er Jahren mehr oder weniger abgeschafft wurde und über einen großen Kraftakt wieder einen unbestrittenen Stellenwert erlangt hat und das dennoch auch heute noch mythenumrankt ist.

    Es gibt in der Geburtshilfe zahlreiche Mythen, so z.B. der Mythos „Wunschsectio“: Wer sich ohne Grund eine Operation wünscht, hat eine psychiatrische Erkrankung. Frauen treffen aber regelhaft nur eine informierte Entscheidung zwischen zwei Übeln, die selbstverständlich beleuchtet und hinterfragt werden müssen, denn jeder Kaiserschnitt braucht nach heutigem Stand zumindest eine biopsychosoziale Indikation. Weitere Mythen betreffen z.B. den Liegendtransport bei Blasensprung, aber auch die unbekannte Tatsache, dass die Hauptursache für die Müttersterblichkeit nicht mehr die Blutung, sondern der Selbstmord ist, In Anbetracht der dargestellten Fülle an Irrtümer und Mythen in der Geburtshilfe sollten wir vor allem eines zeigen: Demut. Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, gilt es, das B-E-S-T-E für die Geburtshilfe zu bewahren: Gute B-etreuung, E-ntängstigung, S-innfindung und T-raining in den nicht immer evidenten, aber doch eminenten Skills, Tricks und BeHandlungen rund um die Geburt. Und das biopsychosoziale Denken, Fühlen und Handeln schwingt immer mit!


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