Schlüsselwörter
Lakritze - Prinzmetal-Angina - Glycyrrhizin - Glycyrrhetinsäure
Key Words
licorice - Prinzmetal angina - glycyrrhizin - glycyrrhetinic acid
Lakritze wird aus Süßholzwurzel (Glycyrrhiza glabra) gewonnen, einer seit langem bekannten
Heilpflanze. Wie man inzwischen weiß, kann chronisch erhöhter Lakritz-Verzehr zu Hypokaliämie
und
Hypertonie führen. Weniger bekannt sind Zusammenhänge mit einer vasospastischen Reaktion
– neue Einblicke gibt der vorliegende Fallbericht.
Erstes Ereignis
Thorakaler Vernichtungsschmerz | Die 44-jährige Patientin (Größe: 160 cm, Gewicht 65 kg) wacht morgens mit thorakalem
Vernichtungsschmerz und akuter Dyspnoe auf und alarmiert den Notarzt. Dieser stellt
ein Hyperventilationssyndrom fest, der Blutdruck beträgt 90/65 mmHg, die Herzfrequenz
68 Schläge / min. Fünf Jahre vor dem aktuellen Ereignis kam es während einer Schwangerschaft
zu einer tiefen Beinvenenthrombose; in der Folge stellte man eine heterozygote Prothrombinmutation
fest. Medikamente nimmt die Frau derzeit nicht ein.
Erhöhtes Troponin | Nach Ankunft in der Klinik werden ein EKG und eine transthorakale Echokardiographie
durchgeführt – beides ohne Auffälligkeiten; insbesondere findet sich keine Zeichen
einer Lungenarterienthrombose. Die D-Dimere sowie der Kaliumspiegel liegen im Normbereich;
der Troponinwert ist mit 0,041 und im Folgenden mit 0,955 µg / l (Norm < 0,003 µg / l)
erhöht.
Linksherzkatheterisierung unauffällig | Die Beschwerden halten – etwas abgeschwächt – an, so dass am Nachmittag eine Linksherzkatheteruntersuchung
erfolgt: Dabei kann eine stenosierende koronare Herzkrankheit ausgeschlossen werden.
Auch ein Röntgen-Thorax in 2 Ebenen, ein Kardio-MRT sowie eine Bodyplethysmographie
bleiben unauffällig. Die Schmerzen sistieren im weiteren Verlauf, und die Patientin
kann entlassen werden. Eine spezifische Therapie wird nicht empfohlen.
Zweites Ereignis
Erneute thorakale Beschwerden | Vier Monate später treten morgens kurz nach dem Aufstehen – aus völligem Wohlbefinden
heraus – erneut thorakale Beschwerden mit Dyspnoe auf. Die Patientin kommt zur Notaufnahme.
Es stellt sich heraus, dass sie am Vortag – entgegen ihrer Gewohnheit – eine Tüte
Lakritze (200 g) gegessen hatte. Der Blutdruck beträgt 110/50 mmHg.Zum Aufnahmezeitpunkt ist der Troponinwert unauffällig (< 0,010 μg / l), jedoch bei
einer Kontrolle am späten Nachmittag mit 0,225 μg / l erhöht. D-Dimere, Kreatinkinase
(CK) sowie CK-MB und Kaliumspiegel liegen im Normbereich, ebenso das Brain Natriuretic
Peptide (BNP).
Gefäßerweiterung nach Nitroglycerin | Im Aufnahme-EKG zeigen sich Infarkt-typische ST-Hebungen in den Ableitungen V2–V6
(▶ [Abb. 1], links), sodass umgehend eine erneute Koronarangiografie erfolgt. Die Koronarien
weisen keine Stenosen oder Embolien auf (▶[Abb. 2]). Die LV-Funktion ist regional leicht eingeschränkt mit einer anteroapikalen Hypokinesie.
Nach intrakoronarer Nitrogabe zeigte sich eine deutliche Gefäßerweiterung, was den
Verdacht auf einen Gefäßspasmus bestätigt. Sechs Stunden nach der Aufnahme finden
sich im EKG keine ST-Hebungen mehr (▶ [Abb. 1], Mitte). Auch am Folgetag fehlen ST-Hebungen; dafür finden sich T-Negativitäten
in V1–V4 (▶ [Abb. 1], rechts). Diese Befunde sprechen für eine Prinzmetal- Angina.
Abb. 1 Links: Deutliche ST-Hebung in V2–V6 bei stationärer Aufnahme. Mitte: Nach 6 Stunden
ist die ST- Hebung verschwunden; positive T-Welle in V2–V6. Rechts: Am Folgetag zeigen
sich negative T-Wellen in V1–V4.
Abb. 2 Die Koronarangiografie der linken und rechten Koronararterie (LCA) zeigt einen unauffälligen
Befund.
Therapie | Wir raten der Patientin, in Zukunft auf Lakritze zu verzichten, und verordnen 2,5 mg
Amlodipin / Tag. Seitdem sind ähnliche Beschwerden ausgeblieben.
Diskussion
Lakritze – ein Süßstoff | Lakritzprodukte enthalten mindestens 5 % eingedickten, trockenen Wasserextrakt der
Süßholzwurzel (Süßholzsaft). Natürlicher Bestandteil ist Glycyrrhizin(säure) (▶ [Abb. 3]): Das Aglykon Glycyrrhetinsäure wird intestinal freigesetzt. Glycyrrhizin hat eine
50-fach höhere Süßkraft als Rohrzucker, während das Aglykon nicht süß schmeckt. Medizinisch
eingesetzt wird Lakritze als Expektorans bei Katarrhen der oberen Atemwege, als Antiphlogistikum,
als Spasmolytikum bei Gastritis und Magengeschwüren sowie als Geschmackskorrigens
[5].
Abb. 3 Strukturformel von Glycyrrhizin.
Beschränkter Konsum empfohlen | Der Gehalt an Glycyrrhizin beträgt in den meisten Lakritzwaren maximal 200 mg / 100 g.
Produkte mit einem höheren Gehalt müssen als Stark-Lakritz gekennzeichnet werden.
Übersteigt der Gehalt 400 mg / 100 g, so muss folgender Hinweis angebracht sein: „
Enthält Lakritze – bei hohem Blutdruck sollte ein übermäßiger Verzehr dieses Erzeugnisses
vermieden werden“ [3]. Das Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt den Konsumenten derzeit, die Glycyrrhizin-Zufuhr
bei regelmäßigem Konsum auf 100 mg pro Tag zu beschränken [4]. Die meisten Lakritzprodukte enthalten deutlich weniger als die sehr restriktiv
definierte Grenze. Man erreicht diesen Wert erst bei einem Konsum von ca. 50–100 g
Lakritze pro Tag. Unsere Patientin konsumierte allerdings 200 g.
Mineralokortikoide Wirkung | Glycyrrhetinsäure hat zusätzlich mineralokortikoide Wirkung. Sie hemmt die 11-Beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase
2 (11-BHSD2), die Cortisol zu Cortison inaktiviert (▶[Abb. 4]). Dadurch kommt es zu einer dauerhaften Aktivierung des Mineralokortikoidrezeptors
(MR) durch Cortisol.
Abb. 4 Glycyrrhetinsäure hemmt die 11-Beta-Hydroxysteroid-Dehydrogenase 2 (11-BHSD2) und
verhindert so die Inaktivierung von Cortisol zu Cortison. Das vermehrt anfallende
Cortisol bindet an den Mineralokortikoid-Rezeptor; ein hyperaldosteroner Status wird
vorgetäuscht.
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Die Affinität von Cortisol zum Rezeptor entspricht zwar derjenigen von Aldosteron,
-
die Cortisol-Plasmakonzentration übersteigt die von Aldosteron jedoch um das Hundertfache.
Dadurch wird ein hyperaldosteroner Status wird vorgetäuscht [6]:
-
Es kommt zu Änderungen im Mineralstoffhaushalt mit Natriumretention und Kaliumverlust.
-
In der Folge steigt der Blutdruck, und es bilden sich Ödeme.
Freisetzung im Gefäßendothel | Das durch Glycyrrhetinsäure gehemmte Enzym 11-BHSD2 wird im distalen Tubulus der Niere,
aber auch in der glatten Gefäßmuskulatur sowie in Endothelzellen freigesetzt [7]. Es gibt Hinweise, dass der Verzehr von Lakritze die Vasokonstriktion der glatten
Gefäßmuskulatur durch Hemmung der 11-BHSD2 mit späterer Veränderung des Endothelin-1-
(Et-1) und Stickstoffmonoxid (NO)-Systems steigert [8].
Vasospasmen durch Lakritze | Vereinzelt wurde Lakritz-Konsum in Zusammenhang gebracht mit vasospastisch-vermitteltem
vorübergehendem Sehverlust, Migräne und dem Posterioren reversiblen Enzephalopathie-Syndrom
(PRES) [1], [2]. Zu den vasospastisch vermittelten Reaktionen gehören auch Spasmen der Koronargefäße,
für die durch Glycyrrhizin oder Glycyrrhetinsäure induzierte Veränderungen in den
Endothelin- und NO-Systemen verantwortlich gemacht werden.
Prinzmetal-Angina | Bei der Prinzmetal-Angina führen Spasmen der Herzkrankgefäße zu einer passageren Ischämie
der Herzmuskulatur. Im Gegensatz zur klassischen Angina pectoris treten die Beschwerden
belastungsunabhängig – häufig früh morgens – auf, begleitet von retrosternalem Druck
bzw. Schmerz, der in Nacken, Kiefer und / oder die linke Schulter ausstrahlen kann.
Mögliche Begleiterscheinungen sind Palpitationen und Synkopen verursacht durch Arrhythmien.
Schlimmstenfalls kann ein Herzinfarkt resultieren. Betroffen sind vor allem junge
Menschen im Alter von 30–40 Jahren, häufig Raucher; nur selten liegen kardiovaskuläre
Risikofaktoren vor. Im EKG kann während eines Anfalls eine ST-Strecken-Hebung dargestellt
werden. Differenzialdiagnostisch muss zwischen der Prinzmetal-Angina und einer instabilen
Angina pectoris, bedingt durch eine Atherosklerose der Koronargefäße, unterschieden
werden. Aufschluss gibt hier eine Koronarangiografie.
Mögliche Wirkmechanismen | Erkenntnisse zu pathophysiologischen Zusammenhängen stammen überwiegend aus Tierexperimenten:
-
Parisella et al. [9] untersuchten den Effekt von Glycyrrhizin und Glycyrrhetinsäure an isolierten Rattenherzen.
Sie stellten fest, dass beide Substanzen direkt die kardiale Kontraktilität und Erschlaffung
beeinflussen konnten – mit zum Teil gegenteiligen Effekten.
-
Im Aortengewebe von Ratten mit Glycyrrhizinsäure-induzierter Hypertonie fanden Ruschitzka
et al. [10] erhöhte Endothelin-1- und verringerte eNOS- sowie Nitratkonzentrationen. Nach Gabe
von MR-Antagonisten (Spironolacton, Epleneron) sowie unter ETA-Blockade normalisierten
sich der Blutdruck und die Veränderungen der ET-1-, eNOS- und Nitratwerte. Durch chronische
Lakritz-Zufuhr wurden ETA-induzierte Kontraktionen der Aortenringe verstärkt. Das
ließ sich sowohl durch Gabe von Aldosteron-Rezeptor-Antagonisten als auch durch eine
ETA-Blockade bessern.
-
Eine Beeinträchtigung der Gefäßentspannung als Antwort auf eine Acetylcholin-Gabe
an zuvor verengten renalen Arterienringen von hypertensiven Ratten (Lakritze-induziert)
konnte durch Einsatz von Spironolacton komplett normalisiert und unter dem ETA-Rezeptor-Antagonist
Darusentan lediglich verbessert werden. Nitroprussid beeinflusste die Endothel-unabhängige
Erschlaffung nicht [11].
-
Sobieszczak et al. [12] kamen in ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass eine durch Glycyrrhetinsäure-vermittelte
Hemmung von 11-BHSD2 die gefäßerweiternde Funktion der Gefäßmuskulatur abschwächt.
Genetisch bedingt höhere Sensibilität? | Miettinen et al. [13] untersuchten die DNA-Proben von 30 Probanden mit dokumentierter Lakritze-induzierter
Hypertonie. Sie konnten keine signifikanten DNA-Variationen der 11-BHDS2-Gene identifizieren.
Allerdings waren DNA-Varianten der Untereinheiten des epithelialen Natriumkanals,
die mit einer Hypertonie in Verbindung stehen sollen, bei den Studienteilnehmer mit
20 % häufiger als bei einer Vergleichsgruppe von Blutspendern (3,7 %). Demnach – so
folgerten die Autoren – könnten Varianten der ENaC-Untereinheiten einige Individuen
für eine durch Lakritze ausgelöste Hypertonie sensibler machen.
Differenzialdiagnose | Es gibt auch Berichte über allergische Reaktionen durch Lakritze, z. B. Hautausschläge
oder Berufsasthma [13], [14]. Zu allergischen Koronarspasmen durch Lakritze fehlen jedoch Literatur-Daten. Hier
kann man das Kounis-Syndrom als allergischen Myokardinfarkt anführen [15]. Man unterscheidet bei diesem Syndrom zwei Typen. Beim Typ I liegen morphologisch
unauffällige Koronargefäße vor. Durch eine allergische Reaktion kommt es über eine
endotheliale Dysfuktion infolge eines Vasospasmus zu Angina pectoris oder zum Myokardinfarkt.
Eine Koronarsklerose liegt beim Typ II zugrunde. Durch eine allergische Reaktion kommt
es zu Plaqueerosion oder - ruptur und dann zur Thrombusbildung und zum Myokardinfarkt
[16].
Konsequenz für Klinik und Praxis
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Lakritzprodukte sind als „low-fat“ Genusswaren weit verbreitet – dass der vermehrte
Konsum schädlich sein kann, ist vielen Konsumenten unbekannt.
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Im geschilderten Fall kam es zu einem Koronarspasmus (Prinzmetal-Angina), bei dem
aufgrund der bereits erforschten Einflüsse von Glycyrrhizin und Glycyrrhetinsäure
auf das Endothelin- bzw. NO-System eine Assoziation mit einem Lakritz-Konsum denkbar
ist.