ergopraxis 2015; 8(10): 44-46
DOI: 10.1055/s-0041-101696
perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Im Hier und Jetzt – MBSR: Stressbewältigung durch Achtsamkeit

Anke Zillessen

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Publikationsdatum:
09. Oktober 2015 (online)

 

Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) ist ein Anti-Stress-Programm, das Ergotherapeuten zur Stabilisierung ihrer inneren Balance und in manchen Fällen auch zur Erweiterung ihres Präventionsangebots verhelfen kann. Kombiniert mit der kognitiven Verhaltenstherapie kann die Achtsamkeitsmethode Menschen mit Depressionen und Angststörungen vor Rückfällen bewahren.


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Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) fußt auf einer jahrtausendealten buddhistischen Meditationspraxis. Da sie deren universellen Charakter hervorhebt, kann man sie unabhängig von religiösen oder spirituellen Neigungen praktizieren. Das Konzept des Medizinprofessors Jon Kabat-Zinn wird inzwischen weltweit an Kliniken und Gesundheitszentren erfolgreich angewandt. Im deutschsprachigen Raum übersetzt man MBSR meist mit „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“.

Meditation in der modernen Medizin

Achtsamkeit an sich ist nichts Buddhistisches. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, achtsam im Hier und Jetzt zu sein. Jon Kabat-Zinn arbeitete anfangs vor allem mit Menschen, die an chronischen Schmerzen litten und bei denen die Schulmedizin am Ende ihrer Weisheit war. MBSR eignet sich also gerade bei hohem Leidensdruck. Es geht vor allem darum, mit den schwierigsten Herausforderungen des Lebens gut umzugehen. MBSR kann körperliche oder psychische Erkrankungen zwar nicht heilen, doch die Betroffenen spüren trotz ihrer Symptome wieder mehr Lebensfreude und Wohlbefinden. Studien zeigen, dass MBSR positiv auf das Immunsystem und das Gehirn wirkt [1].

Der Ansatz des Konzepts besteht darin, die inneren Ressourcen zu aktivieren. Das ist auch für gesunde Menschen hilfreich, die beispielsweise mit Schlafstörungen zu tun haben, unter Prüfungsstress oder Termindruck leiden. Die Voraussetzung fürs Gelingen: Es braucht die Motivation, sich jeden Tag eine halbe Stunde Zeit für Achtsamkeitsübungen einzuräumen und Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren.

Wer am achtwöchigen MBSR-Programm teilnimmt, erlernt an acht Kursabenden zu je zweieinhalb bis drei Stunden und einem „Tag der Achtsamkeit“ Sitzmeditation, Gehmeditation, Yoga-Übungen, Körperwahrnehmung und achtsam ausgeführte Alltagshandlungen wie Essen, Autofahren, Geschirrspülen [2].


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MBCT – Für Menschen mit Depressionen

Für Menschen mit rezidivierenden Depressionen haben die Professoren Williams, Teasdale und Segal ein Rückfallprophylaxe-Programm entwickelt, bei dem die Achtsamkeitsmeditation die Hauptintervention ist [3–5]. Diese Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness- Based Cognitive Therapy, MBCT) kombiniert die Kernelemente aus dem achtwöchigen MBSR-Programm mit Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie in einem ebenfalls achtwöchigen Training. Durch die Übung der Achtsamkeit erkennen die Betroffenen Frühwarnsymptome rechtzeitig und können sich bewusst hilfreichen Übungen zuwenden, die den Rückfall verhindern. „Die regelmäßige Übung der Achtsamkeit hilft, Grübelschleifen zu erkennen und aus ihnen auszusteigen: Schwierige Gedanken verlieren Schritt für Schritt ihre Macht, und eine mitfühlende, freundliche Haltung sich selbst gegenüber kann entstehen“, erklärt Petra Meibert, stellvertretende Vorsitzende des MBSR-MBCT-Verbands.


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Innere Ressourcen stärken

MBSR und MBCT stärken die inneren Ressourcen und fördern die Fähigkeit, mit den Herausforderungen einer schweren Erkrankung besser umzugehen: bei chronischen Schmerzen, Krebserkrankungen, Multiple Sklerose, Migräne, Schlafstörungen, Herzkrankheiten, Depressionen und Angststörungen. MBSR wird auch zur Burnout- Prophylaxe eingesetzt, MBCT zur Rückfallprophylaxe bei rezidivierenden Depressionen

Wen die Ausbildung zum MBSR-Lehrer und – darauf aufbauend – zum MBCT-Lehrer reizt, der sollte großes persönliches Interesse mitbringen und eine solide Meditationspraxis vorweisen: Zwei Jahre Erfahrung in Sitzmeditation, ein siebentägiges angeleitetes Schweige-Retreat und ein achtwöchiger MBSR-Kurs sind die Voraussetzungen. 28 Ausbildungstage sind dort über 13 Monate verteilt und kosten zwischen 4.200 und 4.500 Euro.

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Nach langjähriger eigener Meditationserfahrung fühlte sich Renate Kintea gleich angesprochen, als sie 2006 von der Ausbildung zur MBSR-Lehrerin hörte. Seit 2008 leitet die Mannheimer Ergotherapeutin nun regelmäßig achtwöchige MBSR-Kurse – als Präventionsangebot zur Stressbewältigung durch Achtsamkeit.

Achtsamkeit spricht Menschen an, die ihr Leben bewusster wahrnehmen und lebendiger gestalten möchten. Was waren das für Leute, die Ihren allerersten MBSR-Kurs besucht haben?
Meine Mitarbeiter – und einige externe Interessierte. Die Ausbildung zur MBSR-Lehrerin beinhaltet, dass man einen eigenen Kurs vorbereitet und durchführt. Und da hat es sich so ergeben, dass ich meine Mitarbeiter gefragt habe, ob sie Lust haben, an diesem Kurs teilzunehmen. Die Durchführung hat mir sehr viel Freude bereitet. Neben regelmäßig stattfindenden MBSR-Kursen biete ich seither auch Fortbildungen und Workshops zum Thema Achtsamkeit für Ergotherapeuten und interdisziplinäre Teams an.

Was fasziniert Sie an der Methode?
Mich faszinieren die Qualität, die Einfachheit und gleichermaßen die Komplexität der Inhalte und Wirkungen, die die Übungen der Achtsamkeit bewirken können. Das Spezifische scheint mir die persönliche Erfahrung, die jeden Tag von neuem in eigenen Übungen beginnt. Ich versuche, achtsam in den vielfältigen Rollen in meinem Alltag unterwegs zu sein.

Wie sieht das genau aus, zum Beispiel in Ihrem Praxisalltag?
Ich habe ein kleines Ritual zwischen meinen Patiententerminen: Ich öffne das Fenster, lüfte den Raum und atme ganz bewusst. Ich nehme wahr, wie ich im Moment hier bin – meine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen. Dann zentriere ich mich auf meinen Atem und zum Abschluss auf den Körper als Ganzes. So habe ich innerlich Abstand gewonnen und kann mich ganz auf die nächste Begegnung einlassen. Das nennt sich „Breathing Space“ oder zu Deutsch: Atemraum.

Achtsamkeit ist die Haltung, in der ich meinen Patienten begegnen möchte.

Achtsamkeit ist die Haltung, in der ich meinen Patienten begegnen möchte, ohne dass dieses Wort jemals fallen muss. Achtsamkeit hilft mir, im Kontakt mit dem Patienten einerseits meine Ideen, Ziele und Lösungsstrategien für die Therapie im Hinterkopf zu haben, gleichzeitig aber auch wahrzunehmen, ob der Patient nicht über bessere eigene Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten verfügt, die für den Therapieerfolg viel dienlicher sind.

Ist MBSR für Ergotherapiepraxen auch unternehmerisch reizvoll?
Da wäre ich vorsichtig. Es braucht eine persönliche starke innere Motivation – und die Weiterbildung kostet Geld. Die Acht-Wochen-Kurse sind zeit- und vorbereitungsintensiv und daher relativ teuer. Die Krankenkassen bezuschussen MBSR-Kurse nicht, wenn sie von Heilmittelerbringern geleitet werden.

Dennoch bieten Sie die Kurse seit Jahren regelmäßig an – warum?
MBSR ist mir eine Herzensangelegenheit, es macht mir große Freude, dieses Wissen und diese wirkungsvolle Methode weiterzugeben. Derzeit biete ich regelmäßig zwei Kurse im Jahr an. Diese werden interessiert angenommen, das freut mich natürlich sehr.

Wie erfahren die Menschen von Ihren Kursen?
Ausführliche Informationen stehen auf meiner Homepage (www.mbsr-mannheim.de). Zudem findet man mich über die Homepage des MBSR-MBCT-Verbands und über Empfehlungen. Ich versuche allerdings, die MBSR-Kurse von der Ergotherapie sauber zu trennen. Denn das Anliegen von MBSR ist Achtsamkeit zur Stressbewältigung als Prävention und nicht als Therapie. In einem unverbindlichen Vorgespräch erhalten Interessierte vertiefende Informationen zum Kursinhalt. Dann klären wir, warum jemand konkret am Kurs teilnehmen möchte, welche Stressfaktoren er aktuell in seinem Leben hat und wie sich diese auswirken. Es gibt auch Kontraindikationen: Drogenund Tablettenmissbrauch, Suizidalität, psychotische Erkrankungen, eine schwere depressive Krise. Für Menschen mit einer aktuellen chemotherapeutischen Behandlung könnte das MBSR-Programm zu anstrengend sein. Auch bei Menschen, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, sollte man die Teilnahme aufgrund der spezifischen Symptomatik gut abwägen. Wenn Teilnehmer aktuell eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, ist es wichtig, dass der Kursbesuch mit dem Psychotherapeuten abgestimmt ist. MBSR kann eine sehr gute Ergänzung zur medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung sein.

MBSR ist Prävention, Ergotherapie ist Therapie. Das muss man sauber trennen.

Sie haben sich – ergänzend zu Ihrer MBSRAusbildung – auch in MBCT weitergebildet. Inwiefern können Sie das Gelernte anwenden?
Ich habe die MBCT-Weiterbildung vor allem besucht, weil sich während der MBSR-Kurse zeigte, dass es manchen Kursteilnehmern schlechter geht, als sie und ich vorher ahnen konnten. Ich hatte gehofft, mit der Weiterbildung noch mehr Handwerkszeug zu erhalten, um dieses im Vorfeld besser klären oder im Kurs besser intervenieren zu können. Das Ergebnis war aber auch, dass ich dort eine Medizinerin kennenlernte, mit der ich zusammen einen MBCT-Kurs durchführte. Wir nahmen Menschen mit chronisch depressiven Erkrankungen auf und stellten fest, dass die Teilnehmer sehr von dem MBCT-Programm profitieren konnten.

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» Ich atme zwischendurch ganz bewusst, nehme wahr, wie ich im Moment hier bin – meine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen. « Abb.: Evgenna/fotolia.com

Warum bieten Sie MBCT nicht weiter an?
Tatsache ist, dass Ergotherapeuten MBCT-Kurse nur gemeinsam mit Ärzten, Psychotherapeuten oder Heilpraktikern anbieten dürfen. MBSR ist ein Präventionsangebot, MBCT eine Heilbehandlung. Ein MBCT-Kurs kann in der Durchführung sehr viel aufwendiger sein als ein MBSR-Präventionskurs. Zu den Kontraindikationen für den MBCT Kurs gehören unter anderem die akute schwere depressive Krise und Suizidalität. Obwohl der Klient während des Vorgespräches stabil ist, kann diese Symptomatik während des Kursverlaufes auftreten. Dann braucht es mehr zeitliche Spielräume für eventuelle Kriseninterventionen. Denen kann ich in meiner jetzigen Arbeitssituation nicht gerecht werden – selbst wenn wir den Kurs zu zweit durchführen würden. Profitiert habe ich aber trotzdem für meine ergotherapeutische Arbeit. Ich kann Übungselemente aus dem Programm sehr gut anwenden. Und mir ist klar geworden, wie hilfreich Achtsamkeitsübungen – speziell bei Menschen mit Depression – bei der Rückgewinnung ihrer Selbststeuerungsfähigkeit sein können.

Das Anliegen von MBSR ist Achtsamkeit zur Stressbewältigung.

Wie unterscheiden sich die Methoden MBSR und MBCT?
Die Grundstruktur der Kurse ist ähnlich, der Übungsaufbau ebenfalls. Hinzu kommt bei MBCT-Kursen der psychoedukative Anteil, in dem die Teilnehmer etwas über das Krankheitsbild der Depression lernen, über Symptome wie Grübelzwang, Vermeidung von negativen Emotionen und Körperempfindungen, Fokussierung auf negatives Denken. MBCT ist eine störungsspezifische Rückfallprophylaxe, die explizit Personen mit der Diagnose rezidivierende Depression angeboten wird – das Programm richtet sich an Personen, die bereits depressive Episoden erlebt haben. Es gibt Studien, die belegen, dass MBCT hier signifikante Verbesserungen bewirken kann. Die Teilnehmer sind froh, zu erleben, dass sie etwas tun können – jenseits von Medikamenten. Ein MBCT-Kurs erübrigt aber natürlich nicht die Einnahme von Medikamenten, wenn diese verordnet sind.

Kurzanleitung „Breathing Space“

Schritt 1: Gegenwärtigkeit Die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung lenken: Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken. Kann ich alles so lassen, wie es ist?

Schritt 2: Sammlung Die ganze Aufmerksamkeit auf die Empfindungen des Atems lenken.

Schritt 3: Ausdehnung/Weite Den Fokus der Aufmerksamkeit vom Atem ausdehnen auf das Empfinden des ganzen Körpers, so wie er sich im Moment anfühlt. Die Körperhaltung spüren, den Kontakt zum Boden und für einige Momente in dieser Weite und Ganzheit verweilen.

[Meibert P. Der Weg aus dem Grübelkarussell. Achtsamkeitstraining bei Depression, Ängsten und negativen Selbstgesprächen. München: Kösel; 2014]

Das Gespräch führte Anke Zillessen.


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Nach langjähriger eigener Meditationserfahrung fühlte sich Renate Kintea gleich angesprochen, als sie 2006 von der Ausbildung zur MBSR-Lehrerin hörte. Seit 2008 leitet die Mannheimer Ergotherapeutin nun regelmäßig achtwöchige MBSR-Kurse – als Präventionsangebot zur Stressbewältigung durch Achtsamkeit.
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» Ich atme zwischendurch ganz bewusst, nehme wahr, wie ich im Moment hier bin – meine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen. « Abb.: Evgenna/fotolia.com