Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2015; 50(6): 406-414
DOI: 10.1055/s-0041-101800
Fachwissen
Anästhesiologie: Topthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der suchtkranke Patient in der Anästhesie – Screening, Diagnose und Behandlung Alkoholkonsum-bezogener Störungen

The addicted patient in anaesthesia –screening, diagnosis and treatment of alcohol use disorders
Tim Neumann
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Publication Date:
06 July 2015 (online)

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Zusammenfassung

Patienten, die > 60g/d Alkohol (z. B. 1,5l Bier) konsumieren, erleiden 2- bis 5-mal häufig postoperative Komplikationen wie Infektionen, kardiale Komplikationen Blutungen oder das Alkoholentzugssyndrom. Durch Screening und eine systematische Evaluierung lassen sich Risikopatienten identifizieren, die von gezielten prophylaktischen bzw. therapeutischen Maßnahmen profitieren können (z. B. Beratung, Kurzinterventionen, Abstinenz, bedarfsangepasste Anästhesie, Prophylaxe von Entzugssymptomen, Stressreduktion, Schadensbegrenzung, psychosoziale Therapie, Suchttherapie, interdisziplinäre Behandlung).

Abstract

Patients consuming > 60g/d of alcohol (e.g. 1.5l of beer), are 2–5 times more likely to suffer post-operative complications such as infectious, bleeding or cardiac complications or an alcohol withdrawal syndrome. By screening and a systematic evaluation risk patients can be identified that may benefit from interventions such as counseling, brief interventions, abstinence, tailored anesthesia, prophylactic treatment of withdrawal symptoms, stress reduction, harm reduction, psychosocial therapy, addiction therapy, multidisciplinary treatment.

Kernaussagen

  • Im operativ-chirurgischen Bereich besteht eine hohe Prävalenz von Suchterkrankungen.

  • Ein Alkoholkonsum von 60 g/d ist mit perioperativen Komplikationen assoziiert.

  • Alle relevanten Organsysteme können durch chronisch erhöhten Alkoholkonsum verändert sein.

  • Typische Komplikationen sind Infektionen wie Pneumonie, Sepsis und Wund-infektionen, Herzkomplikationen wie Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz, Blutungen und Nachblutungen, „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS), chirurgische Komplikationen, eine Enzephalopathie oder das Alkoholentzugssyndrom.

  • Eine respiratorische Insuffizienz mit Hypoxie, eine Aspiration, eine Atemwegsverlegung, Elektrolytstörungen, Hypoglykämien, Störungen der Temperaturregulation, eine kardiovaskuläre Symptomatik wie Tachykardie und Hypotonie oder auch Traumafolgen können für intoxikierte Patienten vital bedrohlich sein.

  • Das Alkoholentzugssyndrom ist durch Delirien, Krampfanfälle, kardiale, pulmonale und / oder andere Komplikationen potenziell lebensbedrohlich.

  • Gerade bei alkoholkranken Patienten mit einer deliranten Symptomatik muss eine Reihe kritischer Erkrankungen mit überlappender Symptomatik zeitnah ausgeschlossen bzw. behandelt werden.

  • Die Diagnose „schädlicher Alkoholkonsum“ bzw. „Abhängigkeit“ beruht auf einer Synopsis von Anamnese (allgemein und substanzspezifisch), körperlicher Untersuchung, paraklinischen Befunden, Laborwerten, strukturierten Selbstangaben (Fragebögen) und ggf. fremdanamnestischen Angaben.

  • Labormarker können einen erhöhten Alkoholkonsum des Patienten aufdecken, nicht aber eine Abhängigkeit des Patienten nachweisen.

  • Veränderungen durch chronisch erhöhten Alkoholkonsum sind potenziell reversibel.

  • Im Akutfall bzw. schon bei Verdacht auf eine mögliche Wernicke-Enzephalopathie soll Thiamin i. v. in hohen Dosen (tgl. 3 x 200 – 250 – 500 mg i. v.) verabreicht werden.

  • Patienten können nach individueller Indikationsstellung und ggf. nach motivierender Therapie von evidenzbasierter Suchtmedizin profitieren.

  • Kurzinterventionen können problematischen Alkoholkonsum wirksam reduzieren.

Ergänzendes Material