Zeitschrift für Phytotherapie 2015; 36(05): 189
DOI: 10.1055/s-0041-105250
Editorial
© Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Editorial

Eine Lanze für Cannabis – als pflanzliches Arzneimittel
Matthias F. Melzig
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Publication Date:
19 November 2015 (online)

 
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    Das Cannabis-Thema ist ein Dauerbrenner in den Medien. Landauf, landab wird über die Legalisierung als Konsumdroge gestritten – alle Argumente scheinen ausgetauscht und nun fühlt sich sogar eine Bezirksbürgermeisterin aus Berlin berufen, per Antrag an das BfArM den allgemeinen Gebrauch zu legalisieren, um dem bedürftigen Bürger in speziellen Geschäften endlich eine befreiende Wohltat ohne kriminellen Beigeschmack zu ermöglichen. Hier wird eine politische Entscheidung getroffen werden müssen – aber das ist nicht das Feld, das in dieser Zeitschrift beackert wird.

    Bei all dem wird aber auch in der Fachpresse zu wenig die Arzneidroge Cannabis-Blüten und ihre Verwendung als Ausgangsmaterial für Phytotherapeutika in den Fokus der Diskussion gestellt. Bereits im Papyrus Ebers aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. wird in medizinischen Texten der therapeutische Einsatz der Droge beschrieben, deren Verwendung sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren lässt und in den entsprechenden Pharmakopöen auch monografiert war. Nach einer Periode des „Vergessens“ therapeutischer Möglichkeiten unter Verwendung von Cannabis-Blüten erinnert man sich der Droge wieder und findet vielfältige Ansätze für einen erneuten medizinischen Gebrauch, wie bei Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen, Appetitverlust bei HIV-Infektion/AIDS, chronischen Schmerzen, Spastizität infolge von Multipler Sklerose, Depressionen, Angststörungen etc. Die Aufnahme der Droge in die Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Damit würde sie als verkehrsfähige Arzneidroge auch verschreibungsfähig mit der Möglichkeit der Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Also alles gut, da sich die Wirksamkeit einer alten Arzneipflanze letztendlich doch durchgesetzt hat  Leider nicht ganz.

    Im Zeitalter der Evidenz-basierten Medizin (EbM) muss es zur vollständigen ­Anerkennung eines Phytotherapeutikums eigentlich Metaanalysen aus einer möglichst großen Anzahl von qualifizierten, am besten placebokontrollierten Doppelblindstudien geben, um mithilfe dieser Goldstandard-Methode zweifelsfrei und mit nahezu absoluter Sicherheit dem Arzneimittel eine Wirksamkeit zu attestieren. Dann kann es auch die Aufnahme in die Behandlungsrichtlinien finden und würde schulmedizinischer Alltag. Davon sind wir aber weit entfernt. Wie eine Studie des Journal of the American Medical Association (JAMA) kürzlich zeigte, ist die Evidenz für den medizinischen Einsatz der Droge eher dünn und rechtfertigt den breiten Einsatz nach EbM-Kriterien eigentlich nicht (DOI: 10.1001/jama.2015.6358). Hier besteht Nachholbedarf und die phytotherapeutisch interessierte Ärzteschaft sollte sich der Thematik annehmen. Die Publikation von Fallberichten und therapeutischen Erfahrungen beim Einsatz von Cannabis-Produkten sollte aktiv auch in dieser Zeitschrift erfolgen, nicht zuletzt um einer einseitigen Betrachtungsweise von Can­nabis-Blüten als Genussmittel für „Freizeit-Kiffer“ und „Hanfplätzchen-Esser“ entgegenzutreten. Die Verankerung von Cannabis-Blüten als Arzneidroge im all­gemeinen Bewusstsein von Ärzten, Apothekern und allen anderen Beschäftigten im Gesundheitsbereich würde vielleicht auch helfen, einen verantwortungsvollen Umgang in der breiten Öffentlichkeit anzuregen, denn schließlich handelt es sich in erster Linie um ein Arzneimittel. Das schließt natürlich auch die Betrachtung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Arz­neimitteln ein. Je stärker ­Cannabis-Produkte in den Kontext eines normalen Arzneimittels gestellt werden, umso stärker wird der Nimbus des ungefährlichen Genussmittels infrage gestellt.

    Ich habe keine Illusionen bezüglich eines Verbots der Droge und entsprechender strafrechtlicher Sanktionen – diese Vorstellung ist unrealistisch, da sich international eine Freigabe von Cannabis-Produkten abzeichnet. Aber das sollte eher eine Herausforderung für die Phytotherapie sein, Cannabis sativa L. als alte /neue , zumindest aber pharmakologisch bedeutsame Arzneipflanze in all ihren verschiedenen Aspekten zu bearbeiten, in Forschung, Lehre und natürlich auch in der Industrie. Ich bin sicher, es lohnt sich!

    Matthias F. Melzig


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