Unter dem Stichwort „herbal medicine“ erscheinen erstaunlich viele Arbeiten in medizinischen
Datenbanken wie z. B. PubMed. Dies steht in starkem Kontrast zu den eher rückläufigen
Zulassungen von pflanzlichen Produkten in Deutschland bzw. Europa. Das Wachstum der
grauen, unregulierten Märkte weltweit dagegen scheint stark zu steigen, wobei pflanzliche
Produkte als Lebensmittel oder Körperpflege mit übertriebenen medizinischen Claims
angeboten werden, was in Europa eigentlich illegal ist, aber hier (unterschiedlich
je nach Mitgliedsstaat) und erst recht anderswo toleriert wird.
Auffallend ist, dass mit dem Filter „clinical studies“ nur ein geringer Bruchteil
von wenigen Prozent der vielen Publikationen übrig bleibt und dieser Rest vermindert
sich dann nochmal auf wirkliche klinische Studien. Der weitaus überwiegende Teil der
Arbeiten ist also präklinisch, am häufigsten handelt es sich um In-vitro-Versuche.
Aspekte des Vielstoffgemisches in Pflanzen werden höchst selten aufgegriffen, eher
werden Einzelsubstanzen in einem experimentellen System untersucht. Es handelt sich
also um Arbeiten über einzelne Naturstoffe und nicht um Phytotherapie.
Allerdings dürften die Meinungen weit auseinandergehen, welche Studien einen Nutzen
für die Phytotherapie haben. Trotzdem gibt es unseres Wissens kaum Publikationen
zu dieser eigentlich wichtigen und zentralen Frage! Dies ist durchaus auch medizinhistorisch
zu erklären: Bis spät ins 20. Jh. unterlag die gesamte Medizin dem Primat der Naturwissenschaften
und insbesondere der Pharmakologie. Eine pharmakologische Aussage zur Wirkung an irgendeinem
„anerkannten“ Modell rechtfertigte ohne Einschränkung damals den klinischen Einsatz.
Erst nach der Contergan-Katastrophe, den nachfolgenden Entwicklungen der klinischen
Pharmakologie und schließlich dem Dogmenwandel zur Evidenz-basierten Medizin (EBM)
änderte sich die Situation maßgebend. Vorher war es der doch oft angefeindeten oder
zumindest belächelten Phytotherapie sehr willkommen, wenn von pharmakologischer Seite
Hinweise zu einer Wirkung an einem In-vitro- oder Tiermodell kamen und somit die „klinische
Erfahrung“ „wissenschaftlich“ bestätigt und untermauert wurde. Dementsprechend investierte
mancher Phytohersteller mehr in pharmakologische Forschung als in klinische Studien,
deren Standards sich ja auch erst in den 80er-Jahren auf ein hohes Niveau entwickelten.
Viele Monografien der Kommission E beruhen auf dieser Basis: Plausibilität der pharmakologischen
Wirkung sowie „Erfahrung“ der Anwender (die in der Kommission die Mehrheit stellten)
führten dann zu den vielen „positiven“ Monografien − auch solcher Heilpflanzen mit
völlig ungenügender klinischer Evidenz gemäß unserer heutigen Sichtweise. Eine Inhomogenität
der Monografien ergibt sich dadurch, dass die letzten Monografien aus der Mitte der
90er-Jahre unvermittelt einerseits mehr auf klinische Evidenz abhoben sowie auf einzelne
Zubereitungen anstatt wie vorher auf die Heilpflanze einschließlich aller (üblichen)
Zubereitungen.
Die präklinischen Fächer mit ihren aufwändig mit Maschinenparks bestückten Labors
haben allerdings anscheinend eine gewisse Eigendynamik entwickelt und sich von dem
Dogmenwandel in der klinischen Medizin zur EBM offenbar nicht beeinflussen lassen.
Dahinter steht auch eine eigene Branche der Laborausrüster mit milliardenschweren
Umsätzen. Bei der Erforschung von als Heilpflanzen bekannten sowie von weiteren unbekannten
Pflanzen steckt wohl auch immer noch die Hoffnung, einen neuen patentgeschützten chemischen
Wirkstoff zu entdecken, obwohl solche Screening-Programme seit rund 50 Jahren immer
wieder auch von der Pharmaindustrie versucht wurden und nur recht selten erfolgreich
waren. Man könnte meinen, dass inzwischen das Reservoir von Heilpflanzen vollkommen
„ausgequetscht“ wurde, aber mit neuen Screening-Methoden − jetzt in Form von Genexpression-Assays
− schöpft man neue Hoffnung.
Ein neuer chemischer Wirkstoff aus einer Pflanze gehört aber nach der Ansicht der
meisten Phytotherapeuten ja nun keineswegs mehr zur Phytotherapie, die doch eher dahingehend
definiert wird, dass Zubereitungen aus einer Pflanze eingesetzt werden, die eine Vielzahl
von Inhaltsstoffen im chemischen Sinn enthalten. Wenn man sich nur auf diese erste
und wichtigste Charakterisierung der Phytotherapie einigt, ergeben sich daraus für
die Einstufung der phytotherapeutischen Relevanz von präklinischen und klinischen
Arbeiten folgende Aspekte:
-
Arbeiten, die nur einen pflanzlichen Einzelstoff untersuchen, ohne den Vergleich
zum Gesamtextrakt einzuschließen, gehen am Selbstverständnis der Phytotherapie vorbei.
-
In-vitro-Arbeiten mit pflanzlichen Extrakten oder pflanzlichen Einzelsubstanzen müssen
sich mit der Frage kritisch beschäftigen, wie überhaupt die Pharmakokinetik der untersuchten
Substanzen aussieht. Da die Kinetik und die Verstoffwechselung von pflanzlichen Substanzen
oft unklar sind, bietet es sich an, Prüfsubstanzen nach Verstoffwechselung aus Tieren
oder Menschen heranzuziehen.
-
Bei vielen gut untersuchten und bekannten Heilpflanzen ließ sich die klinische Wirkung
weder auf eine Einzelsubstanz noch auf einen einzigen Wirkmechanismus zurückführen.
Aus präklinischen Modellen oder Tiermodellen lassen sich daher nur vorsichtige und
begrenzte Voraussagen für die klinische Anwendung von Heilpflanzen ableiten, insbesondere
wenn die Relevanz von bestimmten biochemischen Mechanismen, Rezeptoren usw. für die
jeweilige Erkrankung nicht eindeutig geklärt ist.
Angesichts der in diesen Punkten enthaltenen Komplexität und unter dem Primat der
aktuell in der Medizin geltenden EBM mag man zum Eindruck kommen, dass präklinische
Arbeiten über bekannte Heilpflanzen entbehrlich sind und man stattdessen ausschließlich
klinische Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit anstreben sollte. Australische Forscher
haben dies bejaht und für die Erforschung und Entwicklung bekannter Heilpflanzen eine
auf die klinische Forschung fokussierte Entwicklung bevorzugt und diesem Vorgehen
den eindrucksvollen Namen „reverse Pharmacology“ verliehen. Anstatt in der klinischen
Entwicklung eines neuen Arzneistoffs die Phasen I bis III der Reihe nach zu durchlaufen,
beginnt man eher mit Studien der Phase II oder III und kann dann (rückwärts) ggf.
Phase-I-Studien oder Tierversuche zur Verträglichkeit und Dosisfindung nachschieben.
Dies hat den Vorteil, dass man Pflanzen gleich aufgeben kann, wenn sie keine Wirksamkeit
über Placebo hinaus zeigen (wobei es freilich so sein könnte, dass man z. B. die falsche
Zubereitung und Dosierung genommen hätte − meist aber wohl diejenige, mit der man
bisher gute „Erfahrungen“ oder sogar eine jahrhundertelange „Tradition“ hatte).
Es gibt jedoch über das Primat der EBM hinaus einige Gründe, sich auch präklinisch
mit Heilpflanzen zu beschäftigen: Zur Qualitätssicherung und ggf. zur Optimierung
von pflanzlichen Zubereitungen möchte man wissen, ob die relevanten wirksamkeitsmitbestimmenden
Inhaltsstoffe auch in einer Zubereitung enthalten sind. Dazu ist zu klären, welche
Stoffe dazu gehören und wie diese sich gegenseitig bezüglich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik
beeinflussen. Antworten darauf geben Studien, die Einzelstoffe, Fraktionen sowie den
Gesamtextrakt untersuchen und zwar im direkten Vergleich an relevanten Modellen bzw.
an Batterien von Modellen, um mehrere Mechanismen zu berücksichtigen. Solche Studien
helfen der Phytotherapie weiter, da hiermit die pharmazeutische Qualität von Zubereitungen
verbessert werden kann und sich dann eine verbesserte pharmazeutische Qualität durch
eine höhere Wirksamkeit in klinischen Studien bestätigen lassen könnte.
Studien, die diese Forderungen nicht erfüllen, müssen als weniger wertvoll für die
Phytotherapie oder sogar als nutzlos, vielleicht sogar als kontraproduktiv eingestuft
werden.
Lesen Sie dazu meinen Vorschlag für einen Score auf Seite 147. Ich würde mich sehr
freuen, wenn sich hierzu eine lebhafte und fruchtbare Diskussion entwickeln würde.
Ergänzend lesen Sie meine hypothetische Story auf S. 149. Es kann nicht darum gehen,
Forschung zu diskriminieren, aber doch darum, entsprechende Forschungsergebnisse in
ihren jeweiligen Rahmen zu belassen und einzuordnen. Im Übrigen wäre sowohl zur Entwicklung
von Einzelsubstanzen als auch von phytotherapeutischen Zubereitungen eine Einbindung
einzelner Studien in jeweilige Forschungspläne notwendig, damit es nicht beim Herstellen
von Puzzleteilen bleibt, sondern daraus ein Gesamtbild entsteht, das zur evidenzbasierten
klinischen Anwendung führt.