Dtsch Med Wochenschr 2015; 140(23): 1761
DOI: 10.1055/s-0041-105886
Fachwissen
Tübinger Fall
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kann man sich mit Wasser intoxikieren? – Fall 5 / 2015

Can water be poisonous?
Ferruh Artunc
1   Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Tübingen
,
Günter Schnauder
1   Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Tübingen
,
Baptist Gallwitz
1   Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Tübingen
,
Bastian Amend
2   Urologische Klinik, Universitätsklinikum Tübingen
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Korrespondenz

Prof. Dr. med. Ferruh Artunc
Innere Medizin IV
Sektion Nieren- und Hochdruckkrankheiten
Universitätsklinikum Tübingen
Otfried-Müller-Str. 10
72 075 Tübingen

Publication History

Publication Date:
19 November 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Anamnese und klinischer Befund: Bei zwei über 80-jährigen Patientinnen kam es nach gesteigerter Trinkmenge über 3 Liter Wasser zu zentralnervösen Symptomen.

Untersuchungen: Im Labor fand sich bei beiden eine hypoosmolare Hyponatriämie, die in einem Fall auf eine Einnahme von Hydrochlorothiazid (HCT) und in dem anderen auf eine distal-tubuläre Schädigung bei Refluxnephropathie beruhte.

Diagnose, Therapie und Verlauf: Nachdem die HCT-Einnahme beendet und die Trinkmengen eingeschränkt wurde, erholte sich die Hyponatriämie rasch. Die zentralnervösen Symptome waren vollständig regredient.

Folgerung: Störungen der distal-tubulären Harnverdünnung durch HCT oder parenchymatös bedingt können zu einer symptomatischen Hyponatriämie nach erhöhter Trinkmenge führen.


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Abstract

History and admission findings: Two female patients aged over 80 years developed central nervous symptoms after drinking large amounts of water (more than 3 l per day).

Investigations: Both had a hypoosmolar hyponatremia that was induced by concomitant treatment with hydrochlorothiazid (HCT) in the one case and in the other case relied on a distal tubular damage due to reflux nephropathy.

Diagnosis, treatment and course: Hyponatremia was corrected after withdrawal of HCT and fluid restriction and central nervous symptoms disappeared rapidly.

Conclusions: Distal tubular urinary dilution can be disturbed by HCT and parenchymal renal disease and can result in symptomatic hyponatremia after drinking large amounts of water.


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Eine übermäßige Wasseraufnahme wird normalerweise durch die Nieren wieder ausgeglichen. Es gibt aber eine Reihe von Störungen, die die zugrundeliegenden Mechanismen beeinträchtigen können. Lesen Sie hier in Kurzform zwei Fälle von Patientinnen, bei denen sich infolge einer erhöhten Wasseraufnahme eine Hyponatriämie mit zentralnervösen Symptomen entwickelte. Den ausführlichen „Tübinger Fall“ mit allen Details zu den Patientinnen und Untersuchungen, vielen Abbildungen und den Hintergründen finden Sie online.

Fall 1: 80-jährige Patientin

Anamnese | Eine 80-jährige Frau wird mit akut verschlechtertem Allgemeinzustand, Übelkeit und Erbrechen eingeliefert. Kurz darauf kommt es zu einer Bewusstseinsminderung mit Amnesie. Die Patientin hatte am Morgen 2–3 l Lavagelösung für eine Vorsorgekoloskopie getrunken.

Vorerkrankungen | Relevante Vorerkrankungen: Arterielle Hypertonie, Depression und Restless-Legs-Syndrom. Als Dauermedikation erhielt die Patientin unter anderem Hydrochlorothiazid (HCT) 25 mg (1–0–1 / 2).

Befunde | Die körperliche Untersuchung ist unauffällig. Die laborchemischen Befunde sprechen für eine akute Hyponatriämie durch Wasserretention („Wasserintoxikation“). Ursache:

  • gesteigerte Wasseraufnahme im Rahmen der Koloskopievorbereitung und

  • Thiazid-bedingte Harnverdünnungsstörung.

Therapie und Verlauf | Das HCT wird umgehend und dauerhaft abgesetzt. Nach einer gezielten Infusionstherapie mit balancierter und hypertoner NaCl-Lösung normalisiert sich die Plasma-Natrium-Konzentration nach 10 Stunden. Die Patientin kann am nächsten Tag enlassen werden.


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Fall 2: 86-jährige Patientin

Vorgeschichte | Eine 86-jährige, niereninsuffiziente Diabetikerin wird vom Hausarzt mit asymptomatisch erhöhtem Serum-Kreatinin eingewiesen.

  • Das Labor und eine Abdomensonografie ergeben ein postrenales Nierenversagen und eine Harnwegsinfektion.

  • Nachdem zwei Doppel-J-Harnleiterschienen eingesetzt wurden, ist der Harnstau komplett rückläufig und die Nierenfunktion erholt sich auf das Ausgangsniveau.

Ein ambulantes Miktionszysturethrogramm ergibt kurz darauf eine Refluxnephropathie.

Erneute Hospitalisierung | 20 Tage nach der Entlassung stellt sich die Patientin mit Schwäche, unsicherem Gang und Vigilanzminderung erneut vor. Seit dem letzten stationären Aufenthalt habe sie jeden Tag 3 l Wasser getrunken, um ein weiteres Nierenversagen zu verhindern. Diuretika habe sie nicht eingenommen.

Cave Mineralwasser ist stark hypoton.

Befunde | Die klinische Untersuchung ist weitestgehend unauffällig. Das Labor ergibt eine hypoosmolare Hyponatriämie und eine inadäquat hohe Urin-Osmolalität. Die Befunde sprechen auch hier für eine akute Hyponatriämie durch Wasserretention. Ursache:

  • gesteigerte Wasseraufnahme durch Trinken und

  • Harnverdünnungsstörung – am ehesten bedingt durch eine distal-tubuläre Schädigung im Rahmen des postrenalen Nierenversagens bzw. der Refluxnephropathie.

Therapie und Verlauf | Unter Flüssigkeitsrestriktion (< 1,5 l / Tag) steigt das Serum-Natrium und die Symptome sind rückläufig. Eine Normalisierung des Natriumspiegels kann nicht erreicht werden. 2 Jahre später kommt es erneut zu einer symptomatischen Hyponatriämie (ohne HCT).

Konsequenz für Klinik und Praxis
  • HCT reduziert typischerweise die freie Wasser-Clearance. Dadurch entsteht eine Hyponatriämie, die vor allem bei erhöhter Trinkmenge manifest wird.

  • Ältere Patienten sind für diesen Effekt besonders vulnerabel. Sie sollten deshalb vorsichtig auf dieses Präparat eingestellt werden.

  • Patienten mit erworbener Schädigung des distalen Tubulus (wie in Fall 2) können ebenfalls eine Harnverdünnungsstörung und Neigung zur Hyponatriämie entwickeln.


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Interessenkonflikte: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Prof. Dr. med. Ferruh Artunc
Innere Medizin IV
Sektion Nieren- und Hochdruckkrankheiten
Universitätsklinikum Tübingen
Otfried-Müller-Str. 10
72 075 Tübingen