JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2015; 04(06): 258-259
DOI: 10.1055/s-0041-106885
Praxis
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grüße aus Niger

Judith Vetter
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Publication Date:
07 December 2015 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich kann kaum beschreiben, was ich in den letzten Monaten erlebt und gesehen habe. Meine Reise ging nach Westafrika, nach Niger – in eines der ärmsten Länder auf dieser Welt. Die Sahara ist trocken, die Menschen kämpfen ums Überleben. In Wüstendörfern leben Einheimische ohne Bildung, ohne Verständnis für Gesundheit und Hygiene. Die meisten Krankheiten werden von ihnen als „böse Geister“ beschrieben, so wie ihre Vorfahren es ihnen beigebracht haben. In den Dörfern gibt es so etwas wie Medizinmänner, qualifiziert für das, was sie tun, durch die Familientradition. Die Menschen haben keine andere Wahl, als den Medizinmann um Rat zu fragen. Wunden werden mit einer Mischung aus Wüstensand und Esel- oder Ziegenkot versorgt. Bei Kopfschmerzen wird oft ein übermäßiger Blutfluss vermutet, zur Behandlung werden Einschnitte an der Stirn vorgenommen. Es gibt viele weitere Behandlungsmethoden, die bei uns undenkbar oder sogar strafbar wären. Verwunderlich ist, dass die Menschen in der Regel nicht an diesen Therapien sterben, ihr Immunsystem scheint sehr gut zu sein. Auch das Schmerzempfinden der Menschen ist gering – die Kultur verbietet es, Schmerz zu zeigen. Sogar eine Gebärende darf keinen Ton von sich geben.

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(Foto: Judith Vetter)

Im Durchschnitt hat jede Frau 7,5 Kinder. In keinem anderen Land sind es so viele. 40–50 % der Kinder sind unter fünf Jahre alt und außerdem unterernährt. Das ist eins der größten Probleme in Niger: Die Menschen haben keine Mittel, um ihre großen Familien zu ernähren. Außerhalb der Städte essen sie Hirse, wenn möglich Fleisch, Reis und Blätter von Büschen. Es gibt nur wenige Gemüsearten, die in der Wüste wachsen. Wasser müssen die Wüstenbewohner aus Brunnen holen, oft legen sie dabei kilometerweite Fußwege zurück.

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(Foto: Judith Vetter)
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(Foto: Judith Vetter)
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(Foto: Judith Vetter)

Das zweite große Problem ist die Malaria. Die Krankheit wird durch Mückenstiche übertragen, insbesondere in der Regenzeit. Viele unterernährte Kinder sterben daran. Die Symptome für Malaria sind sehr unterschiedlich und ohne Bluttest ist sie schwer zu diagnostizieren. Umgehend nach Ausbruch der Krankheit sollte mit einer medikamentösen Therapie begonnen werden. Da der Fußmarsch zur nächsten Klinik bis zu zwei Tage dauern kann, kommen die Betroffenen häufig zu spät.

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(Foto: Judith Vetter)

Während meines Aufenthalts gab es eine Epidemie von Meningokokken. Innerhalb weniger Wochen stieg die Sterberate extrem an. Mehrere Organisationen konnten glücklicherweise Impfstoff organisieren und Massenimpfungen vornehmen – für mich ein völlig neues Erlebnis. Innerhalb einer Woche habe ich dabei geholfen und täglich Hunderte geimpft. Was in Deutschland mit Aufklärung, in einem ruhigen Umfeld, unter hygienischen Bedingungen und mit Eintrag in einen Impfpass abläuft, ging in Afrika deutlich schneller und unkontrollierter vor sich. Die Menschen standen Schlange und wir impften jeden, der den Arm freimachte. Das Ganze fand zwar unter ärztlicher Aufsicht statt, war für den Arzt allerdings recht schwierig – denn aus Angst vor der Krankheit kämpften und rangelten die Menschen um einen Impfschutz.

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(Foto: Judith Vetter)

Die Angst ist allgegenwärtig in diesem Land – und berechtigt. Nicht nur die Angst vor Terrorgruppen und Rassismus, auch vor Kliniken. Denn dort herrschen unmenschliche Zustände. Eine Kultur könnte sich kaum mehr von unserer unterscheiden. Eine Frau ist weniger wert als ein Mann, Polygamie ist selbst in der Hauptstadt noch üblich.

Eins steht für mich fest: In Niger war ich nicht zum letzten Mal. Soviel Bedarf an Hilfe habe ich noch nirgendwo erlebt. So viele verlorene Kinder, so viel Armut, Unwissen und Krankheit. Dieses Land verlässt man nicht unberührt. Und definitiv ein Stück weit mit einem gebrochenen Herzen.

Ihre
Judith Vetter