retten! 2016; 5(01): 66-68
DOI: 10.1055/s-0041-110709
Mein Einsatz
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schnittwunde am Hals – Eine merkwürdige Selbsttherapie

Daniela Sandrock
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 March 2016 (online)

 

Abstract:

Schon 2 Jahre liegt der Einsatz auf dem Open-Air-Festival zurück. Doch Cem Seylan[*] erinnert sich noch gut an die ungewöhnliche Verletzung, die sich ein Patient in Panik selbst zufügte. Dergenaue „Unfallhergang“ ist ihm jedoch bis heute ein Rätsel.


#
Zoom Image

Jung, aber schon viel Erfahrung

Obwohl Seylan erst im August seine Ausbildung zum Notfallsanitäter begonnen hat, blickt er bereits auf 4 Jahre Sanitätsdienst bei der Freiwilligen Feuerwehr zurück. In seiner Heimatstadt in Schleswig-Holstein war er der erste türkischstämmige Feuerwehrmann. Seine Sprachkenntnisse haben ihm und seinem Team schon bei vielen Einsätzen geholfen, Verletzte und Angehörige zu beruhigen und die Situation zu klären. Im Sommer vor 2 Jahren jedoch war er im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos.


#

Vorfreude

Damals meldet sich Seylan für eine ehrenamtliche Tätigkeit auf einer Großveranstaltung. Schon Tage vorher freut er sich auf das Open-Air-Festival, auch wenn er nicht als Besucher teilnehmen würde, sondern als Helfer. Die Musik, die vielen Leute und der Dienst mit den Kollegen anderer Bereitschaften – diese Mischung versprach Spannung. Es ist das erste Mal, dass Seylan außerhalb seines gewohnten Einsatzgebiets arbeitet – rund 3,5 Stunden von zu Hause entfernt.


#

Einsatz in zunächst heiterer Atmosphäre

„Wir hatten verschiedene Fahrzeuge im Einsatz und Behandlungsplätze vor Ort errichtet. Ich war als dritter Mann mit auf einem RTW eingeteilt – quasi als Praktikant,“ erzählt Seylan. Die Stimmung an diesem Nachmittag ist ausgelassen. Einige Besucher schlagen am Rande des Geländes ihre Zelte auf. Überall ist Musik zu hören, die Leute tanzen und feiern. Der sonnige Tag verläuft zunächst ruhig. Dann die Meldung: „Schnittwunde am Hals“. Seylan befindet sich mit seinem Team gerade am Zelt eines anderen Patienten, als sie angefordert werden. Mit dem Rettungswagen bahnen sie sich den Weg durch die Menschenmenge. „Trotzdem dauerte es nur einige Minuten, bis wir den nahegelegenen Behandlungsplatz erreicht hatten“, erinnert sich Seylan.


#

Der Patient versteht nichts

Vor Ort hockt ein etwa 30-jähriger Mann auf dem Boden. Er ist alleine unterwegs, stark alkoholisiert und spricht nur wenig und gebrochen Deutsch. Schwierig, da mit dem Patienten zu reden. Die Helfer probieren es auf Englisch – doch die Versuche scheitern. Schon die Kollegen eines anderen Teams, die vor ihnen am Einsatzort angekommen waren, konnten sich nur mit Händen und Füßen mit dem Patienten verständigen. Was sie bisher herausbekommen haben: Vermutlich stammt der Mann aus einem osteuropäischen Land. Mit den Worten „Irgendetwas stimmt hier nicht“ wendet er sich an die Rettungskräfte und zeigt immer wieder auf seinen Hals. Darin befindet sich eine tiefe Wunde, direkt unterhalb des Kehlkopfs – mehr lässt sich zunächst nicht erkennen. Auch den konkreten Sachverhalt herauszufiltern, ist durch die eingeschränkte Kommunikation äußerst schwierig.


#

Der Sicherheitsdienst muss kommen

Noch ein Problem macht dem Team zu schaffen: Der Patient benimmt sich zunehmend aggressiv. Lautstark redet er auf die Helfer ein und droht ihnen, als sie ihn untersuchen wollen. Seylan und seine Kollegen bemerken, dass der Patient langsam außer Kontrolle gerät, und rufen den Sicherheitsdienst zur Unterstützung. „Der Verletzte kam zwar freiwillig und wollte erst Hilfe haben, dann aber doch nicht“, berichtet Seylan. „Das war für alle Beteiligten keine einfache Situation.“


#

Die Geschichte wird klarer

Erst als sich der Mann beruhigt, können die Rettungskräfte das Puzzle des Vorfalls nach und nach zusammensetzen. Der Verletzte gestikuliert unklar: Er sei von einem Tier – vermutlich einem Insekt – gestochen oder gebissen worden. Daraufhin sei der Hals so zugeschwollen, dass er keine Luft mehr bekam. In Panik habe er sich einen langen, spitzen Gegenstand vorne in den Hals gerammt. Das Eröffnen der Atemwege in Höhe des Kehlkopfs bei akuter Erstickungsgefahr, die Koniotomie, kennt Cem Seylan sonst nur aus medizinischen Lehrbüchern. Umso beeindruckter zeigt er sich von der Treffsicherheit des betrunkenen Mannes: „Er hatte genau seine Luftröhre getroffen, nicht zu tief und keinen Zentimeter daneben.“

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, sagt der Mann und zeigt auf das Loch in seinem Hals.


#

Selbst-Koniotomie mittels Zelthering

Da er aus Richtung des nahegelegenen Zeltplatzes kam, und nach dem Umfang des Lochs zu urteilen, tippen die Rettungskräfte zunächst auf einen Zelthering als Instrument. „Vielleicht benutzte er auch eine Art Grillwerkzeug. Für eine Nadel war die Einstichstelle jedenfalls zu klein“, erzählt Seylan. Was es genau war, mit dem sich der gut durchtrainierte Mann den Luftröhrenschnitt verpasst hat, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen: Den spitzen Gegenstand hatte der Verletzte vermutlich sofort wieder aus der Wunde gezogen und ihn an Ort und Stelle weggeworfen, bevor er sich alleine aufmachte, Hilfe zu suchen. Das Corpus delicti jedenfalls ist nicht mehr in Sichtweite, als Seylan und seine Kollegen den Mann endlich behandeln können.


#

Erstversorgung

Während seine erfahrenen Kollegen den Patienten untersuchen und erstversorgen, ist Cem Seylan weiter hinten eingeteilt. „Meine Aufgabe war es, die Vitalwerte zu kontrollieren und so gut es ging beruhigend auf den Patienten einzuwirken. Nachdem sie sich ein ausreichendes Bild vor Ort gemacht haben, ist dem Team schnell klar, dass es noch zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen könnte: Der Patient ist sichtbar zugeschwollen, der „improvisierte“ Luftröhrenschnitt keine alltägliche Routine.


#

Tiefe Wunde – wenig Blut

Die Rettungskräfte vernehmen beim Patienten ein Pfeifen, wenn dieser versucht zu sprechen. „Als ob man Dampf aus einem Benzinkanister lassen würde“, beschreibt Seylan das Geräusch. Immerhin ein klares Zeichen, dass der Patient durch das Loch atmen kann. Zusätzlich zeigt sich jetzt eine blutunterlaufene Blase, die beim Atmen aus der Schnittwunde herauswächst und sich anschließend wieder zusammenzieht. Ansonsten blutet die Verletzung kaum. „Geräusch und Blase – das aus nächster Nähe zu hören und zu sehen, war schon heftig.“


#

Viel können sie nicht tun

Bei der Behandlung des Patienten kümmern sie sich primär um die Schnitt- bzw. Stichverletzung. „Damit hatte er sich ja schon einen Weg geschaffen, wieder ausreichend Luft zu bekommen. Bei einer allergischen Reaktion hätten wir schnellstens ins Krankenhaus gemusst,“ erklärt Seylan. Viel mehr können sie nicht tun, da sie die Wunde nicht abdecken können – der Patient bekäme sonst keine Luft mehr. Um die allergische Reaktion medikamentös behandeln zu lassen, fahren sie den Verletzten noch zu einem Arzt am zentralen Behandlungsplatz. Danach bringen sie den Mann ins Krankenhaus – rund 30–45 Minuten nach der Alarmierung.


#

Was bleibt von dem Einsatz?

Seylan ist immer noch von dem Luftröhrenschnitt beeindruckt: „Der Mann hatte ziemlich gut getroffen.“ Wahrscheinlich habe er in den 1990er Jahren die TV-Serie „McGyver“ oder etwas ähnliches genau verfolgt, so seine Vermutung. Oder der Patient muss medizinische Vorkenntnisse gehabt haben. „Im Rausch kann er gar nicht bewusst gehandelt und gemerkt haben, was er da eigentlich tut“, ist Seylan überzeugt. Auch die dabei aufgetretenen Schmerzen hätte der Mann nicht richtig wahrgenommen. Anders kann er sich den einmaligen Treffer bis heute nicht erklären. Vielleicht hatte der Patient aber auch einfach Glück.

Ob der Patient medizinische Vorkenntnisse hatte – oder einfach nur Glück?


#

Sicherheitsaspekt

Der Umgang mit stark alkoholisierten Patienten oder solchen, die andere Suchtmittel zu sich genommen haben, hätten eine ganz eigene Problematik, sagt Cem Seylan. Heute ist er sich mehr denn je bewusst: Ein solcher Einsatz kann gut verlaufen oder auch nicht. Eine körperliche Verletzung der Rettungskräfte sei dabei nicht auszuschließen. „In diesem Fall konnten wir dank der guten Zusammenarbeit aller Rettungs- und Sicherheitskräfte die Situation gut beherrschen.“


#

Motivation zur Weiterbildung

Letztlich ist sich Cem Seylan sicher: So ein spektakulärer Einsatz wird ihm in seiner beruflichen Laufbahn nicht noch einmal begegnen. Und sicherlich sind solche interessanten Fälle mit einer der Gründe, warum er als Elektroniker heute noch einmal die Schulbank drückt. Sein Ziel: der Abschluss als Notfallsanitäter, um Menschen in Notsituationen zu helfen. „Ich kann zwar einen Toaster reparieren, aber wenn ich ihn frage, wie es ihm geht, kommt keine Antwort.“


Selbstkoniotomie – Eine Rarität im Rettungsdienst


Ein Kommentar von Volker Wanka

Zoom Image

Das war schon sehr speziell „Schnittwunde am Hals“ – diese Einsatzmeldung kennen wahrscheinlich die meisten von uns. Dass es sich hierbei jedoch um eine vom Patienten an sich selbst durchgeführte Koniotomie bei drohendem Zuschwellen der Atemwege handelt, hat vermutlich kaum jemand schon einmal erlebt. Und als ob die traumatische Eröffnung der Luftröhre nicht schon ungewöhnlich genug wäre, kommen auch noch Verständigungsprobleme, unkooperatives Verhalten des Patienten und ein weiterer lebensbedrohlicher Umstand hinzu: Die anaphylaktische Reaktion. Ein wahrlich ungewöhnlicher Einsatz mit ganz speziellen Anforderungen an das Rettungsdienstpersonal!


Unglückliche Umstände Leider war kein Freund oder Angehöriger des Verletzten anwesend, der zum Beruhigen oder Klären der Sachlage sowie beim Dolmetschen hätte behilflich sein können. Solche Helfer sind mitunter Gold wert: Eventuell erreichen sie es, vorhandene Sprachbarrieren zu überwinden. Und dadurch, dass sie den Patienten kennen, können sie oftmals zur Entspannung derartiger Situationen beitragen. Mein Tipp: Versuchen sie, wann immer möglich, diese Helfer ins Einsatzgeschehen mit einzubeziehen. „Deeskalation“ und „talk down“ sind hier die Stichworte der vorrangigen Handlungsmaxime.


Gut gemeistert Trotzdem ist es dem Team schnell gelungen, sich nach unklarer Ausgangslage und unter schwierigen Bedingungen Zugang zum Patienten zu verschaffen und mit der Diagnostik und der Behandlung zu beginnen. Der nötige Eigenschutz war durch den sofort hinzugezogenen Sicherheitsdienst gewährleistet. Auch das Gefährdungspotenzial der Verletzung und der allergischen Reaktion war den Ersthelfern unmittelbar bewusst. Demzufolge haben sie den Patienten unverzüglich einer medikamentösen Behandlung durch einen Arzt zugeführt und anschließend in eine Klinik transportiert.


Fazit Eigenschutz geht vor Fremdschutz. Wenn Sie sich in einem Einsatz bedroht fühlen: Zögern Sie nicht, sofortige Unterstützung durch Polizei oder Sicherheitsdienste anzufordern. Prüfen Sie die Situation kritisch. Falls nötig, warten Sie mit der Behandlung des Patienten bis zum Eintreffen der Exekutive – auch wenn das mitunter kein angenehmes Gefühl ist. Es hat niemand etwas davon, wenn die Behandler (also Sie) verletzt und somit außer Gefecht gesetzt sind. Auch wenn ein Patient nicht Herr seiner Sinne ist und dadurch sich oder andere gefährdet, sollten Sie unbedingt die nötige Unterstützung anfordern.


Volker Wanka ist Oberarzt am Institut für Anästhesiologie an der Enzkreisklinik Neuenbürg


und ärztlicher Leiter des dort stationierten NEFs.


Er ist Mitherausgeber von retten!.


E-Mail: Volki.Ramoni@gmx.de

Spannende Einsätze

Hatten auch Sie einen außergewöhnlichen Einsatz? Ob positiv oder negativ – in retten! können Sie davon erzählen und Ihre Kollegen am konkreten Beispiel lernen lassen. Sie erreichen die Redaktion unter 0711/8931-652 oder unter retten@thieme.de.


#
#

* Name geändert




Zoom Image
Zoom Image