Der Klinikarzt 2016; 45(01): 3
DOI: 10.1055/s-0041-111186
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Lieber reich und gesund…

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
10 February 2016 (online)

„Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“

Rudolf Virchow, 1821–1902

Karl Marx wird der Satz zugeschrieben, Alkohol sei der Feind der arbeitenden Klasse. Oscar Wilde machte daraus später das Bonmot „Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klassen“. So oder so: Im Kern hat diese Aussage auch mehr als 130 Jahre nach dem Tod von Karl Marx Bestand. Das belegt der gerade vom Robert Koch-Institut (RKI) vorgelegte Bericht „Gesundheit in Deutschland 2015“ (http://www.rki.de).

Dort heißt es, die Gesundheit und Versorgung in Deutschland werde aktuell von 2 großen Entwicklungen bestimmt: dem demografischen Wandel (davon spricht wirklich jeder) und dem Einfluss der sozialen Lage auf die Gesundheit (davon spricht kaum jemand). Zwar bezeichnen drei Viertel der Deutschen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut. Doch das hängt in einem Ausmaß, das für einen Sozialstaat beschämend ist, von der sozialen Schicht ab.

Um mit dem Thema Sucht zu beginnen: In der Altersgruppe der 30–44-Jährigen raucht mehr als die Hälfte der Menschen mit geringem sozioökonomischem Status. In der höchsten Statusklasse rauchen dagegen rund 20 % der Frauen und 30 % der Männer. Dieses Ungleichgewicht zieht sich durch zahlreiche gesundheitlich relevante Lebensbereiche. Menschen, die arm und/oder ungebildet sind, konsumieren mehr Fastfood, Fleisch und Zucker. Das hat Konsequenzen: So sind sozial unterprivilegierte Männer zwischen 30 und 44 Jahren zu über 40 % adipös, bei Männern mit hohem Sozialstatus ist es nur jeder Zehnte. Bestürzend ist, wie die Schichtzugehörigkeit schon ganz früh die gesundheitlichen Weichen für den Rest des Lebens stellt. Von den 3–17-jährigen Mädchen mit niedrigem Sozialstatus sind 10,9 % von Adipositas betroffen, in der höchsten Statusgruppe dagegen nur 2,6 %. Das könnte man so fortsetzen, über ein größeres Diabetesrisiko sprechen, die viel höhere Prävalenz depressiver Erkrankungen oder anderer psychischer Störungen oder über Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern. Jedes dritte Kind mit geringem sozioökonomischem Status zeigt psychische Auffälligkeiten, aber nur jedes zehnte Kind aus ressourcenstarken Familien. Noch viel mehr solcher Unterschiede sind im Bericht des Robert Koch-Instituts im Detail nachzulesen. Erwähnt werden soll nur noch die bittere Konsequenz dieser allgegenwärtigen sozialen Ungleichheit:

Frauen mit sehr niedrigem Einkommen haben eine um 8 Jahre geringere Lebenserwartung als Frauen mit hohem Einkommen. Bei Männern beträgt der Unterschied sogar 11 Jahre.

Das ist nicht hinnehmbar. Hier muss die Politik stärker eingreifen. Es ist ja löblich, dass es jetzt ein Präventionsgesetz gibt. Doch der Bericht des RKI stellt selber fest, dass Präventionsangebote von sozial Schwachen nur in geringem Ausmaß in Anspruch genommen werden. Hier muss der Staat aktiver werden, gerade in den Kindergärten und Schulen, wo präventiv noch am meisten erreicht werden kann. Es ist inakzeptabel, dass allerorten Sportunterricht gestrichen wird, dass Schwimmhallen massenhaft schließen und dass es in den Schulen keine durchgängigen Bildungsangebote bezüglich gesunder Ernährung gibt. Von Ärzten wird Interdisziplinarität erwartet – wieso gibt es beim Thema Prävention ganz offenbar keine ausreichende interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Ministerien für Gesundheit, Bildung, Soziales?

Natürlich ist es immer leicht, über die Politik zu schimpfen. Verteilungsgerechtigkeit ist keine leichte gesellschaftliche Aufgabe. Aber die Frage nach einem sinnvollen Einsatz von Ressourcen im Gesundheitswesen darf schon erlaubt sein. Wollen wir für teilweise irrwitzige Summen (Stichwort „Innovative Krebstherapien“) das Leben eines Krebskranken um wenige Wochen verlängern – nicht selten unter Inkaufnahme eines Lebensendes, das durch schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen getrübt wird? Oder wollen wir zumindest versuchen zu verhindern, dass einem Kind, das in ungünstige soziale Verhältnisse geboren wird, 8 oder 11 Jahre seines Lebens vorenthalten werden?