Zeitschrift für Phytotherapie 2016; 37(01): 1-2
DOI: 10.1055/s-0042-102605
Editorial
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Selbstmedikation mit pflanzlichen Mitteln – ein weites Feld
Bernhard Uehleke
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Publication Date:
07 April 2016 (online)

 
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    Pflanzliche Mittel zur Verbesserung der Gesundheit gehören nicht erst seit Sebastian Kneipp zu den am häufigsten angewendeten Maßnahmen zur Gesunderhaltung und Selbstbehandlung von allen möglichen Erkrankungen. Die „Armenapotheke“ waren die Heilkräuter, die man teils selbst sammelte oder aber von Kräuterhexen, Händlern oder manchmal auch von Apothekern kaufte. Der Kräuterpfarrer und Wasserdoktor führte vor über 125 Jahren mit seinem weltweit verbreiteten Bestseller „Meine Wasserkur“ seine Auswahl an „unschuldigen Kräutern“ in die Naturheilkunde ein - gemeint sind ausschließlich Heilkräuter mit äußerst geringem Risiko. Solche Kräuter für eine „Hausapotheke“ wurden in den verschiedensten Anwendungsformen angeboten, insbesondere als Tee, Pulver, wässrig-alkoholische Auszüge oder entsprechende feste orale Formen. Damals wurde auch schon die Notwendigkeit einer „Regulierung“ durch den Staat gesehen - keineswegs ein Novum in der Medizin- und Pharmaziegeschichte. Der Rostocker Pharmakologe Rudolf Kobert hält vor 100 Jahren an seinem liberalen Standpunkt fest und räumt dem Bereich von „Volksarzneimitteln“ einen entsprechenden Stellenwert als eine besondere Klasse von Arzneimitteln ein. Vermutlich sind durch Kneipp und Kobert in Deutschland spätere Entwicklungen zum heutigen rezeptfreien bzw. nicht-apothekenpflichtigen Arzneimittel gebahnt worden.

    In anderen europäischen Ländern hingegen sind vergleichbare pflanzliche Präparate keine Arzneimittel, sondern bestenfalls „food supplements“. Diese höchst unterschiedliche Einordnung sehr ähnlicher bzw. manchmal sogar identischer Präparate machte die Harmonisierung und Nachzulassung in den vergangenen Jahrzehnten so schwierig. Ein recht rigider und durch mehrfache unerwartete Änderungen kaum planbarer Nachzulassungsprozess in Deutschland führte dazu, dass wir nur noch über einen Bruchteil des früheren pflanzlichen Arzneimittel-„Schatzes“ verfügen; immerhin werden einige vormals bekannte Arzneimittel nach dem Wechsel des Status als Medizinprodukt, Nahrungsergänzungsmittel oder diätetisches Lebensmittel oder Körperpflegemittel weiterhin angeboten. Die relativ neu auftauchenden Begriffe wie „Borderline-Produkte“ oder „Präsentationsarzneimittel“ zeigen, dass die Abgrenzung ohnehin schwierig ist - um nicht zu sagen: verwaltungspolitisch willkürlich. Entsprechende Kommissionen von „Fachleuten“ sollen wohl dann herhalten, dieser Willkür den Anschein einer wissenschaftlichen Begründung zu geben.

    Den heutigen Verbrauchern dürfte es genauso wie ihren Urgroßeltern recht egal sein, welchen Status genau und zufällig (und ohnehin nicht so leicht erkennbar) ein Mittel hat, für das sie sich entschieden haben und für das sie selbst bezahlen. Vermutlich ist der unspezifische Behandlungseffekt (ein Teil des sog. Placeboeffekts) sogar noch ausgeprägter, wenn Patienten Sinn und Zweck eines Mittels selbst reflektiert haben und eine Entscheidung nach Abwägung von persönlichen Kosten/Nutzen-Aspekten getroffen haben. Insofern spricht aus Konsumentensicht vieles dafür, die Definition der Selbstmedikation weit zu halten und nicht auf den Arzneimittelstatus zu beschränken. Der Status ist für die Produktanbieter von Interesse, da davon die Werbeaussagen abhängen. Werbeverbote können umgangen werden.

    Mit der Zunahme der Informationsmöglichkeiten im Internet und der Abnahme der Autorität von Ärzten und Apothekern nimmt die Bedeutung der Arzt- und der Apotheken-gestützten Selbstmedikation ab. Es zeichnet sich eine Entwicklung ab, dass der Patient zunehmend mehrere Spezialisten, zum Beispiel Fachärzte, Hausärzte, Apotheker und Heilpraktiker befragt, aber dann mit deren Meinungen und Ratschlägen ganz differenziert umgeht. Der Patient relativiert dann die abwertende Meinung von „schulmedizinischen“ Fachärzten gegenüber pflanzlichen Mitteln und richtet sich eher nach Meinungen von Ärzten und Heilpraktikern, die naturheilkundlich aufgeschlossen sind, insbesondere in Fällen leichterer und chronischer Erkrankungen. In den allermeisten Haushalten dürften zudem seit Jahrzehnten einschlägige Ratgeber über Heilpflanzen vorhanden sein und auch benutzt werden - die Auflagen der alten Gesundheitsratgeber von Kneipp, Bilz, Platen, Künzle, Treben usw., aber auch hohe Auflagen von aktuellen Ratgebern (z. B. Handbuch der Klosterheilkunde) sprechen eindeutig dafür.

    Verzichten wir mal bei den geläufigen Kräutertees wie Pfefferminze, Fenchel, Kamille usw. auf die Frage, ob dieser Tee von Pflanzen auf dem Balkon stammt oder als Lebensmittel oder als Arzneitee gekauft wurde, dann gibt es wohl kaum jemanden, der einen solchen nicht hin und wieder bei gesundheitlichen Störungen nutzt, seien diese „nur“ ein verdorbener Magen oder lästige Blähungen. Die Prävalenz der Verwendung liegt dann bei nahe 100 %. Insofern geben auch aufwändige Studien wie die unter „Forschung kompakt“ in diesem Heft besprochene PlantLIBRA-Auswertung mit einer Prävalenz von rund 20 % bei der Einnahme pflanzlicher Nahrungsergänzungsmittel in den letzten 12 Monaten nur einen Bruchteil der tatsächlichen gesundheitlichen Verwendung von Heilpflanzen wieder.

    In diesem thematischen Kontext sei an die Stellungnahme der GPT erinnert: Kraft K et al. Pflanzliche Arzneimittel und Botanicals: Klare Abgrenzung muss sein - Stellungnahme aus der Gesellschaft für Phytotherapie zur Diskussion der EU-»Claims-Verordnung«. Z Phytother 2013; 34: 54-55.


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