Einleitung
Mit dem im Jahr 2009 in Kraft getretenen Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts,
dem sogenannten „Patientenverfügungsgesetz“, wurde das Vorsorgeinstrument „Patientenverfügung“
(PV) gesetzlich gestärkt. Die fachliche und gesellschaftliche Diskussion um ihre Vor-
und Nachteile sowie ihre praktische Umsetzung wird auch weiterhin kontrovers geführt,
jedoch wächst parallel beständig der Anteil der Patienten in Krankenhäusern, die eine
PV erstellt haben [1].
Gerade im intensivmedizinischen Bereich ergeben sich dabei besondere Anforderungen
an das Behandlungsteam [2]. Kürzlich wurde die Aussagekraft von PV auf vier Intensivstationen eines Universitätsklinikums
analysiert. Im Zeitraum zwischen September 2013 und März 2014 hatten 11,8 % (n = 112/950)
der Intensivpatienten mit einer Liegedauer über 48 Stunden eine PV verfasst [3]. Bisher liegen in diesem Setting jedoch nur wenig nationale, empirische Daten zum
Umgang mit PV und zur ärztlichen Handlungspraxis am Lebensende vor [3], [4], [5], [6], [7]. Den Fokus der vorliegenden Studie bildeten daher die Sichtweisen von leitenden
Intensivmedizinern zur Umsetzung von PV sowie ihre Erfahrungen zu diesbezüglichen
ethischen Herausforderungen.
Methode
Die Untersuchung erfolgte als standardisierte, postalische Befragung aller deutschen
Kliniken mit mehr als 300 Betten und einer anästhesiologisch geführten Intensivstation.
Zur Identifikation der Kliniken (n = 299) wurde das Deutsche Krankenhausverzeichnis
(http://www.deutsches-krankenhaus-verzeichnis.de) genutzt. Der Fragebogen sollte von einem leitenden Intensivmediziner pro Klinik
ausgefüllt werden, das heißt die Teilnehmer sollten Entscheidungsträger auf der anästhesiologisch
geführten Intensivstation (Chefarzt, leitender Arzt, Oberarzt) und Facharzt für Anästhesie
und Intensivmedizin sein. Die Datenerhebung erfolgte von Januar bis Mai 2015; die
Teilnahme an der Befragung war freiwillig. Zur Erhöhung der Rücklaufquote wurde die
Total-Design-Methode [8] mit mehreren Kontaktaufnahmen und Erinnerungen (schriftlich, telefonisch sowie per
E-Mail) angewendet.
Die theoretische Grundlage zur Entwicklung des Fragebogens bildete eine eigene Vorstudie
[9], in der die Probleme von Intensivmedizinern im Umgang mit PV anhand eines qualitativen
Designs untersucht wurden. Der Fragebogen beruht auf den dort generierten Themenbereichen
[9] und umfasst 116 einzeln zu beantwortende Items. Bei den Antworten handelte es sich
mehrheitlich um 4-stufige verbalisierte Skalen (z. B.: stimme gar nicht zu – stimme
eher nicht zu – stimme eher zu – stimme voll zu). Vorab wurde der Fragebogen einem
Zwei-Phasen-Pretest [10] unterzogen.
Für die Datenauswertung wurde die Software SPSS 22 genutzt. Da es sich bei der Zielstellung
der Erhebung um eine Beschreibung und Darstellung der Sichtweisen leitender Intensivmediziner
handelt, wurden zur Auswertung der Daten ausschließlich Methoden der deskriptiven
Statistik angewendet und die Antwortskalen dichotomisiert. Die dargestellten Prozentangaben
sind Anteile der jeweils gültigen Werte, wobei sich rundungsbedingte Abweichungen
von 100 % in den Summen ergeben können.
Um das Antwortverhalten der Teilnehmer näher einschätzen zu können, wurde zudem eine
Non-Responder-Analyse in Bezug auf Trägerschaft der Institution und Bundesland durchgeführt.
Ergebnisse
Bundesweit beantworteten 222 von 299 kontaktierten Kliniken den Fragebogen, was einer
Rücklaufquote von 74,2 % entspricht. Die Non-Responder-Analyse zeigte keine Assoziation
zwischen der Trägerschaft der Einrichtung oder dem Bundesland und der Teilnahmebereitschaft.
Die Stichprobe setzte sich zusammen aus (▸ [
Tab. 1
])
Tab. 1 Merkmale der Studienteilnehmer.
Variable (gültige Werte, n)
|
absolute Häufigkeit, n
|
relative Häufigkeit, (%)
|
Art der Einrichtung (n = 222)
|
Klinik der Schwerpunkt- und Maximalversorgung
|
108
|
48,6
|
davon konfessioneller Träger
|
26
|
|
Klinik der Grund- und Regelversorgung
|
84
|
37,8
|
davon konfessioneller Träger
|
24
|
|
Universitätsklinik
|
30
|
13,5
|
Position (n = 222)
|
Chefarzt
|
117
|
52,7
|
Leitender Arzt
|
30
|
13,5
|
Oberarzt
|
72
|
32,4
|
Facharzt
|
3
|
1,4
|
Größe der Intensivstation (n = 197)
|
< 10 Betten
|
19
|
9,6
|
10–15 Betten
|
80
|
40,6
|
16–20 Betten
|
52
|
26,4
|
21–25 Betten
|
17
|
8,6
|
> 25 Betten
|
29
|
14,7
|
Geschlecht (n = 222)
|
männlich
|
183
|
82,4
|
weiblich
|
39
|
17,6
|
Alter (n = 222)
|
< 45 Jahre
|
54
|
24,3
|
46–55 Jahre
|
109
|
49,1
|
56–65 Jahre
|
58
|
26,1
|
> 65 Jahre
|
1
|
0,5
|
Religionszugehörigkeit (n = 218)
|
evangelisch
|
82
|
37,6
|
katholisch
|
73
|
33,5
|
sonstige
|
1
|
0,5
|
keine
|
62
|
28,4
|
Konfrontation mit Patientenverfügungen (n = 221)
|
ein- bis dreimal im Monat
|
38
|
17,2
|
einmal in der Woche
|
32
|
14,5
|
mehrmals pro Woche
|
125
|
56,6
|
(mehrmals) täglich
|
26
|
11,8
|
persönliches Vorsorgeinstrument (n = 221)
|
nein
|
102
|
46,2
|
ja
|
119
|
53,8
|
Wenn ja, welches? (Mehrfachantworten möglich; n = 119)
|
Vorsorgevollmacht
|
104
|
87,4
|
Patientenverfügung
|
73
|
61,3
|
Betreuungsverfügung
|
23
|
19,3
|
andere
|
12
|
10,1
|
-
Chefärzten,
-
Leitenden Ärzten,
-
Oberärzten und
-
Fachärzten.
Chefärzte bilden dabei mit 52,7 % (n = 117/222) den größten Anteil. Die Größe der
Intensivstationen lag zu 67,0 % (n = 132/197) zwischen 10 und 20 Betten. Von 95,0
% (n = 211/222) der Ärzte werden Patienten der Allgemeinchirurgie behandelt, zudem
Patienten der Unfallchirurgie (86,0 %; n = 191/222) und internistische Patienten (76,6
%; n = 170/222). Das Durchschnittsalter der Patienten schätzten 83,0 % der Ärzte (n
= 171/206) als > 60 Jahre ein. 82,8 % (n = 183/221) der Ärzte wurden mindestens einmal
pro Woche mit einer PV konfrontiert.
Umgang mit Patientenverfügungen | 56,6 % (n = 125/221) der Intensivmediziner sehen oft bis immer generelle Probleme
im Umgang mit Patientenverfügungen. Inwieweit PV prinzipiell ihr Ziel im Rahmen der
intensivmedizinischen Behandlung erfüllt, beurteilten 54,5 % (n = 121/222) mit selten
bis nie.
Gründe, eine PV zu erstellen, sind nach Meinung der Ärzte
-
das Vermeiden von unnötigen Qualen und Leid (97,2 %; n = 212/218),
-
die Angst vor Übertherapie (77,9 %; n = 169/217) sowie
-
die Entlastung von Angehörigen (73,5 %; n = 150/204).
Wenn Patienten eine Meinung in der PV darlegen, diese aber im Krankheitsfall ändern,
so geschieht dies nach Meinung der Ärzte weil
-
sich die Ansprüche der Patienten verändern (65,1 %; n = 127/195),
-
im Vorfeld Sachverhalte bei der Erstellung der PV unklar waren (58,1 %; n = 108/186)
und
-
Menschen mehr ertragen können, als sie sich vorgestellt haben (53,6 %; n = 103/192).
Die Mehrheit der Intensivmediziner war der Ansicht, dass es Formulierungsprobleme
bei den Patientenverfügungen gibt, insbesondere:
-
PV oft bis immer zu allgemein formuliert sind (93,2 %; n = 207/222),
-
PV selten bis nie klar definiert sind (91,9 %; n = 204/222) ,
-
PV selten bis nie den konkreten Krankheitsfall abdecken (94,6 %; n = 208/220).
Nach Angaben von 78,9 % (n = 172/218) der Befragten wurden Mängel in den Formulierungen
oft erst sichtbar, wenn versucht wurde, die PV umzusetzen. 70,4 % (n = 133/189) der
Teilnehmer äußern, dass bisher meist weniger als die Hälfte der ihnen vorgelegten
PV ohne Probleme umsetzbar waren. 80,4 % (n = 168/209) der Intensivmediziner sehen
sich selten bis nie in der Lage, die Aussage „lebenswertes Leben“ für einen ihnen
nicht bekannten Patienten beurteilen zu können. 72,1 % (n = 158/219) der Intensivmediziner
müssen oft oder immer Patienten beziehungsweise Angehörige über die Inhalte und Konsequenzen
der PV erst aufklären. Dennoch sind 70,6 % (n = 154/218) der Ärzte der Ansicht, dass
eine unklar formulierte PV trotzdem hilfreich sein kann. Auch empfinden 79,4 % (n
= 173/218) eine unklar formulierte PV im Behandlungsprozess nicht als hinderlich.
Bezüglich des Zeitmanagements in Notfallsituationen sind sich die Intensivmediziner
weitestgehend einig, dass in lebensbedrohlichen Situationen wie einer kardiopulmonalen
Reanimation, bei einem Verkehrsunfall oder im Schockraum selten bis nie ausreichend
Zeit ist,
-
um nach einer PV zu fragen (75,3 %; n = 165/219),
-
um sie zu lesen (89,0 %; n = 195/219),
-
um sie auszulegen (92,7 %; n = 202/218) oder
-
um sie anzuwenden (87,0 %; n = 187/215).
Das Konzept der gesundheitlichen Vorausplanung (Advance Care Planning, ACP) ist 36,1
% (n = 79/219) der befragten Ärzte bekannt, bereits angewendet wird es von 11,3 %
(n = 24/212).
Ethische Herausforderungen | Laut Rechtsprechung ist als Sterbehilfe das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden lebenserhaltender
medizinischer Therapiemaßnahmen (Behandlungsabbruch durch Unterlassen oder durch aktives
Tun) gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen
entspricht [11]. Für 83,4 % (n = 181/217) der Intensivmediziner besteht zwischen dem Ausstellen
des Beatmungsgerätes auf Patientenwunsch und aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen)
ein deutlicher Unterschied. Dass jedoch beides oft verwechselt wird, bestätigen 78,6
% (n = 158/201) der Befragten. 69,9 % (n = 153/219) vermuten, dass es bei aktivem
Tätigwerden – beispielsweise beim Ausstellen des Beatmungsgerätes oder bei der finalen
Extubation – unter den Kollegen zu Unsicherheiten bezüglich der Rechtslage kommt.
Allerdings empfinden auch 64,4 % (n = 141/219) der Intensivmediziner einen Unterschied
zwischen einem widerrufbaren und einem unwiderrufbaren Therapieabbruch (zum Beispiel:
Beenden der Dialyse versus finale Extubation). 30,3 % (n = 66/218) stehen mit einem
unwiderrufbaren Therapieabbruch in Konflikt, weil durch die Handlung der Tod unmittelbar
eintritt. Insgesamt wird in 79,4 % (n = 173/218) der Kliniken die finale Extubation
gemäß Patientenwillen durchgeführt; dementsprechend führen sie 20,6 % (n = 45/218)
der Kliniken nicht durch. Den Vorgang der finalen Extubation erleben dabei 54,8 %
(n = 113/206) der Intensivmediziner oft oder immer als belastend.
Die Problematik, inwiefern ein Therapieabbruch für die Ärzte persönlich umsetzbar
ist, sollte an drei Beispielen gewichtet werden (▸ [
Abb. 1
]). Weiterhin wurde anhand einer Fallvignette nach dem persönlichen Umgang mit einem
Therapieabbruch gefragt (▸ [
Abb. 2
]).
Abb. 1 Gewichtung medizinischer Maßnahmen, die einem Therapieabbruch entsprechen.
Abb. 2 Fallvignette zum persönlichen Umgang mit einem Therapieabbruch.
87,3 % (n = 192/220) der Ärzte stimmen zu, dass es Intensivmedizinern schwerer fällt,
eine Therapiebegrenzung oder einen Therapieabbruch bei Patienten vorzunehmen, wenn
die Patienten an einer nicht unmittelbar zum Tode führenden Erkrankung leiden. Wenn
das Moralempfinden der Gesellschaft kongruent ist, beispielsweise bei Tumorleiden
im Endstadium oder bei Amyotropher Lateralsklerose, fällt es Intensivmedizinern hingegen
leichter. Diese Aussage wiederum wird von 95,9 % (n = 209/218) der Befragten bestätigt.
Obwohl sich 96,2 % (n = 202/210) der Befragten in der Regel mit dem Patientenwillen
identifizieren konnten und ebenfalls 96,2 % (n = 205/213) sich bisher auch mit dem
Patienten oder Vertreter einigen konnten, gaben 32,0 % (n = 70/219) der Intensivmediziner
an, dass sie den Patientenwillen bereits gegen ihre ärztliche Überzeugung umsetzen
mussten. Bei 53,0 % (n = 116/219) der Befragten kam es mindestens einmal während ihrer
Berufsjahre vor, dass eine Einschätzung des Betreuungsgerichtes notwendig wurde, da
sich mit dem Stellvertreter kein Einvernehmen zum Patientenwillen erreichen ließ.
Bei 11,4 % (n = 25/219) traf dies mindestens schon viermal zu.
Umsetzung von Patientenverfügungen im intensivmedizinischen Kontext | Insgesamt vertreten über 90 % der Teilnehmer die Meinung, dass der medizinische Laie
keine realistische Vorstellung von der Intensivmedizin (95,5 %, n = 210/220) und falsche
Vorstellungen von den aktuellen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten (92,3
%, n = 203/220) hat. Auch sind sich die Ärzte überwiegend einig, dass Angehörige die
Situation des Patienten oft nicht einschätzen können (90,8 %; n = 198/218) und mit
der Situation überfordert sind (96,8 %; n = 213/220). Ebenso gehen 78,1 % (n = 164/210)
davon aus, dass die Szenarien auf einer Intensivstation für Mediziner anderer Fachbereiche
oft schwer beurteilbar sind.
Infolge dessen halten 87,7 % der Befragten (n = 192/219) eine Beratung zu intensivmedizinischen
Inhalten der PV durch Ärzte für notwendig und 91,7 % (n = 199/217) stimmen einer Beratung
ohne ärztliche Beteiligung nicht zu. Zudem möchten 88,2 % (n = 194/220) der Ärzte,
dass eine solche Beratung durch Intensivmediziner stattfindet.
Generelle Einstellungen zur Patientenverfügung | Als Vorteil einer PV sehen 97,3 % (n = 215/221) der Teilnehmer, dass sich die Menschen
durch die Erstellung der PV mit dem Tod und ihren Vorstellungen zum Lebensende beschäftigen.
Weitere Vorteile bestehen für 94,5 % (n = 208/220) in einer Hilfe für Angehörige,
wenn diese mit der Situation der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten überfordert
sind. Ebenfalls positiv finden 86,8 % (n = 190/219), dass Bevollmächtigte oder Betreuer
keine Entscheidungen über die Fortführung von Therapien treffen müssen, wenn der Patient
diese bereits getroffen hat.
23,3 % (n = 47/202) der Intensivmediziner können sich vorstellen, dass unter Zeitdruck
eine PV auch eine Gefahr für den Patienten darstellen kann, weil diese umgesetzt werden
könnte, ohne zu eruieren, ob der geäußerte Patientenwille dem tatsächlichen Patientenwillen
entspricht. Weiterhin sehen 20,1 % (n = 42/209) eine mögliche Gefahr darin, dass die
PV von Ärzten in Akutsituationen nur oberflächlich gelesen und eine voreilige Entscheidung
getroffen werden könnte.
In Bezug auf das „Patientenverfügungsgesetz“ empfinden 69,4 % (n = 145/209) der Intensivmediziner
mehr Spielraum, um den Patientenwillen umzusetzen. Laut 80,7 % (n = 176/218) der Teilnehmer
hat bei den Ärzten bereits ein Umdenken zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten stattgefunden.
In der neuen Rechtslage durch das „Patientenverfügungsgesetz“ sehen darüber hinaus
58,2 % (n = 125/215) der Befragten mehr Sicherheit für Ärzte und 47,3 % (n = 98/207)
eine Minimierung der Sorge um unterlassene Hilfeleistung.
Entsprechend der öffentlichen Diskussion wurde ebenfalls ein Meinungsbild zum Thema
Gesetzesänderungen zum ärztlich assistierten Suizid erhoben, wobei sich die Befragung
auf die Situation vor der Novellierung des Sterbehilfegesetzes im November 2015 bezieht
(▸ [
Abb. 3
]). Daneben wurden die Wünsche der Intensivmediziner für die zukünftige Situation
der PV erfasst (▸ [
Abb. 4
]).
Abb. 3 Meinungsbild zur Gesetzeslage zum ärztlich assistierten Suizid.
Abb. 4 Wünsche der Intensivmediziner für die zukünftige Situation der Patientenverfügung.
Diskussion
Im Rahmen dieser Studie wurden erstmals deutschlandweit die Sichtweisen leitender
Intensivmediziner zum Umgang mit PV und der ärztlichen Handlungspraxis bezüglich therapiebegrenzender
Maßnahmen am Lebensende untersucht. Die Ergebnisse bestätigen die Kontroverse der
Einstellungen und Erfahrungen mit PV [1], [12], [13] auch für den Bereich der Intensivmedizin. Trotz einer Vielzahl geäußerter Probleme
wird die PV jedoch von mehr als zwei Drittel der Ärzte generell als hilfreich empfunden,
wobei sich mehr als drei Viertel eine zusätzliche Vorsorgevollmacht wünschen. Nur
jeder zwanzigste Arzt plädiert für eine Abschaffung der PV. Zukünftig benötigt es
daher unterstützende Strategien und Konzepte zur wirksamen Umsetzung von PV [14].
Probleme bei der Umsetzbarkeit | Insbesondere allgemeine oder pauschale Formulierungen und die geringe Kongruenz zur
tatsächlich vorliegenden Krankheitssituation erschweren die Anwendbarkeit der PV im
intensivmedizinischen Alltag. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in einer Untersuchung
auf vier multidisziplinären Intensivstationen zur Beurteilung der Gültigkeit von PV
durch Ärzte und Angehörige [3]. Diese bewerteten jede zweite PV unterschiedlich, wobei Intensivmediziner eine PV
eher sinngemäß interpretierten, während Angehörige sie eher wortwörtlich auffassten.
Auch untereinander stimmten die Ärzte nur in der Hälfte der Fälle überein [3]. In einer österreichischen Erhebung eines Universitätskrankenhauses wurden Unsicherheiten
über die Gültigkeit von PV ebenso bei Intensivpflegekräften thematisiert [15]. Dementsprechend wird die Empfehlung die PV mehr an Therapiezielen statt an Maßnahmen
auszurichten [1] in der vorliegenden Studie von der Mehrheit der Intensivmediziner befürwortet.
Als unterstützende Maßnahme im Umgang mit Entscheidungen über eine Therapiezieländerung
bei schwerkranken und sterbenden Patienten, inklusive des Umgangs mit PV, wurde im
Rahmen einer Prä-Post-Studie eine Klinik-Leitlinie für Ärzte und Pflegende auf Intensivstationen
evaluiert [6]. Diese führte zu größerer Handlungssicherheit bei den Mitarbeitern, insbesondere
aber nahm die Angst vor Rechtsfolgen ab. Auch drei Viertel der Befragungsteilnehmer
wünschen sich einen hauseigenen Leitfaden für den intensivmedizinischen Alltag zum
Umgang mit der PV im Falle der Einwilligungsunfähigkeit.
Aussagekräftige Patientenverfügungen | Drei Viertel der befragten Intensivmediziner haben die Erfahrung gemacht, Patienten
oder Angehörige über die inhaltliche Bedeutung von in der PV getroffenen Aussagen
in Bezug auf die akute klinische Situation erst aufklären zu müssen. Insofern plädiert
die Mehrzahl der Befragten für eine fachliche Beratung zu (intensiv-)medizinischen
Inhalten einer PV durch entsprechend qualifizierte Ärzte; die Hälfte kann sich eine
Beratung außerdem durch speziell geschulte Intensivpflegekräfte vorstellen. Den positiven
Einfluss solcher fachlicher Beratung auf die inhaltliche Gestaltung von PV verdeutlichen
Evaluationsergebnisse von Patientenseminaren zur Thematik [16]. Fast alle Seminarteilnehmer mit einer vorab ohne Beratung in medizinischen Fragen
erstellten PV sahen nach dem Beratungsseminar erheblichen Korrektur- oder Konkretisierungsbedarf
ihrer PV.
Eine Chance zur Erstellung aussagekräftiger PV bietet darüber hinaus das international
bereits viel beachtete Konzept „Advance Care Planning“ [17], [18]. Zentral ist dabei eine Vorausplanung künftiger medizinischer und pflegerischer
Behandlungsentscheidungen, die im Gesprächsprozess zwischen dem Betroffenen, seinem
Angehörigen (beziehungsweise Vertreter) und speziell geschultem Fachpersonal gemeinsam
entwickelt wird [17]. Jedoch bestätigt die vorliegende Untersuchung, dass ACP als Beratungsangebot zur
Versorgungsplanung in der Intensivmedizin in Deutschland noch weitgehend unbekannt
ist.
Stärken und Limitationen der Studie | Die Erhebung erfolgte als postalische Befragung mit der Gefahr einer eingeschränkten
Repräsentativität durch einen geringen Rücklauf der Fragebögen. Die erzielte Rücklauf-Rate
von 74,2 % liegt hingegen deutlich über den Rücklaufquoten vergleichbarer Befragungen
mit ca. 40 % [19], [20]). Zudem ergab die Non-Responder-Analyse keinen Hinweis auf eine systematische Nichtteilnahme.
Die Ergebnisse sind jedoch limitiert auf die Stichprobe von Entscheidungsträgern anästhesiologisch
geführter Intensivstationen in Kliniken mit mindestens 300 Betten. Diese Begrenzung
resultierte aus der Annahme, dass in kleineren Kliniken aufgrund der geringer ausgeprägten
Fallschwere der versorgten Patienten Patientenverfügungen hinsichtlich unserer Fragestellung
eine eher untergeordnete Rolle spielen. Durch die Eingrenzung auf anästhesiologisch
geführte Intensivstationen sollte vermieden werden, verschiedene Fachrichtungen mit
unterschiedlichen Behandlungsstrategien miteinander zu bewerten. Da studienmethodisch
keine fall- oder verlaufsbezogene Datenerfassung geplant war, beruht die Untersuchung
ausschließlich auf der subjektiven Einschätzung und dem Meinungsbild der leitenden
Intensivmediziner zum Erhebungszeitpunkt.
Konsequenz für Klinik und Praxis
-
Trotz einer Vielzahl von Problemen im Umgang mit Patientenverfügungen empfinden mehr
als zwei Drittel der Intensivmediziner sie generell als hilfreich.
-
Die Mehrzahl der Ärzte plädiert für mehr auf das Therapieziel orientierte und weniger
auf Maßnahmen orientierte Patientenverfügungen.
-
Patienten brauchen eine Beratung zu intensivmedizinischen Inhalten durch fachlich
qualifiziertes Personal.
-
Finale Extubation gemäß dem Patientenwillen wird in acht von zehn Kliniken durchgeführt;
jeder zweite Arzt erlebt den Vorgang der finalen Extubation als belastend.
-
Unterstützende Konzepte und Maßnahmen zur Erstellung aussagekräftiger Patientenverfügungen
und einer wirksamen Umsetzung sind notwendig.