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DOI: 10.1055/s-0042-104464
Debatte um Selbsteinschätzung von Schmerzen bei Kindern
Publication History
Publication Date:
08 April 2016 (online)
Da Schmerz ein subjektives Phänomen ist und objektiv nicht messbar, gelten Selbsteinschätzungsinstrumente oft als Goldstandard. Gerade bei Kindern können Ergebnisse der Selbsteinschätzung aber auch in die Irre führen. Basierend auf einer Workshop-Debatte im Rahmen des 9. International Symposium on Pediatric Pain 2013 in Schweden trugen Alison Twycross und Kollegen Argumente für und gegen die Schmerz-Selbsteinschätzung als (alleinigem) Goldstandard zusammen.
Argumente „Pro“:
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Fast alle Kinder sind in der Lage, eine Selbsteinschätzung und andere Aspekte bezüglich ihrer Schmerzen abzugeben.
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Validierte Fragebogen und Instrumente zur Selbsteinschätzung sind leicht verfügbar.
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Der Hinweis, dass (bei Kindern) Selbsteinschätzung und Verhalten oft nicht übereinstimmen, spricht nicht gegen die Überlegenheit des Selbstberichts.
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Unter Klinikern besteht breiter Konsens, dass die Selbsteinschätzung „best practice“ für die Messung von Schmerzen ist.
Argumente „Contra“:
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Die Scores von Selbsteinschätzungsinstrumenten spielen bei klinischen Entscheidungen kaum eine Rolle und verbessern das Outcome der Patienten nicht.
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Die zahlreichen Fehlerquellen bei der Schmerzerfassung bei Kindern machen eher eine Bewertung durch den Betreuenden erforderlich, als dass man sich allein auf den Selbstbericht verläßt.
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Die Bewertung von Schmerzen ist zu komplex, um nur ein Messinstrument zu nutzen.
Nach Auswertung der Punkte für und wider die Selbstbewertung von Schmerzen in der Kinderheilkunde kamen die Autoren zu dem Schluss: Bei Kindern ist die Selbsteinschätzung – sofern möglich – zur Bewertung von Schmerzen als erste Maßnahme sinnvoll, v. a. wenn es um die Erfassung von Schmerzintensität geht. Als nicht hinterfragter Goldstandard ist die Methode nicht tauglich, da das Schmerzgeschehen zu komplex ist, und gerade im Kindesalter kaum mit einem Instrument allein erfasst werden kann.
Fazit Die Selbsteinschätzung ist als Ersteinschätzung von Schmerzen bei Kindern wichtig und nützlich, so die Autoren. Sie sollte aber in Kombination mit anderen Methoden – entweder gebündelt oder anhand eines Stufenmodells – erfolgen.
Dr. rer. nat. Katrin Appel, Essen


Dr. med. Hadi Taghizadeh
Schmerzzentrum der Universität Mannheim


Die uneingeschränkte Empfehlung der Selbsteinschätzung als Goldstandard zur Erfassung von Schmerzen bei Kindern gleich welchen Alters, widerspricht der bewährten und gängigen medizinischen Alltagspraxis. Der Selbsteinschätzung als Goldstandard zur Erfassung von Schmerzen bei Kindern widerspricht die bewährte und gängige medizinische Alltagspraxis. Gerade die Fokussierung auf Schmerzäußerung hat doch dazu geführt, dass man bis Mitte der 80er-Jahre Neugeborene ohne Analgesie /Anästhesie extrem schmerzhaften Prozeduren, wie z. B. Zirkumzision, unterzogen hat [1].
Dennoch kann und muss über die Stellung der Selbsteinschätzung als Instrument zur Erfassung und Optimierung der Schmerztherapie im Kindesalter nachgedacht werden. Diesem Ziel dient der lesenswerte Artikel von Twycross und Mitarbeitern, in dem Argumente für und gegen eine „Vergoldung“ dieses Instruments akribisch gesammelt und kommentiert werden. Dabei wird auch und besonders auf die Gefahr der Fehlinterpretation und der damit verbundenen schmerztherapeutischen Unterversorgung hingewiesen.
Diese analgetische Unterversorgung von Kindern – gleich welchen Alters – zu vermeiden, deren Spätfolgen mitunter einen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung [2] haben können, ist das oberste Gebot. Dieses Ziel kann nur dann realisiert werden, wenn die behandelnden Ärzte und das Pflegepersonal für die vegetativen, emotionalen und nonverbalen Formen der Schmerzäußerung sensibilisiert werden. In diesem Kontext kann der Selbsteinschätzung zwar eine bedeutende, nicht aber eine alles entscheidende Rolle im Sinne eines „Goldstandards“ zugesprochen werden.
1 Rawlings DJ, Miller PA, Engel RE. The effect of circumcision on transcutaneous PO2 in term infants. Am J Dis Child 1980; 134: 676–678
2 Taddio A, Katz J, Ilersich AL, Koren G. Effect of neonatal circumcision on pain response during subsequent routine vaccination. Lancet 1997; 349: 599–603



