Einleitung
„Schon wieder dieser Junge, dem kann ich doch nicht helfen“, „Oje, das passt heute
ja überhaupt nicht rein“, „Der geb’ ich schnell ’ne Krankschreibung, hoffentlich löchert
sie mich nicht mit Fragen“ oder „Warum gibt diese Mutter denn keine Ruhe mit dem Kind?“ – Vielleicht fühlen Sie sich beim Lesen solcher Gedanken an Gefühle von Verunsicherung,
Überforderung, Ärger oder gar Wut erinnert, wenn Ihnen Patienten mit sogenannten Psychosomatischen Störungen in den Sinn kommen.
Schätzungen zur Folge haben somatoforme Störungen eine Lebenszeitprävalenz von 13,1 %
[1], für funktionelle Störungen liegt die Lebenszeitprävalenz sogar bei 25 % [2]. Bei der Betrachtung von Patienten mit langwierigen chronischen Verläufen somatoformer
Störungen im Erwachsenenalter geben 75 % einen Beginn ihrer Beschwerden vor dem 20. Lebensjahr
an [3]
[4]. Vor diesem Hintergrund kommt Kinderärzten eine besondere Bedeutung bei der Ersteinschätzung
des Störungsbildes, bei differenzialdiagnostischen Erwägungen und bei der weichenstellenden
Einleitung therapeutischer Maßnahmen zu.
Der enge und vielschichtige Zusammenhang zwischen körperlichem und psychischem Befinden
ist offensichtlich und für Jedermann alltäglich spürbar. Und obwohl dies nicht nur
für Zustände von Wohlbefinden („…ich könnte Bäume ausreißen!“), sondern auch für Zustände
von Unbehagen gilt („…mir wird übel und ich bekomme Bauchkrämpfe, wenn ich nur dran
denke…“ als Ausdruck von Angst), ist ein körperliches Symptom oft leichter zu akzeptieren
als ein psychisches. Hier spielen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse eine entscheidende
Rolle, und zwar sowohl die eigenen als auch jene der umgebenden Menschen.
Schon erste Erfahrungen beim Durchmachen und Bewältigen einfacher Kinderkrankheiten
(z. B. Infekte) können dem Betroffenen das Phänomen des sogenannten Krankheitsgewinns und die Möglichkeiten zu seiner Instrumentalisierung erfahrbar machen. Dies kann der
Fall sein, wenn beispielsweise die Angst vor einer Klassenarbeit am nächsten Schultag
zeitlich mit einem Magen-Darm-Infekt zusammenfällt und so das erkrankungsbedingte
Zuhausebleiben-Müssen auch den Aspekt eines Zuhausebleiben-Dürfens erhält – durch
die damit verbundene Reduktion der Angst vor der Klassenarbeit. Dieser primäre Krankheitsgewinn
kann noch durch einen sekundären verstärkt werden, indem das Kind nun zuhause besondere
Zuwendung, Pflege oder stimulierende Ablenkung erfährt. Die Versuchung, Krankheit
in diesem Sinne zu nutzen, steht in einem engen Zusammenhang mit Haltungen und Einstellungen
des Kindes, für deren Ausrichtung aber elterliche Modelle und Bewertungen ausschlaggebend
sind. Davon hängt ab, ob die auf die krankheitsbedingt vermiedene Klassenarbeit bezogene
Erleichterung als unerlaubt empfunden und vielleicht verschwiegen werden muss, oder
ob das schulische Problem und das eigene Krankheitserleben in einer unterstützenden
und feinfühligen Elternbeziehung kommuniziert und abgewogen werden kann. Wird die
Ambivalenz des Kindes nicht wahrgenommen und die Krankheitsposition einseitig bekräftigt,
so kann dies die Entstehung einer Somatisierungsstörung begünstigen.
In der Allgemein- oder Kinderärztlichen Praxis sind solche Patientenkontakte oft kräftezehrend,
benötigen Geduld und Gespräch – und damit eine Ressource, die angesichts der heutigen
Kostenstrukturen eng bemessen ist: Zeit.
In der vorliegenden Übersicht haben wir zu Beginn einen besonderen Akzent auf die
Darstellung entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Grundlagen für das Verständnis
psychosomatischer Störungen gelegt. Im darauf folgenden Abschnitt gehen wir auf die
Definition, die Klassifikation und die klinischen Erscheinungsformen der Dissoziativen
Störungen und der Somatoformen Störungen ein, um schließlich einige Schlussfolgerungen
und Anleitungen für die Praxis zu geben und mit kurzen Fallskizzen zu veranschaulichen.
Entwicklungspsychologische und neurobiologische Grundlagen zum Verständnis psychosomatischer
Störungen
Entwicklungspsychologische und neurobiologische Grundlagen zum Verständnis psychosomatischer
Störungen
Die gesunde Entwicklung einer psychischen und körperlichen Integration erfordert eine
Reihe von wesentlichen Erfahrungen in der kindlichen Entwicklung. Sie bilden die Grundlage
für das psychische Gleichgewicht und spiegeln notwendige Werkzeuge für die Entschlüsselung
der Erlebniswelt wider. Gleichzeitig sind es Erfahrungen, die das gesamte Leben hindurch
gestärkt und erweitert werden.
Einen guten Überblick über diese zentralen Erfahrungen gibt Rudolf [5] wie folgt:
-
Erfahrung, sich ausdrücken zu können und das wichtige Gegenüber damit auch zu erreichen,
-
Erfahrung, als Antwort auf den eigenen Appell, beachtet, verstanden, beruhigt, getröstet
zu werden (wichtige Grundlage der späteren Selbstberuhigung),
-
Erfahrung, Situationen gemeinsam emotional bewerten und tragen zu können (Entstehung
des „Wir-Gefühls“),
-
sprachlich begriffliche Differenzierung von Emotionen,
-
Erfahrung des Körper-Selbst und der Differenzierung (gemeinsame Bewertung von Körpererfahrungen,
wie innerer und äußerer Schmerz),
-
Erfahrung „Das bin ich, das bist Du“: Differenzierung zwischen Ich und Nicht-Ich.
Zum Verständnis der Schmerzwahrnehmung und -interpretation von Patienten mit somatoformen Störungen ist zunächst die Entwicklung der Körperwahrnehmungen
im Allgemeinen zu betrachten. Einerseits geht es dabei um die Wahrnehmung von körperlichen
Zuständen wie Hunger und Kälte, andererseits um die Wahrnehmung von Emotionen und
der damit verbundenen Körperreaktionen.
Merke: Während der ersten Lebensmonate und -jahre benötigen Säuglinge und Kleinkinder die
Hilfe ihrer Umgebung, um die Welt, in der sie leben, zu verstehen.
Dabei sind sie darauf angewiesen, dass ihre Empfindungen und Bedürfnisse durch nahe
Bezugspersonen (zumeist die Eltern) gespiegelt und sprachlich markiert (also „verbalisiert“)
werden. Ebenso wie Sprache nur durch Ansprache entstehen kann, sind Kinder für die
Einordnung von körperlichen Zuständen und von Gefühlen zunächst also auf die Einordnung
und Benennung durch die Eltern angewiesen.
Entwicklung des Körpergefühls
Säuglinge weinen beispielsweise, weil sie Hunger haben. In einer positiven, gelingenden
Eltern-Kind-Interaktion wird die Mutter hierauf nicht nur reagieren, indem sie den
Säugling stillt, sondern auch indem sie ihm mitteilt: „Du hast Hunger.“ Je älter die
Kinder werden, desto mehr rückt die „sprachliche Antwort“ vor die „handelnde Antwort“,
bis Kinder schließlich in der Lage sind, das nagende Gefühl im oberen Bauch einzuordnen
und selbst sagen zu können: „Mama, ich habe Hunger“ (Abb. [1]).
Abb. 1 Ein Säugling weint, weil er Hunger hat. Je älter das Kind, desto mehr rückt die „sprachliche
Antwort“ vor die „handelnde Antwort“, bis Kinder schließlich in der Lage sind, das
nagende Gefühl im oberen Bauch einzuordnen und selbst sagen zu können, dass sie Hunger
haben. Symbolbild, Quelle: Thieme Verlagsgruppe, Galina Barskaya.
Diesem Prinzip folgend gelingt es einem Kind zunehmend, körperlichen Zuständen innere
Bilder und Empfindungen zuzuordnen und Sicherheit im Umgang mit dem eigenen Körper
zu gewinnen. Auch Einflüsse von außen, die auf den Körper einwirken, wie Kälte und
Wärme, können so erkannt und eingeordnet werden. Der nicht nur mechanisch versorgende,
sondern auch spielerisch liebkosende Körperkontakt belebt die Körpererfahrung von
Säuglingen und Kleinkindern und fördert eine Verknüpfung von Körpererleben (Wohlgefühl)
und Emotion (Glück). Gelingt diese Entwicklung, entsteht eine lebendige, gesunde Wahrnehmung,
das sogenannte „Körper-Selbst“ (Abb. [2]).
Abb. 2 Der nicht nur mechanisch versorgende, sondern auch spielerisch liebkosende Körperkontakt
belebt die Körpererfahrung von Säuglingen und Kleinkindern und fördert eine Verknüpfung
von Körpererleben und Emotion. Symbolbild, Quelle: Thieme Verlagsgruppe.
Merke: Sind Eltern oder die erziehenden Bezugspersonen durch starke Überforderung oder eigene
psychische und körperliche Beeinträchtigungen nicht in der Lage, körperliche Zustände
und Bedürfnisse beim Kind wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren, kann sich
eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers entwickeln.
In Bezug auf somatoforme Störungen haben hier häufig Fehlwahrnehmungen oder Fehlinterpretationen,
wie die Einordnung von Völlegefühl als Bauchschmerz, ihren Ursprung. Auch bei anderen
psychiatrischen Erkrankungen, z. B. bei Essstörungen, kann das Körperselbst deutlich
beeinträchtigt sein.
Eine weitere wesentliche Lernaufgabe für ein Kleinkind ist, dass manche körperliche
Zustände und Bedürfnisse wie Hunger und Müdigkeit zyklischen Rhythmen folgen, die
sich der eigenen Kontrolle entziehen und auf die es zu reagieren gilt. Patienten mit
somatoformen Störungen haben häufig das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, wenn sie
sich diesen Rhythmen hingeben und missachten sie häufig.
Entwicklung der Gefühlswelt
Zur Betrachtung der Gefühlswelt im Kontext der kindlichen Entwicklung lassen sich
Gefühle in zwei Teilaspekte untergliedern: zum einen die Wahrnehmung des eigentlichen
Gefühls oder der Stimmung, und zum anderen die Wahrnehmung der damit einhergehenden
und sie begleitenden körperlichen Reaktionen, wie Herzklopfen bei Angst. Ähnlich wie
bei der Wahrnehmung körperlicher Zustände sind Säuglinge und Kinder auf ihre Bezugspersonen
angewiesen, um eine Differenzierung ihrer Gefühlszustände zu erlernen.
Merke: Für eine stabile und gesunde Entwicklung benötigen Säuglinge ein haltgebendes und
kontinuierliches Gegenüber.
Sie können sich zunächst über Schreien, Weinen, Suchen von Blickkontakt, Abwenden
etc. mitteilen und bedürfen eines Erwachsenen, der ihre Bedürfnisse und Zustände wahrnimmt,
sie richtig interpretiert und eine prompte und angemessene Antwort geben kann („Feinfühligkeit“
nach Ainsworth [6]). Je mehr Mitteilungsmöglichkeiten ein Säugling nutzt, desto leichter wird es auch
für die Bezugspersonen sein, zu reagieren. Diese Antwort kann aus einer Handlung oder
einer verbalen Antwort bestehen, im Idealfall aus beidem – äquivalent der Reaktion
auf körperliche Grundbedürfnisse.
Erschreckt sich beispielsweise ein Säugling, weil ein lautes Geräusch zu hören war,
so muss die Bezugsperson zunächst wahrnehmen, dass das Kind erschreckt wurde. Anschließend
muss ein rascher innerlicher Abgleich darüber folgen, wie die Situation eingeordnet
wird: Droht eine reale Gefahr, oder handelt es sich um eine harmlose Störung des Ablaufs?
Als passende und prompte Antwort folgen dann in einer ungefährlichen Situation die
körperliche Beruhigung des Kindes (Schaukeln etc.) und eine verbale Begleitung, wie
„Das war laut, da hast du dich erschreckt“ (Abb. [3]).
Abb. 3 Gefühle wahrnehmen und adäquat antworten. Symbolbild, Quelle: Thieme Verlagsgruppe.
Bezugspersonen müssen also in der Lage sein, eine innere Einordnung der Situation
vorzunehmen, diese abzugleichen und eine angemessene Antwort zu finden. Globale Antworten
wie: „Ist nicht schlimm, ist ja nichts passiert.“, greifen häufig zu kurz, ermöglichen
dem Kind keinen Abgleich mit seiner inneren Verfassung und führen zu keiner Beruhigung.
Die Reaktionen der Betreuungspersonen haben also einen unmittelbaren Einfluss darauf,
wie das Kind ein Gefühl erlebt und verarbeitet.
Störungen im Entwicklungsablauf
Merke: Je vorhersehbarer die Reaktionen der Bezugspersonen sind, desto eher gelingt es den
Säuglingen und Kleinkindern ein Bewusstsein für ihre eigenen inneren Zustände zu entwickeln.
In manchen Fällen können sich primäre Bindungspersonen nicht gut genug vom kindlichen
Affekt abgrenzen. Dies kann beispielsweise bei psychischer oder körperlicher Erkrankung
oder Traumatisierung der Eltern der Fall sein, aber auch bei erheblicher psychosozialer
Belastung auftreten. Anstelle einer angemessen Bewertung einer Gefühlsregung des Kindes
wird die Bindungsperson dann von der Verzweiflung des Kindes angesteckt und kann daraufhin
nicht mehr adäquat beruhigen oder trösten.
Das emotionale Erleben und Handeln der Bezugspersonen spiegelt sich im emotionalen
Erleben und Handeln des Kindes wider. Der elterliche Affekt ist für das Verständnis
des Kindes entscheidend, er signalisiert entweder Entwarnung und Beruhigung oder die
Existenz von Gefahr, auf die das Kind mit Schreck, Angst und Weinen reagieren wird.
Eltern können beispielsweise durch wahnhafte, aber auch neurotische Zustände Fehleinschätzungen
von Gefahren vornehmen und anstelle von Beruhigung eher für eine Eskalation sorgen.
Ebenso können sie sich in einer dauerhaften, nicht veränderbaren (z. B. ängstlich-depressiven)
Stimmung befinden, die ihre Wahrnehmung und damit auch ihre Antworten einschränkt
und dazu führt, dass kindliche Signale gar nicht erst wahrgenommen werden.
Bei Suchterkrankungen, psychotischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen der
Bezugspersonen kann die Reaktion sehr wechselhaft und unvorhersehbar für ein Kind
sein: Sie schwankt zuweilen zwischen angemessener Reaktion, Widersprüchlichkeit und
gänzlichem Ausbleiben einer Reaktion. Dies führt nachvollziehbarerweise zu einer hohen
Verunsicherung eines Kindes.
Sind Bezugspersonen durch eigene Beeinträchtigungen also nicht in der Lage, die Situation
realistisch einzuordnen und angemessen zu reagieren, wird sich beim Kind ein unzureichendes
Vertrauen in die Wahrnehmung eigener Zustände und in die Äußerung eigener Bedürfnisse
entwickeln. Fehl- und Mangelentwicklung können also auch als eine mangelhafte Passung
zwischen den Versorgungsmöglichkeiten der Bindungspersonen und den Grundbedürfnissen
des Kindes verstanden werden.
Verinnerlichung biografischer Erfahrungsmuster
Merke: Die Erfahrung von gelingender Regulierung innerer Zustände in der Interaktion zwischen
Bindungspersonen und Kind ist eine wichtige Voraussetzung für die spätere Fähigkeit
zur Selbstregulierung.
Hier sind sowohl die Gefühlswahrnehmung („Ich bin nicht nur traurig, sondern auch
wütend“), als auch die Entschlüsselung von Körpersignalen („Mein Herz klopft, weil
ich aufgeregt bin“) Voraussetzung für die eigene Regulationsfähigkeit. Dabei lernt
ein Kind nicht nur, körperliche Bedürfnisse mitzuteilen. Es lernt zunehmend, einen
Austausch über das Gefühlsleben vorzunehmen, der wiederum das Empfinden von Zugehörigkeit
vermittelt, das „Wir-Gefühl“.
Patienten mit somatoformen Störungen fehlt häufig die Erfahrung, sich so ausdrücken
zu können, dass andere damit emotional angemessen erreicht werden. Eine mangelnde
Antwort von Bezugspersonen kann zu einem Mangel an dem Gefühl führen, dass andere
es gut mit einem meinen. Zudem verzögert sich die Entwicklung von emotionalem Verständnis,
was zu einer spezifischen Form emotionaler Spracharmut und Sprachlosigkeit führt.
Äußerungen wie: „Ich fühle mich unter Druck“, ohne dass ein Zusammenhang zu aktuellen
belastenden Erlebnissen hergestellt werden kann, sind typisch für Menschen mit somatoformen
Zustandsbildern.
Andererseits begünstigen unangemessene oder überbesorgte Reaktionen der Eltern, z. B.
übertriebene Schonung oder Vereinbarung häufiger Arzttermine und Untersuchungen, einen
psychosomatischen Krankheitsverlauf. Das Kind erlebt die Sorge und die Zuwendung als
Beziehungsgewinn („sekundärer Krankheitsgewinn“) und verinnerlicht ein Konzept ernsthafter
körperlicher Erkrankung (siehe Kasten: Psychologische Fehladaption).
Reifungsanforderungen im Jugendalter
Mit den frühen Erfahrungen und den im Kindesalter entwickelten Fähigkeiten muss das
Kind nun die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bewältigen. In zunehmendem Maße
stehen ihm reifere kognitive Fertigkeiten zur Verfügung, die es dazu befähigen, Erfahrungen,
situative Kontexte, eigene Gefühle und diejenigen anderer Personen bewusster wahrzunehmen,
zu benennen und zu reflektieren.
Der Prozess der Selbstständigkeit des Kindes nimmt im Jugendalter zunehmend die Qualität
der Verantwortungsübernahme für die Alltagsbewältigung einerseits und für die Gefühlsverarbeitung
andererseits an. Die Frontalhirnentwicklung, die in starkem Zusammenhang mit der Entwicklung
der Aufmerksamkeitslenkung, Handlungsplanung, Gefühlsregulierung und Steuerungsfähigkeit
steht, ist im Jugendalter so ausgeprägt wie nie vorher.
Im Zusammenspiel mit der körperlichen Reifung und der Auseinandersetzung mit dem inneren
und äußeren Selbstbild nehmen auch charakterliche Ausprägungen zunehmend Gestalt an
und können im Rahmen der gesteigerten kognitiven Reflexionsfähigkeit besser überprüft
und weiterentwickelt werden. Fragen der Positionierung in der Gleichaltrigengruppe,
die Ausgestaltung eines eigenen Wertesystems und schließlich die Entwicklung von gesundem
Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten sind Aufgaben der Adoleszenzentwicklung (Abb. [4]).
Abb. 4 Aufgabe in der Adoleszenz: sich positionieren in der Peer Group. Symbolbild, Quelle:
Fotolia.
Merke: Die Adoleszenz ist eine der chancenreichsten und veränderungsintensivsten Zeiten
in der biografischen Entwicklung eines Menschen.
So wird auch deutlich, wie wesentlich die Verfügbarkeit und die Nutzung der idealerweise
früh in der Kindheit erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten ist (s. o.). Mit ihnen
gelingt es einem Jugendlichen besser, sich den Anforderungen zu stellen, die körperliche
und mentale Reifung einzuordnen und die sich weiter herausbildenden Steuerungsfunktionen
zu nutzen. Sie stellen auch eine Grundlage dafür dar, die notwendigen und dennoch
nicht minder schwierigen Übergänge bei Klassen- und Schulwechseln, den Umgang mit
ersten romantischen Gefühlen, Veränderungen der Bezugspartner unter den Gleichaltrigen
und den Erwachsenen zu bewältigen und nach Möglichkeit für sich nutzbar zu machen.
Gleichfalls wird deutlich, wie schwerwiegend diese Reifungsanforderungen sind, in
welche (temporäre) Verzweiflung sie Jugendliche bringen können und welche Auslenkung
sie im Rahmen psychosomatischer Probleme mit sich bringen können.
Natürliche Anforderungen der Adoleszenzentwicklung
-
Lernen, mit dem eigenen Körperbild und seinen Veränderungen fertig zu werden,
-
Gewinnen von Selbstvertrauen,
-
eigene Fähigkeiten entdecken und nutzen lernen,
-
angemessene Ablösung von dem Elternhaus,
-
Meistern von Schwellensituationen in der Schule und in persönlichen Beziehungen,
-
neue Beziehungen zu Altersgenossen herstellen, sowie Selektion und Zurechtkommen mit
ihnen,
-
einen angemessenen Umgang mit der eigenen Sexualität erlernen,
-
Orientierung an einem sich entwickelnden Wertesystem in einer wertepluralen Gesellschaft,
-
Begegnung mit einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft und hohen Leistungsanforderungen,
-
Reflektionen zu sozialer Geltung und sozioökonomischem Status.
Das Stress-Paradigma
In der neurobiologischen Forschung wachsen stetig Erkenntnisse, welche jene psychosomatischen
Störungskonzepte untermauern, die auf dem „Stress-Paradigma“ basieren. Stresserleben
ist erforderlich, um Stressbewältigung zu erlernen. Dabei hat sich erwiesen, dass
sich leichte bis mittelgradige Irritationen und Belastungen gut eignen, um Anpassungsleistungen
zu befördern, das Lernen zu unterstützen und letztlich eine positive Bewältigung mit
sich zu bringen: Eine schwierige Aufgabe wurde gemeistert, und dies wirkt sich positiv
auf das Selbstwirksamkeitserleben sowie den wahrgenommenen Selbstwert aus (Abb. [5]).
Abb. 5 Stresserleben ist erforderlich, um Stressbewältigung zu erlernen – mit leichten bis
mittelgradigen Belastungen. Symbolbild, Quelle: Thieme Verlagsgruppe.
Merke: Wird das System zur Stressbewältigung jedoch durch unangemessen heftige, zu starke
oder gar traumatisierende Belastungen überfordert, kann sich eine Schädigung des Stresssystems
einstellen.
Grund zu dieser Annahme geben Forschungsergebnisse, die zeigen konnten, dass eine
Dauerstimulierung der sympathikotonen Erregung mit einer dauerhaft hohen Kortisolausschüttung
zu einer Schädigung der Hippokampusformation führt. In der Folge kommt es zu einer
anhaltenden und automatisierten Stimulierung der Amygdala, welche aufgrund der Abkopplung
von den reflektierenden und steuernden Einflüssen der kortikalen Zentren eine Beruhigung
innerer Zustände kaum noch ermöglicht.
Psychoneuroimmunologie
Es ist naheliegend, dass ein dauerhaftes Stresserleben nicht nur toxisch für die Entwicklung
und Nutzung der Erinnerungsfähigkeit, für die Aufmerksamkeitskontrolle und Lernprozesse
im Allgemeinen, sondern offenbar auch für die Gesundheit des gesamten Organismus ist.
Die Psychoneuroimmunologie befasst sich mit den endokrinen und immunologischen Zusammenhängen
zwischen psychischen und körperlichen Zuständen und Empfindungen. Dabei werden unter
anderem Zusammenhänge und Folgen einer psychischen Dauerbelastung erforscht. Auch
hier lässt sich offenbar feststellen, dass eine beständige Ausschüttung von Stresshormonen
einen wesentlichen Einfluss auf die Immunregulation hat: Das im Rahmen der Stressreaktion
aus der Nebennierenrinde ausgeschüttete Kortisol hat unter anderem die Funktion, Stress-getriggerte
proinflammatorische Zytokine der TH-Helferzellen-Immunität (z. B. IL-1, IL-6, TNF-α)
zurückzuregulieren.
Ist aber aufgrund von chronisch entzündlichen Prozessen oder aufgrund o. g. chronischer
psychischer und psychosozialer Belastung ein beständiger Hyperkortisolismus zu verzeichnen, so nimmt diese Regulationsfähigkeit ab. Das Stress-System reagiert
nicht ausreichend auf ankommende Stress- und Immunanreize (Hypokortisolismus), oder es besteht eine zu geringe Antwortbereitschaft auf das Kortisol (Kortikoidresistenz). Dadurch ist der Organismus zu wenig vor überschießenden oder zu lang anhaltenden
Immunreaktionen geschützt, die langfristig in einen Zustand leicht erhöhter Entzündungsaktivität
münden, der wiederum ausgeprägte gesundheitliche Folgen hat, bis hin zu beschleunigtem
Altern und Lebenszeitverkürzung [8].
Erfreulicherweise scheinen solche pathologischen Veränderungen reversibel zu sein.
So konnte gezeigt werden, dass erfolgreiche Psychotherapie auch zu einer grundlegenden
Korrektur dieser dysfunktionalen physiologischen Muster führt und damit zur Heilung
der psychosomatischen Erkrankung beiträgt [9].
Biopsychosoziales Krankheitsmodell
Chronische psychosoziale Stressoren und unzureichende Fähigkeiten der Stressbewältigung
sind an der Entstehung und am Verlauf von somatischen Krankheiten, wie viralen Infektionserkrankungen,
koronaren Herzkrankheiten, rheumatischen und atopischen Erkrankungen, sowie gastrointestinalen
Erkrankungen beteiligt. Damit wird klar, dass nicht nur bei psychosomatischen Erkrankungen
im engeren Sinne, sondern auch bei körperlichen Erkrankungen im Allgemeinen psychischen
Prozessen eine erhebliche Bedeutung zukommt. Dies schlägt sich nieder in einem modernen
biopsychosozialen Krankheitsverständnis (Abb. [6]) und im Bemühen um „ganzheitliche“ Behandlungskonzepte.
Abb. 6 Biopsychosoziales Krankheitsmodell. Aus: Möller H.-J., Laux G. Duale Reihe Psychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie. 5. Aufl. 2013; Georg Thieme Verlag, Stuttgart.
Definition, Klassifikation und klinisches Erscheinungsbild
Definition, Klassifikation und klinisches Erscheinungsbild
Merke: Unter somatoformen Erkrankungen verstehen wir chronische körperliche Beschwerden,
für die sich keine ausreichenden organischen Ursachen finden lassen, oder bei denen
eine auf körperliche Symptome bezogene, rein medizinische Behandlung nicht zu einer
ausreichenden Besserung der Beschwerden und Beruhigung des Patienten führt.
Sowohl Erkrankungen, die in den Bereich der Dissoziativen Störungen, als auch solche, die in den Bereich der Somatoformen Störungen nach ICD-10 fallen, zählen zu den psychosomatischen Erkrankungen. Während sich die Dissoziativen Störungen auf Funktionseinschränkungen oder -ausfälle von Motorik und Sensorik oder auch auf
nichtepileptische psychogene Anfälle beziehen, stehen bei den Somatoformen Störungen Schmerzen sowie Beschwerden im Bereich des vegetativen Systems im Vordergrund. Beide
Störungsgruppen zeichnen sich jedoch durch eine fehlende Passung zwischen den subjektiv
erlebten Beschwerden des Patienten und den (unzureichenden) somatischen Befunden des
Kinder- oder Allgemeinarztes aus.
Ein weiteres Missverhältnis besteht häufig zwischen der angegebenen Intensität der
Beeinträchtigung (z. B. durch Angabe eines sehr hohen Wertes auf der Schmerzskala)
und der Art, wie diese Beeinträchtigung hervorgebracht wird. Massive Beschwerden oder
Einschränkungen können indifferent oder sogar mit einem Lächeln präsentiert werden
(sog. belle indifférence). Das Ernstnehmen der geschilderten Beschwerden durch den Arzt kann durch dieses
Phänomen erheblich erschwert werden und zu Verunsicherung auf allen Seiten führen.
Andererseits besteht die Gefahr, maskierte psychische Symptome zu übersehen, weil
sich keine offensichtlichen Hinweise etwa auf eine depressive Verstimmung oder eine
Angsterkrankung erkennen lassen. Auch bei Patienten und Eltern stellt sich so schnell
ein Gefühl der Ohnmacht ein. Folgen sind hartnäckige Forderungen nach Untersuchungen
und häufig auch ein aufmerksamkeitssuchendes Verhalten der Patienten.
Im Kindes- und Jugendalter gibt es auch die Möglichkeit, dass sich die Eltern übermäßig
Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen und auf weitere Untersuchungen drängen.
Eine solche Fehlanpassung bei Eltern wird bei besonderer Ausprägung nach Noeker (2008)
als Somatoforme Störung by Proxy (durch Stellvertreter) definiert [10].
Den Beginn der Symptomatik sorgfältig explorieren
Meistens können bei sorgfältiger Exploration nahe zurückliegende Belastungen als Auslöser
herausgearbeitet werden. Im Kindesalter sind dies vorrangig familiäre und/oder schulische
Belastungen, während im Jugendalter meist innere Konflikte die Bewältigung erforderlicher
Entwicklungsschritte behindern.
Bei den Dissoziativen Störungen können einfache körperliche Erkrankungen oder Ereignisse den psychosomatischen Krankheitsprozess
auslösen, der dann für den ausbleibenden Gesundungsprozess und die durch somatische
Befunde nicht erklärbare Funktionsbeeinträchtigung verantwortlich ist. Insgesamt finden
sich bei Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen bzw. in deren Familien gehäuft
psychosoziale Belastungsfaktoren und dysfunktionale Kommunikationsmuster – oftmals
über mehrere Generationen hinweg. Diese Zusammenhänge können jedoch meist weder die
Patienten selbst noch die Eltern erkennen oder benennen: Sie werden bewusstseinsfern
wirksam. Eine zu schnelle Konfrontation mit dem Verdacht einer psychischen Ursache
oder einer psychiatrischen Erkrankung kann daher leicht abgewehrt und als Beleidigung,
Bagatellisierung und Bedrohung aufgefasst werden.
Eine eingehende Anamnese zu Gesundheitsproblemen der Eltern und engerer Verwandter
sollte erhoben werden. Gehäuft finden sich bei den Eltern bis in die eigene Jugend
zurückreichende ähnliche Schmerz- oder Beeinträchtigungssymptome und aktuelle psychiatrische
Erkrankungen sowie psychosoziale Belastungen. Auch „Eintrittspforten“ sind gehäuft
zu finden, das heißt, das Kind (oder eben ein Elternteil) war vor Wochen oder Monaten
somatisch mit einer ähnlichen Symptomatik erkrankt.
Geschichtliche Einordnung
Sigmund Freud war vermutlich der Erste, der eine Unterscheidung zwischen psychischen
und psychosomatischen Erkrankungen vornahm, auch wenn er selbst den Begriff der Psychosomatik
nicht benutzte. Freud prägte den Begriff der Konversion, der auch heute noch für eine Unterform der Dissoziativen Störungen gebräuchlich
ist (auch wenn sich das Erscheinungsbild im Laufe der Zeit deutlich verändert hat).
Er formulierte als erster, dass es „unverträgliche Vorstellungen“ gebe, die „in Körperliches“
umgesetzt werden.
In den 1950er Jahren wurden die folgenden Erkrankungen durch Franz Alexander als psychosomatisch
beschrieben: peptisches Magengeschwür, ulzerative Kolitis, Bronchialasthma, Thyreotoxikose,
essentielle Hypertonie, rheumatoide Arthritis und Neurodermitis. Er entwickelte die
Idee, dass Patienten, die an diesen Erkrankungen leiden, passiv-abhängige Persönlichkeitsmerkmale
aufweisen und ihre unbewussten Konflikte in den jeweiligen Erkrankungen zum Ausdruck
bringen.
Alle diese Erkrankungen können inzwischen pathophysiologisch erklärt werden, wohingegen
ein ätiologischer Bezug zu bestimmten Persönlichkeitstypen bis heute nicht eindeutig
herstellbar ist.
Dissoziative Störungen
Störungen, die früher als Konversionsstörungen (s. Geschichtliche Einordnung; vgl. auch [11]
[12]) oder Hysterie klassifiziert wurden, finden sich heute in der ICD 10 unter dem Begriff Dissoziative Störungen (Tab. [1]). Dissoziative Phänomene sind im Alltag häufig als gesunde Übergangsphänomene wahrnehmbar,
beispielsweise die empfundene „Loslösung“ vom Körper beim Joggen. Patienten mit Dissoziativen
Störungen verlieren dauerhaft die Fähigkeit, ihre Erinnerungen, ihre sensorischen
Empfindungen oder Körperbewegungen in ihr Selbstbild zu integrieren.
Tabelle 1
Dissoziative Störungen nach ICD-10.
Schlüssel
|
Diagnose
|
Kriterien und Besonderheiten
|
Vorkommen im Kindes- und Jugendalter
|
F44.0
|
Dissoziative Amnesie
|
Verlust der Erinnerung an wichtige aktuelle Ereignisse, selektiv und unvollständig.
Nicht bei hirnorganischen Störungen, Intoxikationen, extremer Erschöpfung. Geht jedoch
deutlich über „normale“ Vergesslichkeit, z. B. im Rahmen von Müdigkeit, hinaus.
|
häufiger; meist auf traumatische Ereignisse bezogen
|
F44.1
|
Dissoziative Fugue
|
Zielgerichtete Ortsveränderung mit dissoziativer Amnesie, häufig vollständig und generalisiert.
Das Verhalten kann dennoch von außen völlig normal wirken.
|
seltener; häufiger nach schweren (z. B. sexuellen) Traumata im Sinne einer Reinszenierung
mit ungewolltem/unbewusstem Wiederaufsuchen des Täters
|
F44.2
|
Dissoziativer Stupor
|
Deutliche Verringerung oder Fehlen von Reaktionen auf Reize (Licht, Berührung, Geräusche)
und Fehlen von willkürlichen Bewegungen. Kein Anhalt für eine körperliche Ursache.
Nicht im Rahmen anderer Selten psychiatrischer Erkrankungen (Depressionen, Katatonie
etc.).
|
selten
|
F44.3
|
Trance und Besessenheitszustände
|
Verlust der Identität und der Wahrnehmung der Umgebung (unfreiwillig, ungewollt, nicht
religiös oder kulturell akzeptiert ausgelöst)
|
selten
|
F44.4
|
Dissoziative Bewegungsstörung
|
Vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder
(inkl. Aphonie und Dysphonie). Das klinische Bild imponiert wie eine neurologische
Bewegungsstörungen, z. B. Ataxie, Dyskinesie, Lähmung.
|
häufiger
|
F44.5
|
Dissoziative Krampfanfälle
|
Klinisches Bild ähnlich den Bewegungen bei epileptischen Anfällen, jedoch seltener
Verletzungen beim Sturz, fast nie Zungenbiss, fast nie Inkontinenz. Ein Bewusstseinsverlust
fehlt, eher stuporähnliche Zustände.
|
häufiger; auch als Mischform mit epileptischen Anfällen
|
F44.6
|
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
|
Unterschiedliche Ausfälle sensorischer Modalitäten, Grenzen eher laienhaft, häufig
von Parästhesien begleitet, auch Seh- oder Hörstörungen können vorkommen.
|
seltener
|
F44.7
|
Dissoziative Störungen, gemischt
|
Kombination der oben genannten
|
selten
|
F44.8
|
Sonstige Dissoziative Störungen
|
Ganser-Syndrom, Multiple Persönlichkeitsstörung, Transitorische dissoziative Störungen
in der Kindheit und Jugend und inkl. psychogenem Dämmerzustand, Verwirrtheit
|
häufiger
|
F44.9
|
Nicht näher bezeichnete Dissoziative Störungen
|
Restkategorie, nicht definiert
|
–
|
Merke: Dissoziative Störungen haben oft eine enge zeitliche Verbindung mit erlebten Traumata,
unlösbaren, unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen.
Die dissoziativen Sensibilitäts- und Bewegungsstörungen stellen sich häufig eher so
dar, wie Patienten sich vorstellen, dass die Erkrankung aussehen müsste, z. B. strumpfförmige,
statt Dermatom-angepasste Sensibilitätsstörungen. Wichtige Hinweise auf eine Dissoziative
Störung sind: plötzlicher Beginn, Variabilität der präsentierten Symptomatik (z. B.
Veränderungen der Tremorfrequenz oder der Sensibilitätsgrenzen in verschiedenen Untersuchungen),
intermittierende Symptomatik, andere somatoforme Störungen in der Vorgeschichte, Hinweise
auf Traumatisierungen und ein sekundärer Krankheitsgewinn, wohingegen etwa Verletzungen
infolge von psychogenen Anfällen fast nie auftreten. Angst und Depression sind häufig
komorbid vorhanden, jedoch nicht deutlich mehr als in der Normalbevölkerung.
Somatoforme Störungen
Kennzeichnend sind hier körperliche Symptome, insbesondere Schmerzen oder vegetative
Beschwerden, die nicht durch krankhafte Organbefunde begründbar sind (Tab. [2]).
Tabelle 2
Somatoforme Störungen nach ICD-10.
Schlüssel
|
Diagnose
|
Kriterien und Besonderheiten
|
Vorkommen im Kindes- und Jugendalter
|
F45.0
|
Somatisierungsstörung
|
Mindestens 2 Jahre bestehend mit multiplen körperlichen Symptomen. Können jedes Körperteil
und jedes Körpersystem betreffen. Häufig chronisch, fluktuierend. Mindestens 6 Symptome
aus 2 verschieden Kategorien (gastrointestinal, kardiovaskulär, urogenital, Haut und
Schmerzsymptome). Häufige „Patienten-Karriere“ mit häufigen, explorativen Operationen.
|
weniger bei Kindern, eher ab dem Jugendalter
|
F45.1
|
Undifferenzierte Somatisierungsstörung
|
Weniger als 2 Jahre oder weniger auffallende Symptomatik. Es liegen auch hier verschiedene
Beschwerden vor, das typische Bild, oder das Zeitkriterium sind aber nicht erfüllt.
|
insbesondere aufgrund der Zeitdauer häufiger im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert
|
F45.2
|
Hypochondrische Störung
|
Dauerhafte Beschäftigung mit der Möglichkeit zu erkranken, oder der Überzeugung bereits
erkrankt zu sein. Häufig anhaltende körperliche Beschwerden oder ständige Beschäftigung
mit der eigenen körperlichen Erscheinung im Sinne einer Angst vor Entstellung (Dysmorphophobie)
oder einer nicht wahnhaften Überzeugtheit, entstellt zu sein. Normale Körperreaktionen
werden als abnorm, belastend interpretiert. Häufig in Kombination mit Depression oder
Angsterkrankungen.
|
häufiger ab dem Jugendalter
|
F45.3
|
Somatoforme autonome Funktionsstörung
|
Vegetativ innervierte Organsysteme mit subjektiven Beschwerden: Schmerzen, Brennen,
Enge, Schwere. Die Patienten sind der Überzeugung, dieses Organsystem sei erkrankt
(kardiovaskulär {F45.30}, gastrointestinal {F45.31/F45.32}, respiratorisch {F45.33},
urogenital {F54.34}). Fast immer in Kombination mit vegetativ vermittelten Angstsymptomen
wie Herzklopfen, Zittern, Schwitzen.
|
häufiger ab dem Jugendalter
|
F45.40
|
Anhaltende Schmerzstörung
|
Andauernder, schwerer, quälender Schmerz, der nicht oder nicht hinreichend durch physiologische
Befunde erklärt werden kann. Fast immer in Verbindung mit Konflikten, Belastungen
(beeinflussen Beginn, Schweregrad, Exazerbation, Aufrechterhaltung), fast immer gesteigerte
Hilfen (medizinisch, persönlich). Darf nicht im Verlauf anderer psychiatrischer Erkrankungen
wie Depressionen oder Schizophrenie diagnostiziert werden.
|
häufiger
|
F45.41
|
Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
|
Mindestens 6 Monate bestehende Schmerzen, die ihren Ursprung in einer körperlichen
Erkrankung haben. Der Beginn ist also durch pathologische Organbefunde begründet,
dagegen sind Aufrechterhaltung, Schweregrad, Exazerbation psychisch bedingt.
|
vor allem bei chronisch erkrankten Kindern- und Jugendlichen
|
F45.8
|
Sonstige Schmerzstörung
|
Störungen der Wahrnehmung von Körperfunktionen, die nicht vegetativ vermittelt werden,
wie psychogene Dysmenorrhoe, Dysphagie, Pruritus, Tortikollis, Zähneknirschen
|
seltener
|
F45.9
|
Nicht näher bezeichnete Schmerzstörung
|
undefinierte Restkategorie
|
–
|
Merke: Bei Somatoformen Störung ausschlaggebend ist vor allem die deutliche soziale, familiäre
und zwischenmenschliche Funktionseinschränkung in Kombination mit hartnäckigen Forderungen
nach weiteren ärztlichen Untersuchungen.
Eine altersspezifische Einteilung existiert bis heute nicht, daher fehlen aus kinderpsychiatrischer
Sicht auch spezifische Kriterien für die Somatoformen Störungen des Kindes- und Jugendalters.
Im Vorschulalter sind Somatoforme Störungen eher selten, und im Grundschulalter finden
sich kürzere Verläufe und monosymptomatische Erscheinungsbilder. Am häufigsten sind
Kopf- und Bauchschmerzen zu finden (Abb. [7]) [13]. Der Erkrankungswert ergibt sich häufig aus den raschen Einschränkungen im Alltag,
z. B. mit gehäuften Fehlzeiten in der Schule und sozialem Rückzug.
Abb. 7 Bei Kindern mit Somatoformen Störungen sind am häufigsten Kopf- oder Bauchschmerzen
zu finden. Symbolbild, Quelle: Fotolia.
Im Pubertätsalter nähert sich das Erscheinungsbild dem des Erwachsenenalters an. Die
Symptomatik ist häufig vielfältiger und die Symptome bestehen über Monate oder Jahre;
lang anhaltende Belastungen und langfristige Schulversäumnis sind die Folge. Bei nicht
adäquater Behandlung droht eine Chronifizierung, die weit bis ins Erwachsenenalter
andauern kann.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Diagnose und Differenzialdiagnose
Diagnostische Hilfsmittel
Die Diagnosestellung bei psychosomatischen Erkrankungen erfolgt klinisch nach definierten
Kriterien.
Im deutschsprachigen Raum existieren kaum spezifische Instrumente zur Erfassung von
somatoformen Störungen. Für das Jugendalter ab 16 Jahren, gibt es ein Computer-gestütztes Interview (CIDI/DIA-X), welches die Diagnose nach ICD-10 und DSM-IV bestätigen kann, es ist als Screeningverfahren
jedoch nicht geeignet. Der Gießener Beschwerdebogen für Kinder und Jugendliche (GBB-KJ) enthält eine Liste körperlicher Symptome, jedoch ohne die sonstigen Diagnosekriterien
zu berücksichtigen.
Fragen zur Erfassung somatoformer Störungen
Für eine grobe subjektive Orientierung in der Praxis empfiehlt es sich nach Noeker
(2008), die folgenden Fragen auf einer Skala von 1 (sehr wenig) bis 6 (sehr stark)
einschätzen zu lassen [14]:
Auf Elternseite:
-
Wie stark fühlt sich der Schmerz für Ihr Kind an?
-
Wie stark ist ihre Angst vor einer ernsthaften Krankheit Ihres Kindes?
-
Wie stark hält der Schmerz ihr Kind davon ab, bestimmte Dinge zu tun (Freunde treffen,
Schule, Hobbies, Familie)?
Auf Kindseite:
-
Wie stark fühlt sich der Schmerz in deinem Körper an?
-
Wie stark ist Deine Angst vor einer schlimmen Krankheit?
-
Wie stark hält Dich Dein Schmerz davon ab, bestimmte Dinge zu tun (Freunde treffen,
Schule, Hobbies, Familie)?
Differenzialdiagnose
Im Rahmen diagnostischer Erwägungen muss immer das Vorliegen anderer psychiatrischer
Erkrankungen in Betracht gezogen werden. Tab. [3] gibt eine Übersicht über mögliche Differenzialdiagnosen.
Tabelle 3
Psychiatrisch relevante Differenzialdiagnosen.
Differenzialdiagnose
|
Kriterien
|
psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
|
dient der Erfassung von psychologischen Faktoren, die den Verlauf bzw. die Behandlungscompliance
bei bestehenden körperlichen Erkrankungen beeinflussen (z. B. Asthma, Diabetes mellitus)
|
Depressionen
|
häufig begleitende somatische Beschwerden, jedoch auch deutlich gedrückte Stimmung,
Freudverlust, Antriebsmangel
|
Panikstörung und generalisierte Angststörung
|
vegetativ vermittelte Anzeichen von Angst, die als Erkrankung fehlinterpretiert werden
können, jedoch häufiger episodenhaftes Auftreten und breiteres Spektrum an Dingen,
über die sich Sorgen gemacht wird
|
Depersonalisierungs- und Derealisationsphänomene
|
im Rahmen starker psychischer Belastungen (z. B. akute Traumaverarbeitung oder auch
bei Drogenintoxikation) erlebte Distanzierung vom eigenen Körper oder der Umgebung
|
Psychosen
|
im Rahmen von Wahnsystemen auftretende Erkrankungsängste, dabei jedoch auch weitere
psychotische Symptome
|
Münchhausen by Proxy/Kindesmisshandlung
|
durch Eltern herbeigeführte Symptome mit Schädigung des Kindes
|
artifizielle Störung (absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder
psychischen Symptomen oder Behinderungen)
|
Verhaltensweisen/Selbstverletzungen, mit denen Symptome erzeugt werden oder vorgetäuscht
werden; keine äußere Motivation (z. B. finanzielle Entschädigung, Flucht vor Gefahr,
mehr medizinische Versorgung); Ausschluss einer erklärenden körperlichen oder psychischen
Störung
|
Simulation
|
vorgetäuschte Krankheit mit deutlicher, dahinter liegender Motivation
|
Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen
|
Aggravierung oder längeres Anhalten von körperlichen Symptomen, die ursprünglich durch
körperliche Störung erklärt werden konnten; Vorliegen von Hinweisen auf psychische
Verursachung (Enttäuschung über mangelhafte Betreuung, Angst vor Behinderung etc.)
|
Schlussfolgerungen für die kinderärztliche Praxis
Schlussfolgerungen für die kinderärztliche Praxis
Anamnese und Gesprächsführung
Merke: Eine sorgfältige, auch über die unmittelbaren Beschwerdesymptome hinausgehende Exploration
der Gesundheits-, Sozial- und Familienanamnese ist unabdingbar.
Mittelfristig lassen sich so Zeit und Doppeluntersuchungen sparen, und ein besserer
Überblick über die Gesamtproblematik ist herzustellen. Der weit verbreitete Gedanke
„Besser nicht genau fragen, weil ich ihn/sie dann noch auf Ideen bringen könnte“,
ist an dieser Stelle unangebracht.
Die Gesprächstechniken, die in diesem Zusammenhang zielführend sind, umfassen vor
allem eine Haltung des „Annehmens“ der Beschwerden. Hilfreich sind offene Fragen wie:
-
Erzähl mal, wie sind die Beschwerden?
-
Kannst Du sie mir genauer beschreiben?
-
Was denkst Du selbst über diese Beschwerden?
-
Ärgerst Du Dich, wenn diese Beschwerden auftreten?
Dabei ist es wichtig, immer den Kontext der Beschwerden genauer zu erfragen:
-
Gibt es spezielle Situationen, in denen die Beschwerden stärker sind?
-
Welche Folgen hat das für Deine Freundschaften, für die Familie?
-
Wer kümmert sich in solchen Situationen um Dich?
-
Was hilft Dir bei diesen Beschwerden?
Kommt der Arzt dem Wunsch des Patienten nach weiteren Untersuchungen nach, so wird
sich an der Symptomatik nichts ändern und das Konzept der körperlichen Krankheit weiter
zementiert. Verweigert er sich diesem Wunsch aus dem Gefühl heraus, manipuliert zu
werden, entstehen ablehnende und negative Gefühle dem Patienten gegenüber, der Kontakt
wird distanziert oder gar abgebrochen. Eine zu drastische Deutung der Beschwerden
als Ausdruck psychischer Probleme wird ggf. von Patienten als beleidigend empfunden
und zurückgewiesen.
Merke: Ziel erster Gespräche in der kinderärztlichen Praxis ist es, dass sich zwischen dem
Patienten bzw. der Familie und dem Arzt ein tragfähiges Bündnis entwickeln kann.
Psychosomatisch erkrankte Patienten erleben ihre Beschwerden tatsächlich und simulieren
nicht. Empfinden sie sich jedoch mit ihren Beschwerden nicht gesehen und nicht ernst
genommen, vermeintlich auch noch zurückgewiesen, so gibt es zumeist zwei Möglichkeiten:
Entweder werden Betroffene mit einer Vielzahl von Symptomen immer wieder versuchen
zu überzeugen, oder sie suchen schließlich einen anderen Arzt auf, von dem sie sich
mehr Verständnis und Hilfe versprechen.
Gleichwohl ist es wichtig, die Patienten aus ihrer Passivität zu locken und ihre oft
übergroßen Erwartungen an körperbezogenes ärztliches Handeln zu mindern. Fragetechniken,
die ein Bewusstsein für den Einfluss eigener Ideen und Überzeugungen schaffen, stärken
das Gefühl, nicht allem passiv ausgeliefert zu sein, und damit eine Idee von Selbstwirksamkeit.
Insbesondere für einen „würdevollen Rückzug aus dem Symptom“, ist es wichtig, auf
Hinweise und Ideen von Patienten über das ermutigend einzugehen, was sie selbst meinen,
zur Linderung ihrer Beschwerden beitragen zu können.
Ist ein tragfähiges Bündnis zwischen Arzt und Patient erreicht, müssen die Inhalte
und Ergebnisse der schon erfolgten und noch erforderlichen Untersuchungen in Ruhe
besprochen werden.
Merke: Die Erläuterung der Ergebnisse sollte sich darauf beziehen, dass eine hinreichende
Erklärung der Beschwerden nicht mit Hilfe einer körperlichen Diagnostik erfolgen kann
und dass dennoch weiterer (psychosomatischer) Behandlungsbedarf besteht.
Für den Patienten ist dies meist Voraussetzung dafür, dass er auch andere Gedanken
zulassen kann. In der Folge sollten dann regelmäßigere, von den Beschwerden zunehmend unabhängige Kontakte und Wiedervorstellungen erfolgen, in denen die Zuwendung des Arztes mehr und mehr
auf die gesunden Anteile des Patienten und seine Genesungsbemühungen gelenkt werden
können. Auf diese Weise wird der Fokus viel mehr auf die gesündere Seite und Genesung
gerichtet, als auf eine durch Störungen fokussierte Problematik.
Dieses Vorgehen scheint vor allem dann vielversprechend, wenn die Problematik überschaubar
ist, die Symptome nicht multipel sind und das Funktionsniveau des Patienten noch ausreichend
gut ist.
Wie sag ich es meinem Patienten? – Beispiele für eine hilfreiche Kommunikation [
14]
-
„Im Darm sind besonders viele Nervenzellen, die bei Ihrem Kind schon auf kleinste
Reizungen wie z. B. normale Darmbewegungen mit Schmerzen reagieren können. Diese hoch
empfindsamen Nervenzellen des Darmes stehen in enger Verbindung zum Gehirn und können
daher mitreagieren, wenn Ihr Kind sich aufregt oder Sorgen hat. Dies gilt besonders
bei Kummer, den Ihr Kind nicht mit Worten ausdrücken kann. Manche Kinder oder Eltern
verwechseln dann Anzeichen seelischer Aufregung mit körperlicher Krankheit.“
-
„Mindestens ebenso wichtig ist es, negative Auswirkungen der wiederkehrenden Bauchschmerzen
auf die normale Entwicklung des Kindes in Familie, Schule und Freundeskreis in Grenzen
zu halten. Dazu kann begleitend zur ärztlichen Behandlung auch eine psychologische
Beratung hilfreich sein.“
-
Ein anschauliches Video zur Erklärung von Schmerzstörungen mit dem Titel „Den Schmerz
verstehen – und was zu tun ist in 10 Minuten“ des Deutschen Kinderschmerzzentrums
ist für Patienten gut geeignet und findet sich in vielen verschiedenen Sprachen unter
http://www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de/jugendliche/video-den-schmerz-verstehen/
Hinzuziehen eines Kinder- und Jugendpsychiaters
Merke: Sind die Symptome so stark, dass beispielsweise der Schulbesuch unmöglich ist, so
erscheint es ratsam, einen Kinder- und Jugendpsychiater hinzu zu ziehen. Ideal ist
dann zunächst ein gemeinsames Gespräch mit dem behandelnden Kinderarzt, dem Kinderpsychiater
und dem Patienten bzw. dessen Eltern.
Ein solches Gespräch kann Missverständnissen vorbeugen. Der Kinderpsychiater wird
versuchen, Hintergründe und Einflussfaktoren genauer zu beleuchten und therapeutische
Schritte mit dem Betroffenen und dessen Familie zu erarbeiten. Eine psychiatrische
Medikation erscheint vorrangig bei komorbiden affektiven Störungen indiziert (siehe
Abschnitt zur Medikation weiter unten). Für den Kinder- und Jugendpsychiater ist eine
psychosomatische Erkrankung keine Ausschlussdiagnose, sondern vielmehr eine eigenständige,
an definierten Kriterien zu erfassende Diagnose. Dennoch ist es auch für ihn wichtig,
genau zu wissen, welche diagnostischen Schritte bereits unternommen wurden und was
die bisherigen Ergebnisse waren.
Die folgende grobe Checkliste kann bei der Vermittlung an einen weiterführenden psychotherapeutisch
arbeitenden Kollegen wichtig sein, um die notwendigen Informationen zu erhalten:
Für die Übergabe an einen Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten wichtig:
-
bisherige somatische Befunde: Sind schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankungen
ausgeschlossen worden und wurde dies mitgeteilt?
-
Art und Dauer der Symptome – Wie ist das somatische Inanspruchnahmeverhalten?
-
Schweregrad der Beeinträchtigung/extremer Leidensdruck? Besteht eine Neigung zur Katastrophisierung
bzw. der Verdacht auf eine Hypochondrie?
-
Bestehen negative Auswirkungen auf schulische und soziale Entwicklung und auf die
Familie, z. B. Schulabsentismus oder Aufgabe von Hobbies?
-
Bestehen schon bekannte komorbide psychiatrische Erkrankungen wie Angst, Depression,
Persönlichkeitsstörungen?
Die wichtigsten Elemente für die pädiatrische Versorgung sind als Flowchart in Abb. [8] und zusammengefasst als „Dos and Don’ts“ in Tab. [4] dargestellt.
Abb. 8 Haus- bzw. kinderärztliche Versorgung bei somatoformen Störungen.
Tabelle 4
Dos and Don’ts.
Dos
|
Don’ts
|
Vorbefunde zusammenfassen
|
Doppeluntersuchungen
|
Untersuchungen auf das Nötigste begrenzen, mit zeitlicher Straffung, Endpunkte von
vornherein festlegen
|
weitere Untersuchungen vorschlagen, Überweisungen zu weiteren Spezialisten
|
transparente, entkatastrophisierende Besprechungen, Normvarianten/Bagatellbefunde
einordnen
|
Bagatellbefunde uneingeordnet mitteilen
|
schnelle Reintegration in den Alltag
|
fortgesetzte Krankschreibungen
|
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Anerkennung der Beschwerden bzw. frühzeitiger
Einschaltung eines Kinder- und Jugendpsychiatrischen Konsiliardienstes oder einer
Zusammenarbeit mit niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern
|
Aussagen treffen wie: „Wir können nichts für sie tun“, „Sie simulieren“. Chronifizierung
durch Weiterbehandlung trotz somatisch unauffälligem Befund
|
einen gesichtswahrenden „Rückzug in Würde“ über einen längeren Zeitraum ermöglichen
|
Verlegenheitsverordnung von Schmerzmedikation, längerfristige Physiotherapie, Placebobehandlung
(vor allem zur „Überführung“ von Patienten bei Simulationsvermutung)
|
Reflektion über eigene Gefühle im Zusammenhang mit der Erwartung des Patienten (Idealisierung/Entwertung/„Koryphäenkiller“)
|
Ohnmacht/Wut direkt und ungefiltert dem Patienten gegenüber in Kontakt bringen
|
Infobox Medikation (nach [
15])
-
Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer
(SSNRI) scheinen eine positive Wirkung auf die Zielsymptomatik, vorrangig die Schmerzsymptomatik
zu haben, es gibt jedoch keine placebokontrollierten Studien zur Wirksamkeit.
-
Im Kindesalter gibt es keine Zulassung bei somatoformen Störungen, sodass individuelle
Heilversuche im Off-Label-Bereich notwendig werden; lediglich bei einer komorbiden
depressiven Episode ist Fluoxetin ab 8 Jahren zugelassen.
-
Im Erwachsenenalter ist Opipramol (ein trizyklisches Piperazinylderivat) bei somatoformen
Störungen zugelassen, es zeigt vorrangig auf Anspannung und begleitende Ängste Wirkung.
-
Insgesamt ist bei einer erhöhten somatischen Wahrnehmung und Empfindlichkeit von Patienten
mit somatoformen Störungen von einer höheren Rate an unerwünschten Nebenwirkungen
auszugehen.
Fallbeispiele
Fallbeispiel 1: „Hätte ich die Bauchschmerzen nicht, wäre alles gut.“
Greta, 8 Jahre, wird im kinderpsychiatrischen Konsil in der Kinderklinik erstmalig
vorgestellt. Ihre Eltern berichten, dass die Symptomatik vor einem Jahr mit gelegentlichen
Bauchschmerzen begonnen und sich innerhalb dieser Zeit so gesteigert haben, dass Greta
inzwischen die Schule nicht mehr besuchen könne. Greta verbringe die Vormittage zuhause,
die Mutter sei nun ebenfalls krankgemeldet. Greta schlafe aus, dann schaue sie Fernsehen
oder spiele am Tablet-PC; ihre Hobbies, Tanzen und Reiten, habe sie ebenfalls aufgeben
müssen. Nachmittags komme der jüngere Bruder nach Hause und die beiden würden gelegentlich
miteinander spielen. Greta selbst sagt, dass sie gerne wieder in die Schule gehen
würde und mehr Freunde treffen möchte, aber dass dies aufgrund der Bauchschmerzen
nicht gehe. Ihre Stimmung sei gut, sie habe keine Angst vor der Schule.
An Voruntersuchungen haben bei verschiedenen Ärzten mehrere Stuhl- und Blutuntersuchungen
stattgefunden sowie mehrere Sonografien, zudem eine Magen- und Darmspiegelung und
zuletzt bei geringfügig vergrößerten mesenterialen Lymphknoten auch eine Laparoskopie
mit prophylaktischer Entfernung der Appendix. Die Ärzte hätten der Familie dennoch
immer wieder gesagt, dass Greta gesund sei, und sie nach Hause geschickt. Stress als
Auslöser habe die Familie ausschließen können, da die Symptomatik sich auch in stressfreien
Zeiten, wie den Ferien, gezeigt habe.
Die Eltern seien weiterhin der Überzeugung, eine schwere Erkrankung könne übersehen
werden. Über eigene belastende Erfahrungen zu sprechen, lehnen beide Eltern mit dem
Hinweis „nicht vor dem Kind“ ab. In späteren Gesprächen berichten die Eltern, dass
es vor Gretas Geburt eine Fehlgeburt im 6. Schwangerschaftsmonat gegeben habe, sowie
ein Geschwisterkind, das mit drei Monaten am plötzlichen Kindstod verstorben sei.
Greta habe deshalb das erste Lebensjahr am Monitor verbracht, die Mutter habe in dieser
Zeit Gretas Wohlbefinden häufig mit dem Monitor in Verbindung gebracht, sie habe ihrer
Intuition, was das Kind brauche, nicht mehr trauen können. Greta habe sich gut entwickelt,
sie sei ehrgeizig und komme gut zurecht, sie sei allerdings immer eher ängstlich gewesen.
Vor Beginn von Gretas Symptomatik sei die Mutter erneut schwanger gewesen, sie habe
das Kind jedoch vor Ende des dritten Schwangerschaftsmonats verloren. Greta habe davon
nichts mitbekommen. Die Mutter habe ein paar Tage in der Klinik verbringen müssen,
der Vater habe Greta in dieser Zeit betreut. Greta habe man gesagt, die Mutter sei
wegen Bauchschmerzen in der Klinik.
Aufgrund der chronifizierten Symptomatik wird Greta vollstationär kinderpsychiatrisch
aufgenommen. In einer Vielzahl therapeutischer Gespräche, gelingt es Greta und ihren
Eltern langsam, sich auf eine psychosomatische Krankheitsgenese einzulassen.
Vereinbartes Ziel ist es zunächst, den Alltag trotz der Bauchschmerzen wieder mitmachen
zu können. Hier zeigt sich schnell eine Diskrepanz zwischen angegebenen Schmerzen
und der dennoch bestehenden Alltagstauglichkeit im Stationsalltag. Zusätzlich wird
an der Bewältigung des Schmerzes gearbeitet. Wichtige Eckpunkte sind zweimal wöchentliche,
vom Schmerz unabhängige Termine bei der Stationsärztin sowie verordnete Ruhezeiten
in der Hängematte mit Wärmflasche und Hörspiel. Greta kann selbst gut formulieren,
welche Therapie sie als hilfreich empfinden würde, so gelingt ihr zum Einen eine Verringerung
der Beschwerden, ohne dass sie ihr Gesicht verliert, zum Anderen erlebt sie sich selbst
als wirksam beteiligt an der Veränderung.
Eine Übertragung der Symptomatik in eine Metapher „was schlägt dir auf den Magen“
kann nur im geschützten therapeutischen Rahmen versucht werden. Greta ist hier sehr
deutlich und benennt massive Ängste um die Mutter und Sorgen vor dem eigenen Tod.
Um eine Übertragung in den Alltag außerhalb der Klinik zu gewährleisten, wird mit
den Eltern zum einen in Video-Interaktionen an der nonverbalen Signalwahrnehmung von
Greta gearbeitet, zum anderen das richtige Reagieren besprochen, wenn der Schmerz
kommt (echtes Mitgefühl und Trost, ohne Schonung und Vergünstigungen). Auch die Kommunikation
wichtiger Familienthemen wird geübt. Die Mutter begibt sich in eine eigene Psychotherapie,
Greta beginnt ebenfalls nachstationär eine Psychotherapie; kinderpsychiatrische Verlaufskontrollen
finden weiterhin regelmäßig statt.
Fallbeispiel 2:„Wenn ich jetzt in die Psychiatrie gehe, denken alle, ich hab was am
Kopf“
Der 17-jähirge Nico, der gerade eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker machte, wurde auf
dem Weg zur Arbeit ohne erkennbare Ursache ohnmächtig. Nach dem Erwachen konnte er
seine Beine nicht bewegen und spürte sie auch nicht. Es folgte eine ausgiebige kinderärztliche
Diagnostik und Behandlung, einschließlich intensiver neurologischer Diagnostik, die
allesamt keine Befunde erbrachten, welche das Problem angemessen erklären würden.
Dennoch blieben die Lähmung und die Sensibilitätseinbuße, sodass Nico sogar für einige
Wochen in die neurologische Reha ging. Die Lähmung war im Verlauf rückläufig und er
konnte auf den Rollstuhl verzichten, während die Sensibilitätseinbußen bei regelhafter
NLG und Fehlen jeglicher somatischer Erklärung fortdauerten. Aufgrund des hohen Leidensdrucks
erfolgte die stationäre Aufnahme auf die Kinder- und Jugendpsychiatrische Station
bei V. a. eine dissoziative Störung. Der während des Aufenthalts volljährig gewordene
Patient zeigte zum Teil eine kindliche Bedürfnislage nach Anlehnung und Versorgung
bei einem gleichzeitigen Idealbild einer ausgeprägten Selbstständigkeit. Ähnlich zeigte
sich Nico im familiären Umfeld, wo er im Zusammenhang mit der alleinerziehenden Mutter
eine ähnliche Bedürftigkeit ausdrückte.
Aufgrund seiner ausgeprägten ehrenamtlichen Tätigkeiten und Erfahrungen bei einem
sozialen Träger, zeigte sich Nico häufig fachmännisch, zuverlässig, betont erwachsen
und reif, was wenig mit dem korrespondierte, wie man ihn wahrnahm. Anfangs lehnte
er gänzlich psychische Ursachen der derzeitigen Beeinträchtigungen ab und vermittelte
eine technische Überzeugung, dass sein Problem sicher bald weg ginge. Es mache ihn
„fertig“, dass er deswegen in eine Psychiatrie müsse; seine Bekannten müssten dann
evtl. denken, dass er etwas „am Kopf“ habe.
Im Rahmen des stationären Aufenthalts lernte Nico zunehmend, über für ihn wenig zugängliche
Empfindungen zu reflektieren, eigene Überforderungen wahrzunehmen und zu tolerieren,
Bedürfnisse angemessen zu äußern und in einen zwischenmenschlichen Bezug zu treten,
der freier war von den vorigen Haltungen der scheinbaren Überlegenheit. Tatsächlich
sprach er immer weniger von seinen Sensibilitätseinbußen, sodass er am Ende seiner
Behandlung überrascht darüber war, wahrzunehmen, dass die Gefühlsstörungen nicht mehr
vorhanden waren.
Die hochkomplexe Entwicklung von Fähigkeiten, Wissen und psychischer Struktur im Kindes-
und Jugendalter vollzieht sich in prägenden Beziehungen zu relevanten Bindungs- und
Bezugspersonen im umgebenden soziokulturellen Kontext und geht mit der erfahrungsabhängigen
neuroplastischen Reifung des Gehirns einher. Psychische und psychosomatische Störungen
stellen daher immer auch ein Risiko für die weitere Persönlichkeits- und Bildungsentwicklung
dar. Ihre Untersuchung und Behandlung sollte deshalb primär durch Kinder- und Jugendpsychiater
erfolgen. Der regelhaften kinderärztlichen Versorgung kommen dabei wesentliche und
oft weichenstellende Aufgaben zu.