physiopraxis 2016; 14(05): 42-45
DOI: 10.1055/s-0042-104910
therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Das Ziel zeigt den Weg – Zielsetzungsprozess

Claudia Pott

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Publication Date:
20 May 2016 (online)

 

Oft gehen Patienten- und Therapeutenziele in der Neuroreha weit auseinander, und Therapeuten sind mit unrealistischen Erwartungen konfrontiert. Studien zeigen, dass eine systematische Zielsetzung hilft, dem entgegenzuwirken. Claudia Pott stellt wichtige Ergebnisse vor und überträgt sie in die Praxis.


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Claudia Pott

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Claudia Pott ist Physiotherapeutin, BA, und derzeit freiberuflich tätig. Von 1995 bis 2014 arbeitete sie in der ambulanten interdisziplinären neurologischen Komplextherapie von Menschen mit erworbenen Hirnverletzungen. Sie ist Initiatorin, Teil der Entwicklungsgruppe und Dozentin der Weiterbildung „Neurophysiotherapie“. Zudem arbeitet sie an der Entwicklung von nachhaltig wirksamen motorischen und interdisziplinären Therapiekonzepten.

Wie wichtig der Zielsetzungsprozess in der Reha ist, zeigt folgendes Beispiel: Die Physiotherapeutin Katie Campion berichtet von einem Patienten mit Schlaganfall, der als Ziel „seine Mitte finden“ nennt, nachdem sie in der Therapie den Fokus auf das symmetrische Sitzen gelegt hat. Als sie ihn aber nach seinen Hoffnungen für die Zukunft fragt, antwortet er „in die Arbeit“ gehen [5]. Das veranschaulicht, wie sehr Therapeuten den Zielsetzungsprozess beeinflussen können, je nachdem, wie sie die Frage formulieren oder was sie mit dem Patienten üben.

Therapeuten können den Zielsetzungsprozess stark beeinflussen.

Wenig erforscht: Zielsetzungsprozesse in der Physiotherapie

Wie wichtig eine Zielvereinbarung ist, untersuchte 2013 auch eine Arbeitsgruppe um Thavapriya Sugavanam von der Universität Edinburgh. In dem Review belegen die Forscherinnen die positiven Effekte von Zielvereinbarungen im Hinblick auf funktionelle Verbesserungen, Performanz, den positiven Einfluss auf die Selbstwirksamkeit und das Gefühl des Eingebundenseins in den Rehaprozess [19].

Um die Effekte zu transparent zu machen, hatte sich das Team zwei Fragen gestellt:

  1. Was sind die Effekte hinsichtlich der physischen Aktivität und auf die Psyche, wenn man mit Patienten nach Schlaganfall in der Reha Ziele setzt?

  2. Welche Erfahrungen machen Patienten und ihre Therapeuten mit der Zielsetzung?

Die Forscherinnen durchsuchten unter anderem die Datenbanken Cochrane, Pubmed, Medline und PEDro. Sie fanden 17 Untersuchungen, die insgesamt 614 Patienten nach Schlaganfall, 43 Therapeuten und 38 pflegende Bezugspersonen zum Thema Zielsetzung rekrutiert hatten. Das Review liefert wichtige, therapierelevante Aspekte:

  • → Setzen Patient und Therapeut in der Reha gemeinsam Ziele, können sie Funktionen schneller und besser wiederherstellen, die Leistung steigern und die subjektive Patientenzufriedenheit bei der Selbstversorgung positiv beeinflussen. Zudem fühlt sich der Patient besser in den Rehaprozess eingebunden.

  • → Therapeuten beurteilen die Zusammenarbeit mit dem Patienten häufig besser als die Patienten selbst. Zudem ist den Patienten oft nicht bewusst, welche große Bedeutung sie beim Definieren der Ziele haben.

  • → Zielsetzung und -erreichung beurteilen Patient und Therapeut unterschiedlich: Patienten formulieren eher Wünsche als Ziele – diese sind in der Regel global („Der Arm soll wieder werden wie früher“) und weniger spezifisch („Ich möchte wieder mit Messer und Gabel essen und mich gleichzeitig unterhalten können“).

  • → Therapeuten formulieren zwar spezifische Ziele, diese sind jedoch selten professions- und settingübergreifend (Rehaklinik-Situation versus Pflegeheim, zu Hause mit Unterstützung lebend etc.).

  • → Patienten setzen sich deutlich höhere Ziele als ihre Therapeuten, damit sinkt die Chance der Zielerreichung. Beim Definieren von Zielen und Prüfen des Erfolgs vergleichen sich Patienten mehrheitlich mit dem Zustand vor dem Schlaganfall, Therapeuten dagegen setzen den Rehaerfolg in Bezug zum Rehabeginn und schaffen es, den „Optimalzustand“ auszublenden. Daraus ergeben sich unweigerlich unterschiedliche Ebenen bei der Zielformulierung.

  • → Hemmend auf die Zielsetzungsprozesse wirken sich sprachliche und kognitive Defizite der Patienten aus. Die befragten Therapeuten nannten aber auch strukturelle Barrieren als negative Einflussfaktoren, zum Beispiel nicht vorhandene Ressourcen für interdisziplinäres Arbeiten.

Patienten setzen Ziele meist deutlich höher als der Therapeut.

Sugavanam und ihr Team kommen für eine optimale Zielvereinbarung in einer neurologischen Rehaeinrichtung zu dem Schluss, dass ...

  • → ... sich das Team der Wichtigkeit eines verbesserten Zielsetzungsverfahrens bewusst sein sollte.

  • → ... das Auseinandersetzen mit zugrunde liegenden Theorien hilfreich ist.

  • → ... die Schwierigkeiten der Zielvereinbarung mit Patienten, die unter kognitiven und/oder sprachlichen Beeinträchtigungen leiden, besonders berücksichtigt werden müssen.

  • → ...die gute Kommunikation und das Einnehmen der Patientenperspektive die Schlüssel in der gemeinsamen Zielsetzung sind.

  • → ... Weiterbildungen und Trainings den Prozess verbessern.

Dieses Review und viele andere Untersuchungen belegen die derzeitigen Mängel im Zielsetzungsprozess [13, 14]. Ines Buchholz und Thomas Kohlmann beispielsweise zeigten 2013 in einer Übersichtsarbeit, wie gering der Forschungsstand zum Thema „Reha-Ziele“ in Deutschland ist. Sie begründen dies damit, dass sich bisher kein Instrument etabliert habe, mit dem sich standardmäßig Ziele erfassen lassen [4]. Locke und Latham betonen, dass es bisher keine universale Zielsetzungstheorie gibt. Vielmehr existieren viele verfügbare, aber nicht überprüfte Theorien, was die Wissenschaftler unter anderem darauf zurückführen, dass es bisher noch keine standardisierte Terminologie gebe [10]. Die Untersuchungen zeigen auch, dass schwierige und herausfordernde Ziele zu besseren Leistungen führen als mittlere oder leicht zu erreichende. Gleichzeitig ist es sinnvoll, Ziele präzise und nicht allgemein oder unspezifisch („Gib dein Bestes“) zu formulieren. Neben der Goal-Setting-Theorie von Locke und Latham nehmen weitere Modelle Einfluss [16–18], wie die sozial-kognitive Theorie [2] und der prozessorientierte Ansatz mit der englischen Bezeichnung Health Action Process Approach HAPA [15]. Letzterer beruht auf einem Modell des Psychologen Professor Ralf Schwarzer, das veranschaulicht, wie eine Verhaltensänderung abläuft und warum Menschen ihre Absichten oft nicht in tatsächliches Verhalten umsetzen. Voraussetzung für den Erfolg einer Veränderung ist ein gewisse Selbstwirksamkeit. Dieses Konstrukt stammt aus der sozial-kognitiven Theorie von Albert Bandura. Dieser definiert die „Selbstwirksamkeitserwartung“ als Erwartung einer Person, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich ausführen zu können.

Kollegen sollten nach demselben Zielfindungsmuster vorgehen.


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Ziele präzise und über Berufsgrenzen hinweg formulieren

Angesichts der demografischen Entwicklung nimmt die Bedeutung der Langzeitfolgen eines Schlaganfalls zu. Gut definierte Ziele stärken die Arbeitsbeziehung zwischen Therapeuten und Patienten und sorgen für messbare Fortschritte. Zielsetzung unterstützt den Patienten auch in anderen Belangen: Sie reduziert Angst [8] und fördert die Bewältigung der Grenzen von Funktionswiederherstellung [12]. Deshalb ist es wichtig, dass Physiotherapeuten Ziele über Berufsgrenzen hinweg und auf Basis der ICF formulieren. Das lässt sich in multidisziplinären Strukturen oder in der ambulanten Nachsorge schwieriger umsetzen als in interdisziplinären Settings.


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Einheitliche Vorgehensweise in der Einrichtung

Optimalerweise gehen alle Therapeuten einer Einrichtung nach demselben Zielfindungsmuster vor. Da es bisher keine allgemeingültigen Prozesse gibt und jede Klinik, Praxis oder Rehaeinrichtung ihre eigenen Strukturen hat, müssen individuelle Verfahren gestaltet werden. Um solche zu implementieren, muss sich das Team auf einen gemeinsamen Zielsetzungsprozess mit ausgewählten Instrumenten einigen.

Zu beachten ist, dass sowohl informelle als auch formelle Instrumente zum Einsatz kommen. Als informelles Werkzeug eignet sich zum Beispiel das Identified Oriented Goal Setting, basierend auf dem Motivational Interviewing, das aus Carl Rogers’ Ansatz der nondirektiven, klientenzentrierten Gesprächsführung stammt [11]. Haben Patienten etwa Schwierigkeiten, Ziele zu formulieren, helfen spezifische Fragen: „Wie können Sie wissen, wann es an der Zeit ist, die Reha zu beenden und nicht mehr zu uns zu kommen?“, „Was finden Sie schwieriger seit dem Ereignis?“, „Was soll Ihnen leichterfallen?“, „Bitte visualisieren Sie einen idealen Tag ... wie würde dieser Tag aussehen?“ [1].

Therapeut und Patient formulieren Ziele in der Reha optimalerweise professions- und settingübergreifend,

Als formales Werkzeug hat sich in der Physiotherapie die Goal Attainment Scale (PHYSIOPRAXIS 9/06, S. 34) etabliert. Sie ist ein valides und empfindliches Messinstrument für die Ergebnismessung und benötigt nur eine kurze Einarbeitung des Therapeuten. Bei Menschen mit erworbenen Hirnverletzungen ist der Einsatz der GAS allerdings oft durch Mangel an Einsicht, dem Leiden unter Komorbidität und psychische Probleme erschwert [3]. Die Beeinträchtigungen neurologischer Patienten sind sehr komplex, und es scheint unmöglich, in den limitierten Therapiezeiten für alle Ziele Vereinbarungen mittels der GAS zu treffen. In der klinischen Praxis hat sich das Setzen von SMART-Wochenzielen bewährt, die gut sichtbar auf großen Plakaten in den Therapieräumen aufgehängt sind. Das Erreichen von Zielen macht stolz und fördert den Lernprozess. Dies bezieht sich auf den motorischen Lernprozess, aber auch auf den Bewältigungsprozess im gesamten Rehaverlauf: Beim motorischen Training gestaltet der Therapeut die Aufgabe so schwer, dass der Patient, das Bewegungsziel erreicht; der Erfolg und die folgende systematische Steigerung entsprechen dem Prinzip des operanten Konditionierens beim motorischen Lernen [6]. Positiv bewerten Patienten auch das gegenseitige Vorstellen der erreichten Ziele in einer großen Patientenrunde im Rahmen von Projektarbeit [7]. Dieses therapeutisch geführte Vorgehen hilft, erreichte Teilziele wie „ohne Stock 500 Meter in der belebten Fußgängerzone zu gehen“ in den Kontext der übergeordneten Ziele wie „selbstständig zu Hause leben und den Haushalt führen können“ zu setzen.


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Der Forschungsbedarf ist offensichtlich

Noch steckt die Forschung zu dem Thema Zielfindung in der neurologischen Rehabilitation in den Kinderschuhen, eine Reihe von Fragen gilt es zu beantworten, zum Beispiel:

  • → Wie wirkt sich die unterschiedliche Perspektive der Patienten, ihrer Angehörigen, Therapeuten und Pflegekräften auf die Zielvereinbarung aus?

  • → Welche Faktoren, wie Gesundheits-/Krankheitsverständnis, Annahmen hinsichtlich der Rehabilitationsbehandlung und der Prognose, beeinflussen den Zielsetzungsprozess?

  • → Wie wird der Grad der Zielerreichung bestmöglich ermittelt und kommuniziert?

  • → Wie kann man spezielle Verfahren für Patienten mit kognitiven und sprachlichen Defiziten entwickeln?

  • → Welches formale Instrument eignet sich am besten (z. B. Vergleich von SMART und GAS mit einer randomisierten, kontrollierten Studie)?

  • → Wie gut sind Transparenz und Kommunikation über Ziele im interdisziplinärem Team?

  • → In welchem Ausmß verbessern Schulungen über zugrunde liegende Modelle den Zielsetzungsprozess und die Zielerreichung?

  • → Gibt es einen Konsens über die Terminologie und wie werden Zielbereiche bestimmt (nach ICF, körperlichen und/oder psychosozialen Zielen, Informations- und Managementzielen)?

Patienten motiviert es, wenn sie ihre Ziele anderen präsentieren.

Auch Anna Lloyd sah diesen Forschungsbedarf und arbeitet aktuell mit den Physiotherapeutinnen Katrina Bannigan, Thavapria Sugavanam und Jenny Freeman an einem weiteren Review. Anfang 2016 haben sie dazu bereits ein Studienprotokoll publiziert [9]. Im Review, das quali- und quantitative Studien einschließen wird, wollen sie:

  • → ... beschreiben, welche Erfahrungen Menschen nach Schlaganfall und ihre pflegenden Bezugspersonen hinsichtlich des Zielsetzungsprozesses machen.

  • → ... bestimmen, ob diese Menschen bereits die Wichtigkeit des Zielsetzungsprozesses in der Rehabilitation erfassen.

  • → ... prüfen, ob die Patienten und Angehörigen das Konstrukt der Selbstwirksamkeit im Zielvereinbarungsverfahren verstehen. Das ist wichtig, damit sie sich als eigenverantwortlich begreifen und einschätzen können, an welchen Stellschrauben des Reha-prozesses sie ihre Situation aktiv mitverbessern können, wie sie Grenzen der Funktionswiederherstellung bewältigen und ihre Zufriedenheit wiedererlangen können.

Das angekündigte Review wird Literatur ab September 2015 beinhalten. Die Autorinnen erhoffen sich neue Erkenntnisse durch die Auswertung der Erfahrungen der Patienten selbst, ihrer Familienangehörigen und nicht bezahlter pflegender Bezugspersonen.


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Fazit: Wissen, wo man hinwill

Bezogen auf die neurologische Reha trifft das Sprichwort „Der Weg ist das Ziel“ nicht zu, stattdessen können sich Therapeuten Mark Twain anschließen, der schrieb: „Wenn du nicht weißt, wo du hinwillst, musst du dich auch nicht wundern, wenn du nicht ankommst.“ Die dokumentierte und für den Patienten, die Angehörigen und das Behandlungsteam transparente Zielvereinbarung kann den Weg zu einer gelungenen Inklusion, Bewältigung und Zufriedenheit maßgeblich unterstützen.


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