Pneumologie 2016; 70(08): 510-513
DOI: 10.1055/s-0042-105271
Standpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Lungenkrebs als Berufskrankheit

Lung Cancer as an Occupational Disease
X. Baur
1   Institut für Arbeitsmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
,
H.-J. Woitowitz
2   Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, Justus-Liebig-Universität Gießen
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Xaver Baur
Institut für Arbeitsmedizin
Charité Universitätsmedizin Berlin
Thielallee 69
14195 Berlin

Publication History

eingereicht 27 February 2016

akzeptiert nach Revision 17 March 2016

Publication Date:
11 August 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Der Lungenkrebs zählt zu den häufigsten Krebsarten. Laut jüngsten WHO-Daten gehen nicht weniger als 10 % dieser Erkrankungen auf arbeitsbedingte Einwirkungen von Kanzerogenen zurück. Dabei nimmt Asbest nach wie vor die dominierende Rolle ein. Außerdem sind Quarz und ionisierende Strahlen (Uranbergbau) häufige Krankheitsauslöser. Nur durch die fachärztlich erforderliche eingehende Arbeitsanamnese im Verbund mit einer qualifizierten sicherheitstechnischen Expositionsermittlung lassen sich in diesen Fällen die vielfältigen Krankheitsursachen mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit ermitteln.

Ohne Klärung der Ursächlichkeit kommt es weder zu einer korrekten versicherungsrechtlichen Zuordnung, zur Gewährung von Kompensationsleistungen noch zur ggf. erforderlichen Verbesserung entsprechender Präventionsmaßnahmen.


#

Abstract

Lung cancer is one of the most frequently encountered cancer types. According to the latest WHO data, about 10 % of this disease are due to occupational exposure to cancerogens. Asbestos is still the number one carcinogen. Further frequent causes include quarz and ionizing radiation (uranium mining). Probable causes of the disease can be identified only with the help of detailed occupational history taken by a medical specialist and qualified exposure assessment. Without clarifying the cause of the disease, there is neither a correct insurance procedure nor compensation for the victim, and furthermore, required preventive measures cannot be initiated.


#

Erkrankungen an Lungenkrebs sind nahezu immer der Gruppe der Karzinome zuzuordnen. Sie stellen auch in Deutschland den häufigsten zum Tode führenden bösartigen Tumor des Mannes und den zweithäufigsten zum Tode führenden bösartigen Tumor der Frau dar (im Jahre 2012 34 490 bzw. 18 030 Fälle) [1]. Die Prognose ist ungünstig, denn nach einem Jahr leben noch etwa vier von zehn Erkrankten. Die 5-Jahres-Überlebensrate beträgt dann nur noch 13 % [2].

Aktuelle internationale Schätzungen und Häufigkeit der Berufskrebserkrankungen in Deutschland

Nach kürzlich veröffentlichten WHO-Daten sind nicht weniger als etwa 10 % aller Lungenkrebsfälle des Mannes auf arbeitsbedingte Gefahrstoffstoff-Einwirkungen zurückzuführen [3]. Eine umfassende Literaturübersicht geht sogar von 17 – 29 % aus [4]. Mit 54 – 75 % handelt es sich auch um die dominierende Lokalisation unter allen sog. Berufskrebserkrankungen.

Von den arbeitsbedingten Lungenkrebsfällen wird mindestens jeder zweite durch Asbestfaserstaub verursacht. Die andere Hälfte hat ihre Ursache in einer Reihe weiterer arbeitsbedingt kanzerogener Noxen [5]. Entsprechend finden sich Überhäufigkeiten nicht nur in Berufsgruppen mit offenkundigem Asbestkontakt wie Isolierer, Elektriker, Bauarbeiter, Dachdecker etc. Gleiches gilt auch bei hoher, langjähriger Exposition z. B. gegenüber quarzhaltigen Feinstäuben, Passivrauch, Dieselmotor-Emissionen oder im Uranbergbau, in Aluminiumschmelzereien und Kokereien, in der Kohlevergasung, Eisen-, Stahl- und Gummiindustrie, teilweise auch im Malerberuf [6] [7] [8].

Im deutschen Berufskrankheiten(BK)-System sind die in [Tab. 1] dargestellten Erkrankungen aufgelistet und jeweils mit Nummern aufgeführt. Zum Teil sind Erkrankungen an Lungenkrebs allerdings zusammen mit anderen, durch die jeweilige Noxe ebenfalls bedingten Erkrankungen, in übergeordnete BK-Festlegungen integriert. Dies gilt bei den BK-Nrn. 1103, 1104, 1108, 1110, 1310, 2410.

Tab. 1

Lungenkrebs als Berufskrankheit
Nach § 9 Abs. 1 SGB VII/Anl. BKV
(in Klammern die Anzahl der im Jahre 2013 angezeigten bzw. entschädigten Erkrankungen, soweit bekannt); http://www.baua.de/de/Informationen-fuer-die-Praxis/Statistiken/Berufskrankheiten/pdf/Tabellen-Berufskrankheitengeschehen.pdf?__blob = publicationFile&v=9

1103

Erkrankungen durch Chrom/-Verbindungen

1104

Erkrankungen durch Kadmium und seine Verbindungen

1108

Erkrankungen durch Arsen/-Verbindungen

1110

Erkrankungen durch Beryllium/-Verbindungen

1310

Erkrankungen durch Dioxine

2402

Erkrankungen durch ionisierende Strahlen (71, davon großteils Lungenkrebs)

4104

Lungenkrebs durch Asbest (4079; 794)

4109

Lungenkrebs durch Nickel/-Verbindungen (46; 8)

4110

Lungenkrebs durch Kokereirohgase (38; 6)

4112

Lungenkrebs bei Silikose (231; 40)

4113

Lungenkrebs durch PAK (201; 3)

4114

Lungenkrebs durch Asbest + PAK (142; 24)

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII sind gemäß „Neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ ggf. ebenfalls in Betracht zu ziehen:

Lungenkrebs durch Passivrauchen, Dieselmotoremissionen, Hartmetalle (Wolframcarbid, Kobalt); Lungenkrebs bei Synkanzerogenese, wie z. B. Asbest neben Schweißrauchen, die Nickel und Chrom enthalten.

Nur für den Lungenkrebs infolge Einwirkung von polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) oder Asbest, bzw. bei der Kombination von Asbest plus PAK, wurde vom Verordnungsgeber bisher eine Mindestdosis festgelegt (100 Benzo[a]pyren-Jahre; 25 Asbestfaserjahre). Bei feststellbarer Synkanzerogenese von Asbest plus PAK kommt eine Anerkennung nur ab einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 50 % (abgeleitet aus den jeweils vorliegenden Anteilen an der vorgegebenen Verdopplungsdosis) in Betracht.

Bei der BK Nr. 4104 ist eine Mindestdosis stets dann nicht gefordert, wenn Brückensymptome, wie insbesondere asbestbedingte Pleuraplaques, Asbestose oder der histologische Nachweis einer Minimalasbestose, vorliegen.

Besonders hinzuweisen ist darauf, dass der quarzstaubbedingte Lungenkrebs (BK Nr. 4112) auch die Steinkohlenbergleute mit Silikose oder Siliko-Tuberkulose inkludiert [9].


#

Diagnostische und sozialmedizinische Aspekte

Zwischen der Zahl der ärztlicherseits angezeigten und den letztendlich als BK berufsgenossenschaftlich anerkannten und entschädigten Fällen besteht eine sehr erhebliche Diskrepanz. Sie lässt sich nur teilweise durch fehlende formale Voraussetzungen oder Fehldiagnosen begründen. Nicht selten bestehen infolge unvollständiger und/oder unzureichender Ermittlungen Unsicherheiten in den vor Jahrzehnten tatsächlich erfolgten Belastungen [10]. Auch wurden patho-anatomisch wissenschaftlich nicht begründbare Hürden – wie insbesondere die Forderung einer hohen Asbestkörper- oder Asbestfaserzahl im Lungengewebe – aufgestellt [11] [12]. Dies ist insbesondere für den ganz vorrangig (zu etwa 94 %) verwendeten Weißasbest (Chrysotil) nicht zulässig. Denn gerade diese Asbestart ist wenig biobeständig. Sie weist dadurch das sog. „Fahrerfluchtphänomen“ auf. Entsprechende Hürden gibt es auch für andere Kanzerogene.

Der Goldstandard der Expositionsermittlung ist somit nicht das Biomonitoring der residualen Noxen im Lungengewebe mehrere Jahrzehnte nach deren Einwirkung. Stattdessen führt nur eine qualifizierte und das gesamte Arbeitsleben umfassende, eingehend fachärztlich erhobene Arbeitsanamnese in Kombination mit entsprechend zielgerichteten sicherheitstechnischen Ermittlungen [13] zu zutreffenden Antworten auf die entscheidenden Fragen des Ursachenzusammenhangs.

Verhältnismäßig häufig ist eine Synkanzerogenese des berufsbedingten Lungenkrebses anzunehmen, z. B. infolge gleichzeitiger oder konsekutiver Einwirkung von Asbest, Chrom und Nickel (etwa bei Schweißern oder im Baugewerbe) oder von Radon und Quarz bei Uranbergleuten.

Derartige Mehrfachbelastungen werden erfahrungsgemäß bisher von Seiten der Unfallversicherungsträger, technischen Aufsichtsbeamten, aber auch der ärztlichen Sachverständigen in BK-Verfahren unverständlicherweise kaum oder zumindest nicht umfassend genug berücksichtigt. Deshalb ist hier der ärztliche Sachverständige als Gutachter ebenso wie der den Unfallversicherungsträger beratende Arzt in besonderer Weise gefordert, anhand der qualifiziert erhobenen Arbeitsanamnese zu Lebzeiten solche Lücken aufzudecken.

Infolge der im Mittel mehrere Jahrzehnte betragenden Latenzzeit ist die Identifizierung und Quantifizierung der ursächlichen, beruflichen Noxe(n) gerade bei den an Lungenkrebs Erkrankten nicht selten langwierig und schwierig. Eine Verbesserung der derzeit noch außerordentlich unbefriedigenden Situation bedarf daher nicht nur der Mithilfe und des Einsatzes der berufsgenossenschaftlichen Sicherheitsbeauftragten, sondern besonders auch der fachärztlich tätigen Sachverständigen.

Der bisherige, gebührenrechtliche Zustand, solche fachärztlich stets erforderlichen, qualifizierten und daher nicht wenig Zeit beanspruchenden Arbeitsanamnesen derzeit noch zum Nulltarif erbringen zu müssen, bedarf daher sehr dringend einer Korrektur des berufsgenossenschaftlichen Gebührenrechts.


#

Diskussion und Schlussfolgerungen

In der kassenfachärztlich-kurativen Praxis richtet sich der Fokus bei Verdacht auf eine Krebserkrankung selbstverständlich zunächst auf die erforderliche Diagnostik (s. [Abb. 1]) und anschließend dann auf das therapeutische Procedere. Nicht selten kommt dadurch eine eingehende Abklärung der verschiedenen Kausalfaktoren zu kurz. Dies gilt nicht nur für die häufigen Krebsarten im Bereich der Brustdrüse oder der Prostata. Hierfür sind bisher zumeist keine klaren äußeren Ursachen fassbar. Im Ursachenspektrum der Erkrankungen an Lungenkrebs gerät derzeit meist zu etwa 75 % lediglich das Zigarettenrauchen in den Vordergrund. In der Mehrzahl dieser Erkrankungen fehlen dann aber jeweils sowohl die fachärztliche Arbeitsanamnese als auch die sicherheitstechnisch qualifiziert ergänzende Ermittlung der Krebsgefährdungen an den Arbeitsplätzen.

Zoom Image
Abb. 1 Verdacht auf BK Nr. 4104 oder BK Nr. 4114 [14].

Damit wird aber leicht übersehen, dass auch der rauchende Arbeitnehmer berufskrankheitenrechtlich versichert ist. Es heißt, „er ist so versichert, wie er ist“. Damit sind neben seinen zigarettenbedingten gentoxischen Schädigungen auch arbeitsbedingte kanzerogene Effekte berufskrankheitenrechtlich relevant. Denn für letztere ist dann der Versicherungsschutz nicht generell entfallen. Der deshalb für die Feststellung des arbeitsbedingt teilursächlichen Anteils an der Tumorgenese entscheidend erforderlichen, eingehenden Arbeitsanamnese und Expositionsermittlung im Arbeitsumfeld wird in der Regel nicht die erforderliche Sorgfalt zuteil.

Die resultierende Nichtbeachtung gerade der ggf. vor Jahrzehnten dort einwirkenden o. g. beruflichen, oft stark Lungenkrebs erzeugenden Noxen führt oftmals dann zur Unterlassung der ggf. erforderlichen Anzeige des „begründeten Verdachts auf eine Berufskrankheit“. Die bei einem begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit bestehende unverzügliche Anzeigepflicht von Ärzten/Ärztinnen (§ 202 SGB VII) bleibt unerfüllt.

Diese Tatsache trägt zu der erheblichen Diskrepanz zwischen den aufgrund epidemiologischer Forschungsergebnisse abzuschätzenden Erkrankungen und der offiziellen Berufskrebs-Statistik bei. So wären nach der eingangs zitierten WHO-Veröffentlichung 10 % der jährlich neu diagnostizierten 34 500 Lungenkrebsfälle des Mannes auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen; tatsächlich werden aber weniger als 900 Fälle im Jahr als Berufskrankheit anerkannt (vergleiche auch [Tab. 1]). Ein Underreporting in der gleichen Größenordnung ergibt sich, wenn man die aus internationalen Ermittlungen abgeleitete Relation zwischen früherem Asbestverbrauch und den Lungenkrebszahlen (pro 48 t ein Fall) zugrunde legt. Entsprechendes gilt für das Verhältnis der anerkannten asbestbedingten Lungenkrebsfälle zu den anerkannten Mesotheliomen, dem Signal-Tumor der Asbestexposition (erwartet 3,5 : 1; in Deutschland jedoch 0,8 : 1). Auch nicht asbestbedingte Lungenkrebs-BK-Fälle liegen in Deutschland erheblich unterhalb der Erwartungswerte [5].

Z. T. sind für diese Diskrepanzen aber auch das dem medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand hinterherhinkende Berufskrankheitenrecht und die ebenso diesen Kenntnisstand oft nicht berücksichtigende Rechtsprechung verantwortlich.

Hinsichtlich der oft schwierigen und daher z. T. diskrepanten patho-anatomischen Diagnostik, v. a. bei Vorliegen bestimmter Mesotheliomformen, aber auch einer Asbestose Grad I (Minimalasbestose) oder IV (UIP-Muster) wird die Einrichtung eines Panels erfahrener Pathologen, das solche Fälle erörtert und abschließend beurteilt, empfohlen.

Aus der Nichtbeachtung der beruflichen Ursache solcher Erkrankungen resultiert im Einzelfall eine sozialrechtlich unzutreffende Kostenbelastung der Krankenkassen und entsprechend eine Entlastung der hierfür eigentlich zuständigen Unfallversicherungsträger. Für den Patienten, bzw. seine Angehörigen, voraussehbar sind dadurch dann ggf. finanzielle Nachteile infolge der Nicht-Gewährung der vorteilhafteren BK-Rente, von Übergangsgeld, Hinterbliebenenrenten sowie von weniger eingeschränkten medizinischen und beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen.

Abschließend sei darauf verwiesen, dass – anders als bei Asbest – eine Vielzahl von Humankanzerogenen derzeit noch nicht mit einem vollständigen Einfuhr- und Verwendungsverbot geregelt sind. Für sie entfallen dadurch die hier erforderlichen, erweiterten präventiven Maßnahmen am Arbeitsplatz, um zumindest nachfolgende, weitere Beschäftigte besser vor der Krebsgefährdung am Arbeitsplatz zu schützen.


#
#

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Xaver Baur
Institut für Arbeitsmedizin
Charité Universitätsmedizin Berlin
Thielallee 69
14195 Berlin


Zoom Image
Abb. 1 Verdacht auf BK Nr. 4104 oder BK Nr. 4114 [14].