Aktuelle Urol 2016; 47(03): 181-182
DOI: 10.1055/s-0042-106188
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Keimzelldifferenzierung – Verläuft die postnatale männliche Gametogenese androgenunabhängig?

Rezensent(en):
Judith Lorenz

J Urol 2015;
193: 1361-1367
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Juni 2016 (online)

 

    Etwa 3–6 Monate nach der Geburt kommt es zu einer vorübergehenden, starken Aktivierung der kindlichen hypothalamisch-hypophysären Hormonachse (die sog. „Mini-Pubertät“). Der Anstieg der hypophysären Gonadotropine, so die Vermutung, induziert bei männlichen Säuglingen eine verstärkte testikuläre Androgenproduktion, in deren Folge es zu einer Transformation der primitiven Keimzellen (Gonozyten) zu Stammzellen der Spermatogenese (Spermatogonien Typ A) kommt. Eine australisch-niederländische Arbeitsgruppe ist anhand eines Tiermodells der Frage nachgegangen, inwiefern die frühe postnatale Keimzelldifferenzierung einen androgenabhängigen Prozess darstellt bzw. welche Rolle der Androgenrezeptor hierbei spielt.
    J Urol 2015; 193: 1361–1367

    mit Kommentar

    Die Untersuchungen wurden an männlichen Androgenrezeptor-Knockout–Mäusen (ARKO) durchgeführt, die aufgrund einer vollständigen Androgen-Resistenz einen weiblichen Phänotyp (ein weibliches Genitale sowie nicht deszendierte Hoden) aufweisen, sowie an Mäusen der Wildtyp-Variante. Die testikuläre Gametogenese der Tiere wurde mithilfe immunhistochemischer Nachweisverfahren anhand von Gewebeproben beurteilt, die vor der Geburt am Entwicklungstag 17 (E17), am Tag der Geburt (P0) bzw. 2, 4, 6, 8 und 10 Tage nach der Geburt (P2, P4, P6, P8, P10) entnommen worden waren.

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    2-Phasen-Theorie des Hodendeszensus und Einfluss assoziierter Gene und Hormone. Die Studie von Li und Kollegen stellt die Rolle des Androgenrezeptors in diesem Prozess nun infrage. (Bild: Steffens J, Anheuser P, Schmidt S. Lageveränderungen und Fehlbildungen. In: Krause W, Weidner W, Sperlin H, Diemer T. Andrologie. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011 )

    Die „Mini-Pubertät“ von Mäusen findet üblicherweise 2–6 Tage nach der Geburt statt. Sowohl bei den ARKO- als auch bei den Wildtyp-Mäusen waren in den E17- und in den P0-Gewebeproben die Gonozyten im Zentrum der Samenkanälchen nachweisbar. Diese wanderten innerhalb von 2 Tagen nach der Geburt auf die Basalmembran. Die Anzahl der Keimzellen pro Tubulusquerschnitt nahm zwischen E17 und P2 deutlich ab, um im weiteren Verlauf zwischen P4 und P10 signifikant anzusteigen. Die Gesamtzahl der Keimzellen pro Tubulus sowie die Anzahl der auf der Basalmembran lokalisierten Keimzellen waren in allen Entwicklungsstadien bei den ARKO- und den Wildtyp-Mäusen ähnlich.

    Die Anzahl der Sertoli-Zellen pro Tubulus nahm in beiden Mauspopulationen zwischen E17 und P4 zu und blieb im weiteren Verlauf konstant. Die ersten proliferierenden Keimzellen waren am 2. postpartalen Tag nachweisbar, wogegen proliferierende Sertoli-Zellen in allen Entwicklungsstadien detektierbar waren. Sowohl bei den ARKO- als auch den Wildtyp-Mäusen war der Anteil proliferierender Keimzellen pro Tubulus 4–6 Tage nach der Geburt am größten, um daraufhin bis zum 10. Lebenstag leicht abzunehmen.

    Fazit

    Die Ergebnisse am Mausmodell belegen, so das Fazit der Autoren, dass die Migration der Gonozyten vom Zentrum der Samenkanälchen zur Tubulus-Basalmembran sowie die postpartale Transformation der Keimzellen in A-Spermatogonien nach der Geburt beginnen und unabhängig von einer Androgen-Blockierung bzw. dem Vorhandensein des Androgenrezeptors über einen Zeitraum von 10 Tagen regelrecht ablaufen. Falls diese Ergebnisse an menschlichem Gewebe reproduzierbar sein sollten, so Li et al., dürfe angenommen werden, dass die humane Keimzelldifferenzierung möglicherweise über eine direkte oder indirekte, nicht androgenvermittelte Gonadotropin-Stimulation erfolgt. Diese Erkenntnisse könnten neue hormonelle Therapieoptionen für Jungen mit ausbleibendem Hodendeszensus (Kryptorchismus) eröffnen.

    Kommentar

    Schlüsselfunktion der Androgene zunehmend infrage gestellt

    Sowohl in Metaanalysen als auch in randomisierten Studien wird der Therapieerfolg sowohl von humanem Choriongonadotropin (hCG) als auch von Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH) im Hinblick auf den Deszensus des Hoden gerade einmal mit etwa 20 % angegeben. Zudem liegt die Re-Aszensionsrate im weiteren Verlauf bei 20–25 %. Abgesehen von den möglichen Nebenwirkungen muss die „Hormontherapie“ deshalb zumindest für die Induktion des Hodendeszensus letztendlich als ungeeignet gewertet werden.

    Aber auch im Hinblick auf die Stimulierung der Keimzellreifung und damit die Verbesserung des Fertilitätspotenzials bleiben im Zusammenhang mit der Hormontherapie viele Fragen offen. Li et al. aus der Arbeitsgruppe um John Hutson, die sich bereits seit mehreren Jahren intensiv mit der (Patho-)Physiologie der frühen Geschlechtszellentwicklung beschäftigt, lieferten mit der hier vorliegenden exzellenten tierexperimentellen Arbeit einen weiteren wichtigen Beitrag, der die vermeintlich zentrale Bedeutung der Androgene für die Geschlechtszellentwicklung im Säuglingsalter erheblich infrage stellt.

    Geschlechtszelltransformation und Mini-Pubertät finden zeitgleich statt, haben aber möglicherweise keinen kausalen Zusammenhang

    Sobald die Urgeschlechtszellen (Gonozyten) die Basalmembran des Tubulus erreicht haben (bei Nagetieren zwischen dem 1. und 4. Lebenstag, beim menschlichen Säugling zwischen der 8. und 12. Lebenswoche) beginnt die für die spätere Spermatogenese essentielle Umwandlung in A-Spermatogonien, bzw. zu einem kleineren Teil in Ad-Spermatogonien, die dem späteren adulten Stammzellpool entsprechen. Störungen bei der Migration sowie bei der Transformation können beim Malsdeszensus testis zu einer deutlichen Verringerung bzw. zu einem Verlust der Ad-Spermatogonien führen. Die Tatsache, dass die Geschlechtszell-Migration und -Transformation genau zeitlich mit der „Mini-Pubertät“ und dem damit verbundenen Anstieg der Serum-Gonadotropine und des Testosterons stattfinden, wurde über viele Jahre als Hinweis für einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang gewertet.

    Genau diese Hypothese hinterfragen Li et al., indem sie das immunhistochemisch aufbereitete Hodengewebe von normalen Mäusen mit dem Hodengewebe von Androgenrezeptor-knock-out-Mäusen mittels konfokaler Lasermikroskopie vergleichen. In dem relevanten Zeitfenster unmittelbar vor der Geburt bis zum 10. postpartalen Tag, in dem bei der Maus die Transformation der Geschlechtszellen zeitgleich mit der Mini-Pubertät stattfindet, fanden sie keine Unterschiede zwischen den Knock-out-Mäusen und dem Wildtyp, weder im Hinblick auf den Grad der Migration und Proliferation der Geschlechtszellen noch auf die Anzahl von Sertoli-Zellen und den jeweiligen Geschlechtszelltypen pro Tubulus. Die Autoren kommen so zu dem Schluss, dass Androgene keinen entscheidenden Einfluss auf die Migration und die nachfolgende Transformation der Geschlechtszellen in adulte Stammzellen haben. Diese Ergebnisse sind übereinstimmend mit vorausgegangenen tierexperimentellen Untersuchungen aus den Jahren 2012 und 2013, die darauf hinweisen, dass der Androgenrezeptor weder für die Geschlechtszellmigration noch für die normale Spermatogenese, aber auch für den normalen Deszensus nicht essentiell ist [1–3].

    Bedeutung der Mini-Pubertät umstritten

    Unabhängig davon wird die Bedeutung der Mini-Pubertät für die Geschlechtszellentwicklung im Säuglingsalter auch beim Menschen schon seit längerem hinterfragt. In einer von Bartholdt 2004 veröffentlichten prospektiven Longitudinalstudie wurden während des ersten Lebensjahres Hormonspiegel im Serum und im Urin engmaschig kontrolliert [4]. Dabei fanden sich keinerlei Unterschiede zwischen gesunden Säuglingen und Patienten mit einem Maldeszensus testis.

    Umgekehrt zeigen sowohl sekundär aszendierte Pendelhoden als auch das Hodengewebe bei erworbenem Hodenhochstand (acquired cryptorchidism) keine Unterschiede in der Histologie im Hinblick auf Tubulus- und Basalmembranqualität, Sertoli-Zellen, Leydig-Zellen und differenzierten Geschlechtszellindex, obwohl beide Gruppen eine normale Mini-Pubertät durchlaufen haben [5–7].

    Selbstverständlich können die Ergebnisse aus den Tierversuchen nicht ohne Weiteres auf die Geschlechtszellentwicklung beim Menschen übertragen werden. Nichtsdestotrotz deutet jedoch bereits zum jetzigen Zeitpunkt vieles daraufhin, dass die Androgene keineswegs die entscheidenden Faktoren für die Umwandlung der Gonozyten in die Ad-Spermatogonien sind. Vielmehr scheinen nicht androgene Faktoren wie Inhibin B und Anti-Müller-Faktor – wahrscheinlich von den Sertoli-Zellen ausgehend – diese Umwandlung zu initiieren und zu steuern [8].

    Fazit

    Zur Induktion des Deszensus hat sich die Hormontherapie inzwischen als ungeeignet erwiesen. Inwieweit sie tatsächlich einen positiven Einfluss auf die langfristige Geschlechtszellentwicklung hat, wenn sie im Laufe des Säuglingsalters als neoadjuvante Therapie eingesetzt wird, bleibt bis auf Weiteres unklar. Speziell hCG sollte aber aufgrund der unkalkulierbaren Nebenwirkungen zur Behandlung des Hodenhochstands nicht mehr angewendet werden.

    Auch die Indikation zur GnRH-Therapie (Kryptocur®) sollte zurückhaltend gestellt werden und nur nach ausführlicher Aufklärung der Eltern über Nutzen und Risiken. Eine Anwendung nach dem 12. Lebensmonat sollte aufgrund der dann höheren Nebenwirkungen in jedem Fall vermieden werden.

    Nach dem aktuellen Erkenntnisstand bleibt die Standard-Orchidopexie im Alter um den 12. Lebensmonat der Goldstandard in der Behandlung des Malsdeszensus testis.

    Prof. Dr. Wolfgang Rösch, Regensburg

    Literatur beim Verfasser


    Prof. Dr. Wolfgang Rösch


    ist Chefarzt der Klinik für Kinderurologie in Kooperation mit der Universität Regensburg, Klinik St. Hedwig

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    2-Phasen-Theorie des Hodendeszensus und Einfluss assoziierter Gene und Hormone. Die Studie von Li und Kollegen stellt die Rolle des Androgenrezeptors in diesem Prozess nun infrage. (Bild: Steffens J, Anheuser P, Schmidt S. Lageveränderungen und Fehlbildungen. In: Krause W, Weidner W, Sperlin H, Diemer T. Andrologie. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2011 )