Aktuelle Dermatologie 2016; 42(06): 252-253
DOI: 10.1055/s-0042-106658
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von Siedlern und Migranten[*]

About Settlers and Migrants
E. G. Jung
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Korrespondenzadresse

Prof. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg

Publication History

Publication Date:
10 June 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Die allgemeinen Probleme, die beim Aufeinandertreffen von Siedlern und Migranten seit jeher entstanden, die Konflikte und die Rituale der Begegnung, werden herausgestellt und mit ähnlichen Phänomenen im Mikrobiom unserer Haut verglichen.


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Abstract

The general problems of settlers and migrants, there conflicts, the merging arrangements and helpful rituals are focussed and compared with similar phenomenons in the microbiom skin.


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Seit die Menschen unsere Erde in Zügen und Wellen besiedeln, spielen Siedler und Migranten die entscheidenden Rollen in der Sozialgeschichte der Anthropologie der letzten 2 Millionen Jahre. Dabei spielt unsere Haut eine wesentliche Rolle. Sie ist das Organ zur Trennung von außen und innen. Sie ist es, welche die Begegnung mit und die Abgrenzung von unserer Umwelt zu leisten hat. Unsere Haut ist zudem auch Lebensraum für eine Vielzahl von Organismen, die ihrerseits entweder Siedler, Migranten oder gar Schlepper sind, manchmal sogar einiges zusammen. Die Mechanismen sind im Großen und Kleinen vergleichbar. Dem wollen wir nachgehen.

Die Verteilung und Vermischung durchzieht schon den gesamten Zeitraum von 3,4 Milliarden Jahren der Entwicklungsgeschichte der Biosphäre Erde. Zunächst wurde der Lebensraum Meer erschlossen. Die Lebewesen waren Migranten, wobei sich schon räumliche Zuordnungen und Anreicherungen ausbildeten und sich erste Standorte abzeichneten. Vor 400 Millionen Jahren wurde der Lebensraum Erdoberfläche, dann das Erdinnere und der Luftraum erschlossen. Dabei spielen Migration und bevorzugte Lokalisationen wesentliche Rollen; Standorte werden ausgebildet. Zu dieser Differenzierung spielen das Klima und auch die Verfügbarkeit von Nahrung maßgeblich mit.

In der Menschheitsgeschichte durchziehen Siedlung und Migration alle Ursprungsmythen, so auch unsere Bibel. In Genesis 3,4 erschlägt der Ackerbauer und Siedler Kain seinen Bruder Abel, den nomadischen Schäfer, und leitet dadurch gleichsam die Siedlungs- und Stadtentwicklung ein.

Wenig später ist Gott über die Unart der von ihm geschaffenen Menschen so erzürnt, dass er jegliche Kreatur in der Sündflut ertränken will. Dies misslingt infolge eines Gnadenaktes an Noah mit seiner Arche. Die Menschheit und die Tierwelt überleben und sie entwickeln sich aufs Neue. Im neuen Bund verpflichtet sich Gott, auf immer von der Vernichtung abzusehen (Genesis 6 – 9). Ihm reichen zur Regulierung der „entfesselten Menschheit“ als korrektive Elemente die wilden Tiere, die Seuchen und die Naturkatastrophen.

Die wilden Tiere stellen kein Problem mehr dar, Infektionen und Seuchen jedoch allemal, wenn auch in gewandelter Form. Gegen die Hungersnot durch Verknappung der Nahrung etablierte Joseph in Ägypten (Genesis 37 – 50) mit der Vorratshaltung ein wirksames Modell. Aber Klimakatastrophen endogener und exogener Art drohen nach wie vor.

Betrachten wir uns und im Speziellen unsere Haut als einen beliebten und gerne genutzten Lebensraum, so muss man sich vergegenwärtigen, dass jeder Mensch ein breites Spektrum an Lebewesen, ein vielfältiges Mikrobiom, auf und in sich trägt. Durchschnittlich ist jeder Mensch aus ca. 3 × 1013 menschlichen Zellen zusammengesetzt. Diesen stehen ca. 1,3-mal mehr bakterielle Zellen gegenüber (Cell 164: 337 – 340; 2016). Sie sind, neben dem Magen-Darm-Trakt, vorwiegend auf oder in der Haut zu Hause.

Das Mikrobiom der Haut

Unsere Haut wird seit der Geburt von Mikroorganismen besiedelt, zumeist Bakterien der verschiedensten Arten. Sogar anaerobe Keime besetzten die Nischen in den Talgdrüsen und den Faltenregionen. Diese Besiedelung ist obligat und trägt zur komplexen Oberflächenbeschaffenheit unserer Haut wesentlich bei. So schult und stimuliert die „Hautflora“ unsere periphere Immunabwehr und sie dient auch als „Platzhalter“ gegen aggressive Fremdkeime. Bakterien vermögen sich sehr rasch durch Auslese resistenter Varianten an geänderte Bedingungen ihrer Umwelt anzupassen. So entwickeln sie Resistenzen gegen Medikamente.

Unsere Haut ist zudem ständig und großflächig von zunächst harmlosen humanen Papilloma-Viren (HPV) besetzt, die uns, den Wirt, kaum stören. Eine Symbiose möglicherweise, doch sind unsere Vorteile nicht ersichtlich, Risiken aber wohl. Bei Störungen der peripheren Immunabwehr oder bei Verletzungen können einzelne der über hundert Stämme lokal zu gutartigen, aber sehr störenden Warzen auswuchern, und andere, maliziöse, sogar zu bösartigen Plattenepithel-Karzinomen mit Metastasen entarten. Neuerding kann eine Impfung davor schützen.

Etwas anders verhalten wir uns gegenüber den Pilzen (Mykosen), die ursprünglich geophil, also im Erdboden beheimatet sind. Sie haben sich auf epidermale Keratine und solche in Haaren und Nägeln der Säugetiere spezialisiert. In differenzierter Koevolution haben sich spezielle Stämme auf Hunden oder Katzen entwickelt. Diese gedeihen aber immer noch auch auf uns Menschen, wo sie beim Durchwachsen der Epidermis eine entzündliche Abwehrreaktion erwartet. Wir aber werden durch deren Rötung und den Juckreiz alarmiert.

Läuse und Flöhe haben sich ebenfalls mit den Säugern differenziert, jedoch nicht sehr spezifisch. So suchen und finden doch regelmäßig bei tierischem Wirtemangel auch diverse Tierflöhe ihre Blutsnahrung am Menschen. Anderseits haben sich die Läuse des Menschen noch weiter und sogar nach der Lokalisation spezialisiert, die Kopfläuse einerseits und die Filzläuse in der Genitalbehaarung anderseits. Besonders interessant sind die Kleiderläuse, die sich ja wohl erst herausdifferenziert haben können, seit unsere Vorfahren Kleider zu tragen begannen.

Deutlich spezifischer gestaltet sich die Koevolution bei den Krätzmilben, die sich bei den Primaten in großer Vielfalt eingenistet haben. Jede Art hat ihre mitentwickelte Milbenart, auch der Mensch. Diese aber sind artspezifisch und treten nicht mehr gekreuzt auf.

Der Mensch ist also bei Viren, Pilzen und Parasiten zunächst Nebenwirt und erhält im Laufe der Zeit, sowohl durch Expansion der Aggressoren als auch durch deren Anpassung, im Zuge der Koevolution zuweilen die Rolle eines Hauptwirtes.

Uns Menschen ist im Laufe der Zeit auf und in der Haut und deren Anhangsgebilden ein spezielles Mikrobiom zugewachsen mit obligaten und fakultativen Gästen. Diese verhalten sich phasenweise aggressiv und provozieren unsere Abwehr mit vielfältigen Reaktionsmustern – Hautkrankheiten eben.


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Bedeutung von Schleppern

Die Haut ist aber nicht nur Siedlungsfläche für permanente und Gelegenheitsgäste, und zuweilen gar Schlachtfeld, sondern auch Durchgangsorgan. So wurde schon im Mittelalter erkannt, dass die Pest-Yersinien durch Flohbisse von Ratten und Mäusen in die Haut der Menschen übertragen werden. Und die Bettwanzen sind nicht besser. Solches gilt auch für viele Tropenkrankheiten. Die tropische Schlafkrankheit wird durch den Biss der Tsetsefliege übertragen und die Malaria durch die Stechmücke Anopheles. Gegenwärtig ist die Tiegermücke im Gerede zur Übertragung von Denguefieber und Zikaviren. Die Liste wird immer länger.

Die heimische Borreliose wird durch den Zeckenstich vom Holzbock auf den Menschen übertragen und bewirkt eine generalisierte Krankheit mit deutlichen Früherscheinungen an der Haut. Auch die Zerkariendermatitis wird durch die Trematoden-Larven von Enten über Wasserschnecken beim Schwimmen im sommerwarmen Wasser auf der Haut des Schwimmers ausgelöst.

Es sind dies einige klassische Beispiele, wie Infektionskrankheiten von Tieren durch Träger-Lebewesen auf den Menschen als Nebenwirt übertragen werden.

Man bezeichnet diese neutral als Vektoren, eigentlich sind es aber wahrhaftige Schlepper im übelsten Sinn.


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Ausblick

Zurück zu unserer Schöpfungsgeschichte. In der Bibel steht unter Genesis 1,28 der göttliche Auftrag an den Menschen klar formuliert: „... seid fruchtbar und mehret euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan.“ Offensichtlich folgte aber jedwelche Kreatur demselben Prinzip und expandiert weltweit, allumfassend und Nischen füllend. Unsere Vorfahren haben dank der rassischen Segregation die Pol-nahen Kaltgebiete sowie die heißen Äquatorialbereiche bevölkert. Denn hellhäutige Stämme sind noch mit geringem Sonnenlicht in der Lage in ihrer Haut ausreichend Vitamin D zu produzieren, während in den Heißgebieten ein hauteigener Lichtschutz durch das blau-schwarze Pigment Melanin lebensnotwendig ist. Ein fast kontinuierliches Wandern und Ziehen in Wellen und Zügen war die Folge. Neuland wurde besiedelt, kultiviert und bebaut. Mit der aufgetragenen Mehrung begegnen sich Siedler und Migranten immer öfters. Dies geschah in jeder denkbaren Art und Weise, Krieg miteingeschlossen. Eine Begegnungskultur entstand mit Verständigung, Vertrauensbeweisen und einer Vielzahl von Ritualen. Aber die elementaren Gegensätze von Siedlern und Migranten bleiben, bis jetzt, und sie erscheinen heute in besonders ausgeprägter und archaisch anmutender Form. Migrant und Siedler, Freund und Feind, Gast und Gastgeber sind uralte und gleichzeitig hochaktuelle Begriffe, einst wie jetzt. Begegnung, das Aufeinanderprallen der Gegensätze, Konflikt oder Vermischung aber sind generelle Geschehen und folgen allgemeinen Prinzipien. Dies zeigt sich in der Anthropologie, in der Praxis der Sozialisierung, in der zwischenmenschlichen Gedanken- und Handlungswelt, aber auch in der Biologie auf jeder Stufe und, für uns Dermatologen, ganz speziell auch in und auf der Haut, der gesunden und der erkrankten.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Meinem Freund, Kollegen und Weggefährten Prof. Constantin E. Orfanos, sesshaft gewordene Migranten wir beide, in herzlicher Zuneigung zu seinem 80. Geburtstag am 28. Juni 2016 gewidmet.



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