Key words
upward patella fixation - horse - acupuncture - Ni 6 - Bl 62
Einleitung
In der Pferdepraxis sieht man sich häufig mit der habituellen Patellafixation des
Pferdes konfrontiert. Die Invasivität der konventionellen Behandlungsmethoden scheint
dabei nicht in Relation zu ihrem Erfolg zu stehen. Deshalb wurde untersucht, wie erfolgreich
eine standardisierte Behandlung mit Akupunktur ist.
Anatomie
Die Patella bildet mit dem medialen und lateralen Rollkamm des Femurs das Kniescheibengelenk
(Art. femoropatellaris). Simultan mit der Bewegung des Kniekehlgelenkes (Art. femorotibialis)
erfolgt in diesem Schlittengelenk eine Gleitbewegung der Patella zwischen den beiden
Trochleae des Femur.
Für den Mechanismus der Patellafixation sind die drei Kniescheibenbänder von entscheidender
Bedeutung. Dabei handelt es sich um das mediale, mittlere und laterale Kniescheibenband
(Ligg. patellae medialis, intermedius und lateralis).
Die Kniescheibe ist als Sesambein in den M. quadriceps femoris einbezogen. Dabei bildet
die Endsehne seines mittleren Muskelbauches (M. rectus femoris) das mittlere Kniescheibenband.
Der Vastus lateralis des M. quadriceps femoris endet im lateralen Kniescheibenband
und der Vastus medialis entsprechend im medialen Kniescheibenband. Diese drei Kniescheibenbänder
sind etwa auf gleicher Höhe an der Patella verankert. Dabei findet das mediale Kniescheibenband
seinen Ursprung am Fibrocartilago parapatellaris medialis, dem knorpeligen Fortsatz
an der medialen Seite der Patella.
Diese Bänder verlaufen konvergierend zur Tibia. Das mediale Kniescheibenband endet
auf der Tuberositas tibiae, das mittlere im Sulcus tuberositas tibiae und das laterale
inseriert am Margo cranialis der Tibia [5] ([Abb. 1]).
Abb. 1 Patellabänder beim Pferd.
Als laterale Oberschenkelmuskulatur nehmen der M. tensor fasciae latae, der Vastus
lateralis des M. quadriceps femoris und der M. biceps femoris Einfluss auf das Femoropatellargelenk
und inserieren alle in das laterale Kniescheibenband. Diese Muskelgruppe übt also
einen Zug nach proximolateral auf die Kniescheibe aus. Als Gegenspieler nehmen auf
der medialen Seite der M. sartorius, der M. gracilis, der Vastus medialis des M. quadriceps
femoris und der M. semimembranosus Verbindung mit dem medialen Kniescheibenband auf
und ziehen die Patella nach proximomedial [5].
Physiologie des Patellarmechanismus
Das mittlere Kniescheibenband, der Fibrocartilago parapatellaris medialis und das
mediale Kniescheibenband bilden eine Schlaufe, die sich am medialen Rollkamm des Femurs
einhaken kann. Dadurch ist die Patella fixiert und das Kniegelenk in Streckstellung
arretiert. Durch die Spannsägenkonstruktion ist nun nicht nur das Knie-, sondern auch
das Sprunggelenk versteift, und das Pferd kann so nahezu ohne Aufwand von aktiver
Muskelkraft stehen.
Zur Fixation der Patella wird sie durch Kontraktion des M. rectus femoris nach proximal
gezogen und durch Zug der medialen Oberschenkelmuskulatur (s. o.) leicht nach medial
rotiert und hakt sich so auf den Trochanter medialis. Daher wird dieser Mechanismus
auch als proximale Patellafixation bezeichnet.
Der Patellarmechanismus wird aufgelöst durch die Kontraktion des M. rectus femoris.
Dieser zieht die Patella wieder nach proximal, und der Zug der lateralen Oberschenkelmuskulatur
(s. o.) hakt die Patella nach lateral wieder aus.
Für das „Einhaken“ ist also die mediale und für das „Aushaken“ die laterale Oberschenkelmuskulatur
verantwortlich [6], [7].
Pathologie des Patellarmechanismus
Im Zustand der akuten Patellafixation bleibt die Kniescheibe auf dem medialen Rollkamm
des Oberschenkels fixiert und Knie- und Sprunggelenk können nicht gebeugt werden.
Das in Streckung fixierte Bein wird im Fesselgelenk oft in Flexionsstellung gehalten,
sodass die Hufspitze über den Boden streift. Dieser Zustand kann über mehrere Tage,
wenige Stunden (permanente Patellafixation) oder in der Bewegung nur sehr kurz (habituelle
Patellafixation) auftreten. Er löst sich oft von selbst, um in unterschiedlichen Abständen
von wenigen Schritten oder mehreren Tagen wieder aufzutreten. Bei der chronischen
Form tritt eine habituelle oder permanente Patellafixation wiederholt auf.
Die Therapie bei einer akuten permanenten Patellafixation besteht im Rückwärts- oder
Seitwärtsrichten des Pferdes, wobei die Patella mit der Hand nach lateroproximal oder
mediodistal gedrückt wird. Die zwangsweise Bewegung eines Pferdes mit akuter Patellafixation
kann zu einer Abrissfraktur der Tuberositas tibiae führen und sollte vermieden werden
[7].
Diese proximale Patellafixation ist zu differenzieren von Patellaluxationen nach lateral
oder seltener nach medial oder distal, die jedoch zu völlig anderen Symptomen führen.
Die konventionelle Therapie der chronisch-rezidivierenden Patellafixation besteht
in der Desmotomie des medialen Kniescheibenbandes, um ein Einhaken zu verhindern.
Ebenfalls werden Injektionen von Irritantia an das mediale Kniescheibenband durchgeführt,
um es in der nachfolgenden Entzündung zu verkürzen. Beide Methoden sind nicht nur
invasiv und schmerzhaft, sondern auch mit einer hohen Rezidivrate behaftet. Zudem
treten mehrere Monate nach der Desmotomie des medialen Kniescheibenbandes häufig Knorpelläsionen
und Frakturen an der distalen Patella auf [8]. Deshalb erscheinen dem Autor die konventionellen Therapien unbefriedigend. Um die
Therapie durch Akupunktur verständlicher zu machen, soll kurz auf die biomechanische
Ätiologie eingegangen werden.
Pferde mit sehr geradem Hinterbein sind prädisponiert für die habituelle Patellafixation.
Aber auch bei Pferden ohne Prädisposition tritt diese Erkrankung auf, wenn die Muskulatur
entweder gerade stark abgebaut oder stark aufgebaut wird. In voll auftrainiertem oder
voll abtrainiertem Zustand der Oberschenkelmuskulatur bessert sich die Symptomatik
meist. Neuere Studien lassen darauf schließen, dass die habituelle Patellafixation
durch eine Imbalance der Kräfteverhältnisse der inneren und äußeren Oberschenkelmuskulatur
entsteht. Schuurman et.al. sprechen sogar von einer Überaktivität des Vastus medialis
des M. quadriceps femoralis als Ursache der Patellafixation [6]. Da die innere Oberschenkelmuskulatur für das „Einhaken“ verantwortlich ist, ist
diese relativ zu stark und die äußere Oberschenkelmuskulatur zum „Aushaken“ relativ
zu schwach.
So wäre es denkbar, dass sich in der Phase des Abtrainierens die äußere Muskulatur
mit ihrer größeren Muskelmasse verhältnismäßig schneller abbaut als die innere. Ist
diese Phase abgeschlossen, stehen die Kräfteverhältnisse wieder in richtiger Relation
und die Symptomatik bessert sich.
Wird das Pferd auftrainiert, tritt der umgekehrte Effekt ein: bis die kräftige äußere
Oberschenkelmuskulatur ihr volles Maß erreicht hat, sind die vergleichsweise kleineren
Muskeln der inneren Oberschenkelmuskulatur schon ausgebildet.
Diese Imbalance der inneren und äußeren Oberschenkelmuskulatur eröffnet die Möglichkeit,
diese Erkrankung mit Akupunktur über das Yin- und Yang-Schreitgefäß (Yinqiaomai und
Yangqiaomai) zu behandeln.
Das Yin- und Yang-Schreitgefäß (Yinqiaomai und Yangqiaomai)
Diese beiden Sondermeridiane kontrollieren den Muskeltonus der Beine und stehen in
regem Austausch und enger Verbindung zueinander. Sie werden in der Humanmedizin eingesetzt,
„um die Spannung der Beinmuskeln der inneren und äußeren Seite auszugleichen“ [4].
Das Yin-Schreitgefäß oder auch Yin-Fersengefäß entspringt an der Innenseite der Ferse,
steigt an der Innenseite des Oberschenkels zu den Genitalien und verläuft durch Abdomen
und Thorax des Pferdes bis zum inneren Augenwinkel. Dieser Meridian wird mit Niere
6 (Ni 6) geöffnet. Ni 6 befindet sich distal des Malleolus medialis der Tibia. Dieser
Punkt ist nicht nur der Öffner des Yin-Schreitgefäßes, sondern ist auch Mittel der
Wahl, um das Nieren-Yin zu stärken [2], [4] ([Abb. 2]).
Abb. 2 Akupunktur des Ni 6.
Das Yang-Schreitgefäß (Yang-Fersengefäß) zieht als Ausläufer des Blasenmeridians von
der Außenseite der Ferse über den äußeren Oberschenkel und seitlich am Rumpf bis zum
inneren Augenwinkel und von dort bis Gallenblase 20. Der Öffnungspunkt dieses Meridians
ist Blase 62 (Bl 62). Bl 62 befindet sich distal des Malleolus lateralis der Tibia
und damit direkt gegenüber von Ni 6 ([Abb. 3]). Seine vorrangige Wirkung bezieht sich auf die Öffnung des Yang-Schreitgefäßes.
Abb. 3 Akupunktur des Bl 62.
Material und Methoden
Über einen Zeitraum von 14 Monaten wurden 18 Pferde mit einer habituellen Patellafixation
mit Akupunktur der Öffnungspunkte des Yin- und Yang-Schreitgefäßes behandelt ([Abb. 2] und [3]).
Die Pferde waren zwischen 2 und 23 Jahren alt, es handelte sich um 11 Stuten und 8
Wallache. Die Patienten gliederten sich auf in 1 Shetlandpony, 2 Isländer und 15 Warmblüter.
Als Voraussetzung in diese Gruppe aufgenommen zu werden, mussten die Pferde lahmfrei
sein und nach Angaben der Besitzer mehrmals wöchentlich eine habituelle oder permanente
Patellafixation zeigen.
Nach abgeschlossener Lahmheitsuntersuchung erfolgte der Untersuchungsgang zur Akupunktur.
17 der 18 Patienten zeigten hierbei einen palpationsdolenten Ba Shen. Dieser Punkt
war uni- oder bilateral schmerzhaft. Ba Shen entspricht dem Punkt Blase 54 und liegt
in einer Muskeldelle in der Mitte einer Linie von Bai Hui (Spatium lumbosacrale) und
dem Trochanter major femoris. Dieser diagnostische Punkt deutet auf Schmerzen und
Verspannungen der Hinterhand. Andere Ergebnisse des Untersuchungsganges stimmten nicht
überein und zeigten auch keinen signifikanten Zusammenhang.
Die Pferde wurden beidseits zunächst am Bl 62 und anschließend beidseits am Ni 6 genadelt.
Es wurden Akupunkturnadeln der Größe 0,2 × 15 mm senkrecht eingestochen. Am Ende der
einsetzenden Entspannung der Pferde oder bei beginnender Unruhe, wurden die Nadeln
in umgekehrter Reihenfolge wieder gezogen. Die Verweildauer der Nadeln betrug zwischen
5 und 10 Minuten.
Ergebnisse
Nach 14 Tagen wurden die Patienten wieder vorgestellt. Nach Angaben der Besitzer war
die Patellafixation bei 15 Pferden schon am Tag nach der Behandlung nicht mehr aufgetreten,
zwei Pferde zeigten innerhalb der ersten Woche zunächst nur eine Besserung der Symptomatik
und waren erst in der zweiten Woche nach der Behandlung asymptomatisch. Bei allen
Pferden war der Ba Shen nun ohne Schmerzhaftigkeit. Diese Pferde wurden nur ein einziges
Mal behandelt. Ein Isländerwallach zeigte eine von der Behandlung nicht beeinflusste
Symptomatik und litt auch nach mehrmaliger, identischer Behandlung noch unter mehrfach
wöchentlich auftretenden habituellen Patellafixationen.
Bei 13 Pferden trat innerhalb von 10 Monaten kein Rezidiv auf. 3 Pferde zeigten 6
bis 12 Monate später eine erneut auftretende habituelle Patellafixation und wurden
noch einmal auf gleiche Weise erfolgreich behandelt. Ein Pferd wurde verkauft und
konnte deshalb nach 10 Monaten nicht nachuntersucht werden.
Diskussion
Eine Imbalance des Muskeltonus der äußeren zur inneren Oberschenkelmuskulatur als
Ursache der Patellafixation wurde schon in 2009 in Bad Wildungen von Thomas Kreis
geäußert. Seine Arbeitsgruppe behandelt diese Erkrankung erfolgreich mit einer Injektion
eines Lokalanästhetikums in den Ba Shen.
Diese Hypothese der Imbalance wird von den anatomischen Grundlagen und der Biomechanik
der Patella sowie Studien wie die von Schuurman et.al. [6] gestützt.
Die Behandlung der habituellen Patellafixation über das Yin- und Yang-Schreitgefäß
bietet sich also theoretisch an, hat praktisch guten Erfolg und könnte in einigen
Fällen für Patient und Tierarzt risikoärmer sein als die Injektion in den Ba Shen.
Zu Beginn der Versuchsphase dieser Methode wurde eine 15-jährige Patientin sowohl
mit Bl 62 und Ni 6 beidseits als auch mit einer Nadelung des Ba Shen auf der schlechteren
Seite behandelt. Es trat eine deutliche Verschlechterung der Symptome auf, die schließlich
mit einer erneuten Behandlung nach 14 Tagen von Bl 62 und Ni 6 ohne Ba Shen wieder
verschwand. Eine eindeutige Entscheidung zwischen den beiden Methoden scheint also
ratsam.
Alle Patienten zeigten im Untersuchungsgang zur Akupunktur die unterschiedlichsten
Befunde. Nur aus Rücksicht auf möglichst repräsentative Ergebnisse dieser Versuchsreihe
wurde darauf verzichtet, diese Befunde vorher oder simultan mit zu behandeln. Das
Yin- und Yang-Schreitgefäß haben keinen diagnostischen Punkt und werden daher symptombezogen
angewendet [4]. Auf die Nadelung der Kopplungspunkte Lu 7 und Dü 3 wurde verzichtet.
Ein erhöhter Muskeltonus der Innenseite ist Symptom einer Fülle des Yin qiao mai.
Als Therapie wird das Öffnen des Yang qiao mai empfohlen [2]. Es wäre Inhalt einer weiteren Untersuchung, ob das alleinige Stechen von Bl 62
schon ausreichend wäre, diesen guten Erfolg bei der Therapie der habituellen Patellafixation
zu erreichen.