Zwangsunterbringungen gefährden die therapeutische Beziehung, Compliance sowie das
Image der Psychiatrie und können mit Traumatisierung, Stigmatisierung und Folgestörungen
von Patienten verbunden sein. Sie sind deshalb auf das unmittelbar zur Abwendung krankheitsbedingter
Selbst- und Fremdgefährdung notwendige Maß zu reduzieren. In einer Zeit, in der annähernd
50 % der Allgemeinbevölkerung unter psychiatrischen Erkrankungen leidet, scheint es
wichtig für die psychiatrische Versorgung, einzelne gefährdete Patienten zu erkennen
und ihnen Sicherheit und Therapie zukommen zu lassen und gleichzeitig nicht die Masse
der Patienten aus den Augen zu verlieren, die durch ebendiese Sicherheitsmaßnahmen,
wenn sie zu pauschal angewendet werden, vor einer Behandlung in der Psychiatrie zurückschreckt.
Es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien über den Nutzen und Schaden von
der jeweiligen Unterbringungspraxis, Gesetzgebung sowie durchgeführten Zwangsmaßnahmen
[1], entsprechend variiert deren Anwendung zwischen Stationen, Behandlungsteams und
Ländern erheblich [2]
[3]. Im europaweiten Vergleich trat in Österreich die Mehrzahl der gerichtlich untergebrachten
Patienten auf offenen Stationen ein, in der Slowakei wurde die Mehrzahl der freiwillig
eintretenden Patienten auf geschlossenen Stationen behandelt [4]. Die Behandlungspraxis bzw. der Freiheitsgrad der Patienten ist mit dem gerichtlichen
Unterbringungsstatus nicht zwangsläufig konform [4]. Dass eine „offene Türpolitik“ in der Psychiatrie Zwangsmaßnahmen reduzieren kann,
ist in den Leitlinien der DGPPN und einem Statement der zentralen Ethikkommission
der Bundesärztekammer formuliert worden und mehrfach beschrieben [5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]. In einer aktuellen Arbeit zeigt sich bei ca. 350 000 untersuchten Fällen, dass
Komplikationen wie Suizide, Entweichungen und Gewalt in offen geführten psychiatrischen
Versorgungskliniken nicht häufiger vorkommen, d. h., dass diese durch Türschließungen
nicht verhindert werden können [11]. In den offenen Kliniken scheint jedoch mit weniger Zwangsmaßnahmen ein höherer
Anteil von Patienten medikamentös erreicht und behandelt zu werden [11].
Allgemein findet sich auf geschlossenen im Vergleich zu offenen Stationen häufiger
ein hohes Aggressionsniveau, mehr Zwangsmaßnahmen, ein bedrohliches Stationsklima,
rigide Stationsregeln, weniger Mitsprache über das Behandlungsprozedere, ein geringer
Einbezug der Patienten, eine geringe Compliance, ein geringes therapeutisches (v. a.
psychotherapeutisches) Angebot und eine geringe emotionale Ansprechbarkeit der Bezugspersonen
[7]
[8]
[10]
[12].
Diese qualitativen Behandlungsunterschiede, die sich auf Zwangsmaßnahmen auswirken,
lassen sich in einigen Untersuchungen auf ein anderes Klientel der behandelten Patienten
zurückführen und können nicht alleine auf den mechanischen Zustand der geöffneten
oder geschlossenen Tür zurückgeführt werden, bzw. auf die Situation, dass geschlossene
Türen durch personelle Präsenz im Eingangsbereich ersetzt werden. Komplexe Mechanismen
führen aber zu einer veränderten Therapieatmosphäre wenn Stationen geschlossen sind
[10]. Die Verbindung aus geöffneter Tür und Reduktion von Zwang wird entsprechend kaum
durch randomisiert-kontrolliert verblindetes Öffnen und Schließen der Eingangstür
von psychiatrischen Kliniken zu untersuchen sein, weil verschiedenste Behandlungsaspekte
und Mechanismen geändert werden müssen, um überhaupt Türen verantwortungsvoll in einer
Klinik mit Regelversorgung öffnen zu können. Diese Veränderungen haben dann wiederum
Auswirkungen auf die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen. In diesem Editorial möchten wir
versuchen, einige dieser Aspekte zu beleuchten, wie offene Türen in der Regelversorgung
indirekt Zwang, qualitative Behandlungsaspekte und atmosphärische Aspekte beeinflussen
könnten. Ausgehend von Erfahrungen an der Berliner Charité wurde ein Projekt der Türöffnung
auch in Basel initiiert [10]. In den Universitären Kliniken in Basel (UPK) wurden Patienten initial (2012) auf
4 geschlossenen Stationen (2 Stationen mit Suchtschwerpunkt, 2 Stationen Allgemeinpsychiatrie)
aufgenommen, 6 Stationen waren durchgehend geöffnet und übernahmen oder verlegten
Patienten von/auf die geschlossenen Stationen. Ausgenommen von dem Öffnungsprojekt
war die Alterspsychiatrie (2 Stationen), die geschlossen blieb und die Privatklinik
(2 Stationen), die immer offen war [9]
[10]. Bis 2012/2013 wurden 2 der 4 Stationen geöffnet, 2 weitere öffnen seit 2014/2015
fakultativ mit einem steigenden, hohen Anteil von ca. 80 – 90 % der Zeit.
Die Konzentration von Akutpatienten und Crowding erhöht Zwangsmaßnahmen
Die Konzentration von Akutpatienten und Crowding erhöht Zwangsmaßnahmen
Die wichtigste Voraussetzung für die Öffnung einer Klinik ist die Verteilung von Akutpatienten,
damit der Kontakt mit den einzelnen Patienten, die neu eintreten und/oder eigen- und/oder
fremdgefährdend sind, intensiviert werden kann. Steigt die Konzentration von Neuaufnahmen
und untergebrachten Patienten dagegen auf einer Station an, reduziert sich indirekt
der Personalschlüssel und Kontakte sind nicht mehr engmaschig möglich.
In den UPK Basel wurde im Zuge der Öffnung der 4 ehemals geschlossenen Stationen korrespondierend
die Liegedauer dieser Akutstationen verlängert und die Aufnahme von Patienten erfolgte
vorrangig auf den bestehenden 6 offenen Stationen. Entsprechend wurden Überbelegungen
auf den ehemals geschlossenen Stationen abgebaut, die Verlegungen (beispielsweise
wegen Suizidalität oder um auf der Aufnahmestation Platz zu schaffen) wurden gestoppt,
und damit die Patienten so verteilt, dass es nicht zu einem Crowding von Schwerkranken kommen konnte.
Faktoren wie eine niedrige Bettenmessziffer, die Überbelegung psychiatrischer Stationen
oder eine Konzentration von Akutpatienten auf einer Station erhöhen die Zahl gewalttätiger
Übergriffe und erfordern in der Folge vermehrt Zwangsmaßnahmen [6]
[7]
[13]
[14]
[15]. In einem Review über Prädiktoren von Gewalt und korrespondierenden Zwangsmaßnahmen
war Crowding einer der 3 wichtigsten Faktoren, der Aggressionen und damit konsekutiv Zwangsmaßnahmen
auslöst [14]
[15]. Ein „Umschiffen“ der geschlossenen Akutstation durch eine offene Kriseninterventionsstation
kann entsprechend zu einer Reduktion von Zwangsmaßnahmen und weiteren Komplikationen
führen [16].
Einbezug von Patienten in die Therapie senken Zwangsmaßnahmen
Einbezug von Patienten in die Therapie senken Zwangsmaßnahmen
Im Rahmen einer offenen Türpolitik können Patienten nicht automatisch ungefragt auf
eine „sichere“ geschlossene Station aufgenommen werden, stattdessen ist ein intensives
Assessment durch die Behandler erforderlich, die genau beurteilen müssen, ob jemand
eine personelle Intensivbetreuung braucht und/oder wegen des Patienten die Türe geschlossen
werden muss. Bei Eintritt wird mit dem Patienten verhandelt, unter welchen Umständen
dieser bereit ist, auf einer Station zu bleiben. Dies bedeutet wiederum einen stärkeren
Einbezug von Patienten, eine höhere Flexibilität bezüglich der individuellen Bedürfnisse
des Patienten und eine bessere Information und Aufklärung über die Diagnose und Möglichkeiten
der Behandlung. Auf der Station selbst werden alle Patienten in die Entscheidung involviert,
ob die Türe geschlossen werden muss und es wird engmaschig evaluiert, ob der Zustand
der Patienten sich verändert hat, und geöffnet werden kann oder geschlossen werden
muss. In Basel und Berlin wurde parallel zum Öffnungsprozess ein Behandlungsbeirat
gegründet und eine Patientenverfügung bzw. Behandlungsvereinbarung in Kooperation
mit anderen Kliniken entwickelt. Zwangsmaßnahmen können reduziert werden durch bestehende
Zielvereinbarungen, Patientenorientierung, Bezugspflege, „Shared Decision Making“, Behandlungsvereinbarungen, Flexibilität in der Therapie und Angebote zur Wahrnehmung
unabhängiger Beschwerdeinstanzen sowie Transparenz und Information [6]
[13]
[14]
[17]
[18].
Therapeutische Angebote senken Zwangsmaßnahmen
Therapeutische Angebote senken Zwangsmaßnahmen
Durch das Öffnungskonzept in Basel entwickelten alle „Akutaufnahmestationen“ sukzessive
diagnosespezifische Konzepte. Damit erhalten die Patienten mehr Angebot, Information
und Wahlmöglichkeiten in ihrem Behandlungspfad und gelangen direkt an den Experten
und einem ihrer Diagnose zugeschnittenem Konzept. Die Psychotherapieangebote wurden
auf den neu geöffneten Stationen je nach neuem diagnostischem Schwerpunkt ausgebaut
und sind für jeden eintretenden Akutpatienten zugänglich. Die Stationsatmosphäre hat
sich auf den neu geöffneten Stationen verbessert, da die Aufnahmeteams, die ursprünglich
auf alle möglichen Situationen reagieren mussten, Zeit gewinnen konnten, ein diagnosespezifisches
Konzept und aktiv individualisierte Lösungen im Umgang mit Krisensituationen zu erarbeiten
[9]. Durch Ausbau der therapeutischen Angebote wurden Zwangsmaßnahmen verringert und
die Selbstwirksamkeit der Patienten kann erhöht werden [8]
[9].
Eine gute Stationsatmosphäre senkt Zwangsmaßnahmen
Eine gute Stationsatmosphäre senkt Zwangsmaßnahmen
Das Sicherheitserleben bei den Pflegeteams der neu geöffneten Stationen stieg an,
da es weniger Übergriffe gab und entsprechend signifikant weniger Zwangsmaßnahmen
[8]
[9]. Auch wurde durch die Erhöhung der Liegedauer auf den ehemaligen Aufnahmestationen
möglich, dass die Teams „Besserung“ und „Remission“ erleben, woraus eine ressourcenorientiertere
Haltung resultiert. Damit steigen im Rahmen eines Öffnungskonzepts sowohl die Patientenzufriedenheit,
die Stationsatmosphäre, die Behandlungsqualität als auch der Betreuungsschlüssel für
Akutpatienten. Entsprechend sanken neben den Zwangsmaßnahmen auch die Zahlen der Patienten,
die gegen ärztlichen Rat die Klinik verließen [8]
[9].
Zwangsmaßnahmen sinken demnach, wenn eine gute Stationsatmosphäre besteht, der Umgang
mit den Patienten respektvoll ist sowie eine wertschätzende und nicht regelorientierte
individualisierte Haltung beim Team besteht, Patienten positiv gewürdigt werden, eine
Wertlegung auf Prävention besteht, Reflexionsfähigkeit des Teams vorliegt und den
Patienten so viel Kontrolle wie möglich erhalten bleibt [6]
[8]
[13]
[14]
[17]
[18].
Erhalt der Privatsphäre und Bewegungsspielraum senken Zwangsmaßnahmen
Erhalt der Privatsphäre und Bewegungsspielraum senken Zwangsmaßnahmen
Mit der Öffnung von Stationen gehen Reduktionen von Sicherheitsmaßnahmen einher, die
sich relativieren, was wiederum zu einem weniger restriktiven Behandlungsklima beiträgt.
So erübrigen sich Maßnahmen, die in die Privatsphäre von Patienten eingreifen wie
zum Beispiel Durchsuchungen, Ausgangssperren, Entzug von Handy, Zigaretten, Nahrungsmitteln
(Küche verschlossen, kein Gang zum Kiosk möglich), dem Ausschluss von extern stattfindenden
Therapieprogrammen wie Sport, Ergotherapie etc. und es können alle Räumlichkeiten
der Stationen wie Fitnessräume, Fernsehräume, Küche etc. durchgehend geöffnet werden.
Dies wiederum erhöht den Platz pro Patient, zusätzlich zu dem Faktor, dass mehr Patienten
sich im Ausgang befinden.
Zwangsmaßnahmen sinken zudem, wenn die Intimsphäre gewahrt wird, Normalität auf einer
Station vorherrscht sowie ein liberales Klima herrscht [6]
[8]
[13]
[14]
[17]
[18]. Die bestehende Privatsphäre, empfundene Autonomie und der Platz pro Patient auf
einer Station steuern die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen genauso wie die Anzahl der
abschließbaren Räume [15]. In einem aktuellen systematischen Review von 71 Studien zeigt sich, dass der stärkste
Prädiktor von aggressivem Patientenverhalten mit 39 % der Fälle die Interaktion von
Team und Patient und zwar eine Restriktion bzw. Verweigerung eines Patientenwunsches
war [17].
Teamreflexion und Nahbarkeit senkt Zwangsmaßnahmen
Teamreflexion und Nahbarkeit senkt Zwangsmaßnahmen
Ein Öffnungsprozess einer Station bedingt ein starkes Umdenken des Teams, das flexibler
und nahbarer werden muss. In Basel war auf den geschlossenen Stationen mit den höchsten
Zwangsmaßnahmen über Jahre keine Teamsupervision erfolgt. Diese musste mit der Öffnung
eingeführt werden und stieß initial auf Widerstand. Auffällig war, dass mit der Öffnung
der Stationstüren der Akutstationen auch die Diensträume geöffnet wurden, was zu einer
besseren Ansprechbarkeit der Teams durch die Patienten führte. Im Auftreten von Zwangsmaßnahmen
spielen Nahbarkeit und Selbstreflexion des Teams und die Auffassung über den Ursprung
der Aggression eines Patienten eine wichtige Rolle [6]
[8]
[13]
[14]
[17]
[18]. Aggression kann als internales am ehesten biologisch bedingtes Korrelat einer Erkrankung
gesehen werden, dem dann durch eine (Zwangs-)Medikation kausal begegnet wird. Diese
Interpretation des Verhaltens entlastet zwar Patienten vor Verantwortung, kann aber
weniger Empathie seitens des Therapeuten bewirken [19]. Wird Aggression dagegen als externale Reaktion gesehen, liefern Interaktionen mit
dem Team, Restriktionen, Frustrationen eine wesentliche Erklärung für das Verhalten.
Diese kontextabhängige Interpretation von Aggression erfordert mehr Empathie und wird
Reflexions- und Veränderungsbedarf in der Art der Behandlung und der Team-Patient-Beziehung
erzeugen. Patientencharakteristika spielen eine kleine Rolle bei dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen
[17], die zum größten Anteil von interpersonellen Faktoren und von der Haltung des Behandlungsteams
abhängen. Wird die Haltung und Situationen, in denen Zwang erforderlich war, reflektiert,
finden entsprechend weniger Zwangsmaßnahmen statt, genauso wie „Nahbarkeit“ Zwangsmaßnahmen
reduziert [6]
[8]
[13]
[14]
[17]
[18].